TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/5 W185 2199506-2

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Veröffentlicht am 05.10.2020
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Entscheidungsdatum

05.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs1a
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W185 2199506-2/5E
W185 2199520-2/4E
W185 2199515-2/4E
W185 2199524-2/4E

IN NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard PRÜNSTER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX und 4. XXXX , geb. XXXX , die minderjährigen Beschwerdeführer vertreten durch die Kindesmutter XXXX , sämtliche StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Martin Lebitsch, Rudolfskai 48, 5020 Salzburg, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 15.07.2020, Zlen: 1096102008/200444190 (1.), 1096101305/200444181 (2.), 1096102509/200444211 (3.) und 1096103506/200444203 (4.), zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden gegen die Bescheide des Bundesamtes gem. § 68 Abs 1 AVG wird stattgegeben und die Bescheide werden behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Die Erstbeschwerdeführerin reiste mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, und den beiden gemeinsamen Kindern, dem mj. Drittbeschwerdeführer und der mj. Viertbeschwerdeführerin, alle afghanische Staatsangehörige, in das Bundesgebiet ein, wo sie am 19.11.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten.

Mit Bescheiden vom 17.05.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Gegen diese Bescheide des Bundesamtes brachten die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde ein.

Am 21.11.2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt.

Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.03.2020, GZ W136 2199506-1/10E, W136 2199520-1/11E, W136 2199515-1/9E und W136 2199524-1/9E, wurden die Beschwerden als unbegründet abgewiesen.

Die dagegen erhobene außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28.04.2020, Ra 2020/14/0158 bis 0161-4, zurück, sodass die oben angeführten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts in Rechtskraft erwuchsen.

Am 31.05.2020 stellten die Beschwerdeführer Folgeanträge.

Mit gegenständlich angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes vom 15.07.2020 wurden die Folgeanträge der Beschwerdeführer hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. (Spruchpunkt III.) Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA- VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für deren freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.), sowie gem. §53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein befristetes Einreiseverbot für die Dauer von 2 Jahren erlassen (Spruchpunkt VII).

Gegen diese Bescheide des Bundesamtes wurden fristgerecht Beschwerden, verfasst vom rechtsfreundlichen Vertreter der Beschwerdeführer, erhoben. Die Bescheide würden vollumfänglich angefochten. Geltend gemacht würden inhaltliche Rechtswidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie unrichtige rechtliche Beurteilung. Die Zurückweisungen, insbesondere in den Spruchpunkten I und II, seien zu Unrecht erfolgt, da keine „entschiedene Sache“ vorliegen würde. Die belangte Behörde habe die Auseinandersetzung mit den Ermittlungsergebnissen in ihrer Gesamtheit, um den glaubhaften Kern beurteilen zu können, unterlassen. Das neue Vorbringen samt den dargelegten Bescheinigungs- und Beweismitteln sei geeignet, zu einer für die Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung iSe Zuerkennung zumindest des Status des subsidiär Schutzberechtigten zu gelangen. Nach der (ersten) negativen Entscheidung habe die Erstbeschwerdeführerin ihre Schwester in Afghanistan hievon telefonisch in Kenntnis gesetzt. Diese Schwester habe ihr daraufhin am 30.05.2020 eine Sprachnachricht geschickt, in welcher sie die Beschwerdeführer vor einer Rückkehr nach Afghanistan gewarnt habe. Ihr Vater hätte ihr die Flucht und die Eheschließung mit ihrem nunmehrigen Mann noch immer nicht verziehen und ein Kopfgeld auf die Tötung der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers ausgesetzt. Außerdem glaube der Vater, dass der Zweitbeschwerdeführer für den zwischenzeitigen Tod zweier seiner Söhne verantwortlich sei. Auch der Mann der Schwester sei bei dieser „Familiensitzung“ anwesend gewesen und hätte dies alles auch gehört. Der Genannte habe der Erstbeschwerdeführerin ebenfalls am 30.05.2020 eine Sprachnachricht geschickt, in welcher er diese ersucht habe, nicht nach Afghanistan zurückzukehren, da geplant sei, die Beschwerdeführer diesfalls ins Gefängnis zu bringen. Alle hier wüssten vom negativen Bescheid und würden auf die Beschwerdeführer „warten“. Diese beiden Nachrichten seien der Grund für die neuerliche Asylantragstellung der Beschwerdeführer. Die Situation sei dadurch „eskaliert“, die Erstbeschwerdeführerin habe große Angst. Die Änderung ihrer Situation bzw. ihrer Fluchtgründe sei den Beschwerdeführern am Tag vor Stellung des Folgeantrags (31.05.2020) bekannt geworden. Außerdem seien die Beschwerdeführer als Hazara gefährdet. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin habe sie und den Zweitbeschwerdeführer bei Gericht angezeigt, da sie ohne Erlaubnis der Eltern (auf nicht islamische Art) geheiratet und geflohen seien. Ein Notar habe gegen Bestechung eine Heiratsurkunde ausgestellt. Die Erstbeschwerdeführerin sei auch bezichtigt worden, Geld und Schmuck gestohlen zu haben und habe eine „offene Akte“ in Afghanistan; sie befürchte nach ihrer Rückkehr inhaftiert zu werden. Auch wenn das Vorbringen des Folgeantrags in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Behauptungen stehe, die im vorangegangenen Verfahren nicht als glaubwürdig beurteilt worden seien, schließe dies nicht aus, dass es sich um ein asylrelevantes neues Vorbringen handle, das auf seinen glaubhaften Kern zu beurteilen sei. Im Folgeverfahren sei vorgebracht, bescheinigt und bewiesen worden, dass neu und aktuell Veranlassungen eines Familienoberhauptes getroffen worden seien, die auf die Auffindung und Beseitigung der Beschwerdeführer nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan abzielen würden. Die Tatsachen und vorgelegten Bescheinigungs- und Beweismittel im Folgeverfahren seien als neue Tatsachen und/oder Beweismittel iSd § 69 Abs. 1 Z 2 AVG zu werten, die im ersten Verfahren bis zur rk Entscheidung ohne Verschulden der Beschwerdeführer nicht hätten geltend gemacht werden können. Diese Beweismittel seien damals nicht vorgelegen. Es liege eine wesentliche Änderung der Tatsachenlage vor, nämlich die neu aufgetretene, aktuelle, konkrete Bedrohung in Form der Aussetzung eines Kopfgeldes auf die Beseitigung der Beschwerdeführer. Die Verfolgung gehe auch vom Onkel väterlicherseits, dem XXXX Afghanistans, aus, dessen Sohn der Verlobte der Erstbeschwerdeführerin gewesen sei. Die Beschwerdeführer wären bei richtiger Beurteilung jedenfalls als subsidiär Schutzberechtigte zu qualifizieren. Die belangte Behörde hätte feststellen müssen, dass die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachen Sachverhaltsänderungen einen glaubhaften Kern aufweisen würden, dem auch Asylrelevanz zukomme.

Auch der Zweitbeschwerdeführer habe neue Tatsachen vorgebracht und Beweise vorgelegt, die ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG noch nicht bekannt gewesen seien. Sein Bruder habe ihm berichtet, dass seit Bekanntwerden der allfälligen Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan verdächtige Fahrzeuge vor seinem Haus patrouillieren würden. Auch aus der vorgelegten aktuellen Sprachdatei des Bruders (vom 26.06.2020) gehe hervor, dass die Beschwerdeführer aktuell gesucht würden. Vorgelegt worden seien auch ein Haftbefehl bzw. eine Bürgschaft, ein behördliches Schreiben, gerichtet an den Bruder des Zweitbeschwerdeführers, mit protokollierten Fragen, gefertigt und gestempelt durch einen Beamten des Kriminalamtes, worin der angeführte Bruder der Behörde mitgeteilt habe, dass er den Aufenthaltsort der Beschwerdeführer in Österreich bekanntgegeben habe. Die behaupteten neuen Tatsachen, nämlich, dass aktuell von Familienangehörigen der Erstbeschwerdeführerin ein Kopfgeld auf die Tötung der Beschwerdeführer ausgesetzt worden sei, nachdem bekannt geworden sei, dass die Verfahren der Beschwerdeführer negativ beendet worden seien, seien geeignet, zu einem anderen Verfahrensergebnis zu führen. Auch wenn die aktuelle Bedrohung Folge des im ersten Verfahrens vorgebrachten Problems sei, liege nun ein neuer Sachverhalt in Form der akuten Bedrohung des Lebens vor. Es handle sich um ein neues Vorbringen, das von der Behörde auf seinen glaubhaften Kern zu beurteilen gewesen wäre. Der Folgeantrag sei ohne ausreichende Beweiswürdigung und zu Unrecht zurückgewiesen worden. Die Inhalte der neuen Dokumente und Mitteilungen seien wahr und handle es sich dabei nicht um „Gefälligkeiten“, wie die Behörde annehme. Die von Privatpersonen ausgehende Bedrohungslage habe aktuell eine neue Qualitätsstufe erreicht. Es bestehe die reale Gefahr einer Verletzung von Art 3 EMRK. Der Staat Afghanistan sei nicht schutzfähig. Die belangte Behörde hätte bei der Beurteilung der Situation bei Rückkehr, bezüglich der Herkunftsregion, allfälliger IFA, der besonderen Vulnerabilität der Erstbeschwerdeführerin aufgrund der Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen, zur Gruppe der Mütter mj. Kinder und der Gruppe der schiitischen Minderheit der Hazara, fallbezogen berücksichtigen müssen. Die Erstbeschwerdeführerin sei bereits fortgeschritten westlich orientiert und wolle freibestimmt leben. Eine nachvollziehbare Begründung, warum es den Beschwerdeführern möglich sein sollte, in Kabul, Herat oder Mazar e Sharif ohne deren familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk vor Ort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, sei dem Bescheid nicht zu entnehmen. Die Beschwerdeführer könnten nicht auf die Unterstützung ihrer Familien zählen. Aufgrund der Minderjährigkeit der Kinder der Erstbeschwerdeführerin potenziere sich die vielfältige Gefahrenlage in Afghanistan. Die Länderfeststellungen des Bescheids seien hier unzureichend. Für Afghanistan bestehe Reisewarnstufe 6; auch die aktuelle COVID-Situation erlaube es nicht, Personen dorthin abzuschieben. Der Zweitbeschwerdeführer würde in Afghanistan nicht für die Familie sorgen können.

Aus den oa. Gründen seien auch die Rückkehrentscheidung wegen der damit verbundenen Verletzung des Art 8 EMRK, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan, die Nichtgewährung einer Frist zur freiwilligen Ausreise und das Einreiseverbot sowie dessen Dauer rechtswidrig.

Am 06.08.2020 wurde seitens des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer in Ergänzung der Beschwerde ein Bericht über einen stationären Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin in einem Klinikum, Abteilung für Innere Medizin, im Zeitraum vom 29.07.2020 bis 03.08.2020 inklusive Befunden nachgereicht. Im Schriftsatz wurde zusammengefasst vorgebracht, dass die Erstbeschwerdeführerin am 29.07.2020 aufgrund akuter Belastungssituation eine heftige Panikattacke erlitten habe. Sie habe sediert werden müssen und sei in Notarztbegleitung in psychischem Ausnahmezustand in ein Klinikum gebracht und dort stationär aufgenommen worden. Die Erstbeschwerdeführerin habe an ausgeprägten Thorax-Schmerzen sowie Schmerzen am Bein gelitten. Es seien ihr Pantoloc, Sertralin und Seroquel verordnet worden. Eine ambulante psychologische Behandlung/Betreuung an der Abteilung für Psychiatrie sei eingeleitet worden. Aus den Befunden sei abzuleiten, dass im Zusammenhang mit der befürchteten Abschiebung eine gravierende Panikattacke aufgetreten sei. Die Genannte verspüre bereits Todesangst. Laut dem psychologischen Konsil sei von einer Notfallsituation mit akuter Belastungsreaktion und latenter Suizidalität auszugehen. Es sei somit vom Vorliegen einer schweren psychiatrischen Erkrankung auszugehen, deren adäquate Behandlung in Afghanistan nicht gewährleistet sei. Es werde die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Fachgutachtens beantragt.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.08.2020, GZ. W185 2199506-2/4Z, W185 2199520-2/3Z, W185 2199515-2/3Z, W185 2199524-2/3Z, wurde den Beschwerden gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I. beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt.

Die Erstbeschwerdeführerin leidet an thorkalen Brustschmerzen (muskuloskelettaler Ursache), rezidivierender Lumbalgie, leichter Dyslipidämie (Fettstoffwechselstörung), Wadenschmerzen rechts und einer Überlastung Daumen/Handgelenk rechts. Am 29.07.2020 erlitt die Erstbeschwerdeführerin eine Panikattacke und wurde in einem Klinikum in der Abteilung für Innere Medizin bis 03.08.2020 stationär behandelt. Ihr wurden Pantoloc, Sertralin und Seroquel verordnet. Eine ambulante psychologische Behandlung an der Abteilung für Psychiatrie wurde eingeleitet. Laut psychologischem Konsilium ist von einer Notfallsituation mit akuter Belastungsreaktion und latenter Suizidalität und damit vom Vorliegen einer schwereren psychischen Erkrankung auszugehen.

Der Zweitbeschwerdeführer leidet seit Jahren an rezidivierenden Depressionen F33.1 und wurde bereits in Afghanistan und im Iran ärztlich behandelt. Seit drei Jahren nimmt er dagegen Sertralin und Quetiapin ein; der Zweitbeschwerdeführer steht in ärztlicher Behandlung und derzeit auch in psychologischer Betreuung (Anm: zuvor in psychiatrischer Behandlung). Am 16.10.2018 und am 21.10.2019 kam es zu ambulanten Besuchen des Zweitbeschwerdeführers an einem Klinikum, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie; es wurden das Vorliegen von PTSD diagnostiziert und eine Psychotherapie in der Muttersprache empfohlen. Im genannten Klinikum, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, wurden im Zuge einer weiteren ambulanten Untersuchung am 26.06.2020 beide o.a. Diagnosen bestätigt und die Einnahme von Seroquel und Euthyrox angeordnet. Am 10.07.2020 wurde im genannten Klinikum eine schwere depressive Episode diagnostiziert.

Der minderjährige Drittbeschwerdeführer und die minderjährige Viertbeschwerdeführerin sind gesund.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt des Bundesamtes sowie in den Gerichtsakt.

Die Feststellungen hinsichtlich des Verfahrensablaufes gründen sich auf den unstrittigen Akteninhalt.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der mj Beschwerdeführer beruhen auf den glaubhaften Angaben der gesetzlichen Vertreterin, wonach diese gesund seien.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers ergeben sich aus den bis dato vorgelegten Befunden und Arztschreiben.

Substantiierte Ausführungen betreffend die Rückkehrsituation der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die festgestellten (psychischen) Erkrankungen der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, va auch im Hinblick auf die Situation aufgrund der herrschenden Covid-19-Pandemie, sind geboten. Es finden sich lediglich Ausführungen zur Frage der (Nicht)Zugehörigkeit der Beschwerdeführer zur Risikogruppe betreffend schwerer Erkrankungen in Zusammenhang mit Covid-19. Ermittlungen und Feststellungen zu den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie, der Möglichkeiten einer Existenzsicherung der Familie – unter der Berücksichtigung der psychischen Probleme beider Elternteile – und somit einer möglichen Verletzung von Art. 3 EMRK, sind den Bescheiden nicht zu entnehmen.

Hinsichtlich der Situation minderjähriger Rückkehrer in den Provinzen Herat und Balkh beschränkte sich das Bundesamt im Wesentlichen auf die Ausführungen, dass die als vulnerabel anzusehenden minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer nach ihrer Rückkehr weiterhin mit ihren Eltern in einer afghanischen Familie aufwachsen würden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zuständigkeit und anzuwendendes Recht:

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013 idgF, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A) Behebung der angefochtenen Bescheide:

Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Beschwerde nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet. Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.09.1994, 94/08/0183; 30.05.1995, 93/08/0207; 09.09.1999, 97/21/0913; 07.06.2000, 99/01/0321).

Mit der Rechtskraft ist die Wirkung verbunden, dass die mit der Entscheidung unanfechtbar und unwiderruflich erledigte Sache nicht neuerlich entschieden werden kann (Wiederholungsverbot). Einer nochmaligen Entscheidung steht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res iudicata) entgegen. Zudem folgt aus dem Gedanken der materiellen Rechtskraft grundsätzlich eine Bindungswirkung an eine behördliche Entscheidung (VwGH vom 24.05.2016, Ra 2016/03/0050, mwN; 13.09.2016, Ro 2015/03/0045; vgl. weiters VwGH vom 08.08.2018, Ra 2017/04/0112; 20.09.2018, Ra 2017/09/0043).

„Entschiedene Sache“ iSd § 68 Abs. 1 AVG liegt vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; 27.09.2000, 98/12/0057; 25.04.2002, 2000/07/0235). Werden nur Nebenumstände modifiziert, die für die rechtliche Beurteilung der Hauptsache unerheblich sind, so ändert dies nichts an der Identität der Sache. Nur eine wesentliche Änderung des Sachverhaltes – nicht bloß von Nebenumständen – kann zu einer neuerlichen Entscheidung führen (vgl. z.B. VwGH 27.09.2000, 98/12/0057; 25.04.2007, 2004/20/0100). Liegt keine relevante Änderung der Rechtslage oder des Begehrens vor und hat sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt nicht geändert, so steht die Rechtskraft des Vorbescheides einer inhaltlichen Erledigung des neuerlichen Antrages entgegen. Stützt sich ein Asylantrag auf einen Sachverhalt, der verwirklicht worden ist, bevor das Verfahren über einen (früheren) Antrag beendet worden ist, so steht diesem (zweiten) Antrag die Rechtskraft des Vorbescheides entgegen (VwGH 10.06.1998, 96/20/0266).

Ein auf das AsylG 2005 gestützter Antrag auf internationalen Schutz ist nicht bloß auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, sondern hilfsweise - für den Fall der Nichtzuerkennung dieses Status - auch auf die Gewährung von subsidiärem Schutz gerichtet. Dies wirkt sich ebenso bei der Prüfung eines Folgeantrages nach dem AsylG 2005 aus: Asylbehörden sind verpflichtet, Sachverhaltsänderungen nicht nur in Bezug auf den Asylstatus, sondern auch auf den subsidiären Schutzstatus zu prüfen (vgl. VfGH vom 29.06.2011, U 1533/10; VwGH vom 19.02.2009, 2008/01/0344 mwN).

Eine neue Sachentscheidung ist nicht nur bei identem Begehren auf Grund desselben Sachverhaltes ausgeschlossen, sondern auch dann, wenn dasselbe Begehren auf Tatsachen und Beweismittel gestützt wird, die schon vor Abschluss des Vorverfahrens bestanden haben (VwGH vom 30.09.1994, 94/08/0183, mwN; 24.08.2004, 2003/01/0431; 17.09.2008, 2008/23/0684; 06.11.2009, 2008/19/0783; vgl. zum VwGVG: VwGH vom 25.10.2018, Ra 2018/07/0353: "Die schon vor Erlassung der Entscheidung bestehende Sachlage ist von der Rechtskraft des Bescheides erfasst").

Zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen iSd § 18 Abs. 1 AsylG 2005 - kann die Behörde jedoch nur durch eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes berechtigt und verpflichtet werden, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtlich Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Dem neuen Tatsachenvorbringen muss eine Sachverhaltsänderung zu entnehmen sein, die - falls sie festgestellt werden kann - zu einem anderen Ergebnis als das erste Verfahren führen kann (VwGH vom 04.11.2004, 2002/20/0391, mwN, zur gleichlautenden Vorgängerbestimmung des § 18 Abs. 1 AsylG 2005, nämlich § 28 Asylgesetz 1997 BGBl. I 76; 17.9.2008, 2008/23/0684; weiters VwGH vom 06.11.2009, 2008/19/0783). Darüber hinaus muss die behauptete Sachverhaltsänderung zumindest einen "glaubhaften Kern" aufweisen, dem Asylrelevanz zukommt und an den diese positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann. Die Behörde hat sich insoweit bereits bei der Prüfung, ob der (neuerliche) Asylantrag zulässig ist, mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Antragstellers und gegebenenfalls mit der Beweiskraft von Urkunden auseinander zu setzen. Ergeben ihre Ermittlungen, dass eine Sachverhaltsänderung, die eine andere Beurteilung nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen ließe, entgegen den Behauptungen der Partei nicht eingetreten ist, so ist der Asylantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückzuweisen (VwGH vom 09.03.2015, Ra 2015/19/0048; 25.02.2016, Ra 2015/19/0267; 12.10.2016, Ra 2015/18/0221; 24.05.2018, Ra 2018/19/0187 und 27.11.2018, Ra 2018/14/0213).

"Sache" des Beschwerdeverfahrens ist nur die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung, das Verwaltungsgericht darf demnach nur darüber entscheiden, ob die Verwaltungsbehörde den Antrag zu Recht zurückgewiesen hat oder nicht. Das Verwaltungsgericht darf aber über den Antrag nicht selbst meritorisch entscheiden (VwGH 30.05.1995, 93/08/0207; 07.10.2010, 2006/20/0035; 18.12.2014, Ra 2014/07/0002). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH vom 24.06.2014, Ra 2014/19/0018, mwN).

Eine Aufhebung der Zurückweisung eines Antrags, weil das Verwaltungsgericht der Meinung ist, dass die Zurückweisung zu Unrecht erfolgt ist, ist zwar keine Aufhebung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG, löst aber gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, das Verfahren über den Antrag durchzuführen (vgl. dazu etwa VwGH 04.07.2019, Zl. Ra 2017/06/0210, Rz 21). Gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG sind die Behörden - wenn das Verwaltungsgericht wie im vorliegenden Fall den angefochtenen Bescheid aufhebt - verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Das bedeutet, dass bei der Erlassung der Ersatzentscheidung die Verwaltungsbehörden und auch das Verwaltungsgericht selbst an die vom Verwaltungsgericht in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung gebunden sind. Eine Ausnahme bildet der Fall einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage. Die schon vor der Erlassung bestehende Sachlage ist von der Rechtskraft der Entscheidung erfasst und bindet Gerichte und Behörden, solange diese Entscheidung dem Rechtsbestand angehört (vgl. dazu etwa VwGH 19.09.2017, Ra 2017/20/0045).

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Beschwerdefall Folgendes:

Die Beschwerdeführer stützten ihren nunmehrigen Antrag im Wesentlichen auf die bereits im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgründe, brachten aber auch weitere Beweismittel in Vorlage und beantragten aufgrund der Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der Erstbeschwerdeführerin unter einem die Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Sachverständigengutachtens.

In den in Beschwerde gezogenen Bescheiden hat sich die belangte Behörde mit dem Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer auseinandergesetzt. Ebenso erfolgte eine (eher kursorische) Auseinandersetzung mit der Situation der Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr, dies allerdings - naturgemäß - ohne die neu eingetretenen psychischen Probleme der Erstbeschwerdeführerin. Bei den Feststellungen hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Zweitbeschwerdeführers wurde die (seit 2018 bestehende!) Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, außer Acht gelassen. Am 10.07.2020 wurde beim Zweitbeschwerdeführer eine schwere depressive Episode diagnostiziert; diese Diagnose fand im Bescheid noch keine Berücksichtigung.

Im Hinblick auf die massiven psychischen Probleme nunmehr beider (!) Elternteile kommt der Frage der Möglichkeit einer adäquaten Betreuung des 7 Jahre alten Drittbeschwerdeführers bzw der 5 Jahre alten Viertbeschwerdeführerin und damit der Beachtung des Kindeswohls, gesteigerte Bedeutung bei. Der bloße Verweis, dass diese nach einer Rückkehr weiterhin in ihrer Familie aufwachsen werden, greift daher zu kurz. Dies vor allem auch in Zusammenhang mit der – durch die vorherrschende COVID-19-Pandemie unter Umständen eingeschränkte medizinische Behandlungsmöglichkeit der Eltern - sowie den dadurch ebenfalls verschärften Problemen in Bezug auf die Erwirtschaftung eines ausreichenden Einkommens durch den Zweitbeschwerdeführer.

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 leg. cit. kann eine Verhandlung entfallen, wenn u.a. bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchpunkt A wiedergegeben. Die unter Spruchpunkt A angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

Behandlungsmöglichkeiten Behebung der Entscheidung Betreuungsbedarf-Angehöriger Bindungswirkung Einreiseverbot aufgehoben entschiedene Sache Kinderbetreuung medizinische Versorgung Pandemie psychiatrisches Sachverständigengutachten psychische Erkrankung PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) Rückkehrentscheidung behoben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W185.2199506.2.01

Im RIS seit

11.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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