Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des A R in T, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. März 2020, Zl. W233 2191116-2/2E, betreffend Wiederaufnahme in eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 19. Dezember 2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Revisionswerbers, eines pakistanischen Staatsangehörigen, vom 29. Juli 2017 in der Sache vollinhaltlich abgewiesen, dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (Asyl 2005) gewährt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
2 Am 20. März 2020 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und führte begründend - auf das für das Revisionsverfahren Wesentliche zusammengefasst - aus, er habe am 10. März 2020 das vorgelegte fachärztliche Gutachten vom 9. März 2020 erhalten, in dem bei ihm eine näher genannte psychische Erkrankung diagnostiziert worden sei. Zum Zeitpunkt seiner Einvernahmen sei ihm weder die generelle Diagnose seiner Erkrankung noch dass er daran leide bekannt gewesen.
3 Mit dem angefochtenen Beschluss wies das BVwG diesen Antrag als unbegründet ab. Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe vorgebracht, im Jahr 2018 von einem Psychologen über die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer psychischen Erkrankung aufgeklärt worden zu sein, weshalb ihm ein Verschulden daran vorzuwerfen sei, dass er diesen Umstand nicht schon im wiederaufzunehmenden Verfahren geltend gemacht habe. Zudem lasse sich weder dem Wiederaufnahmeantrag noch dem vorgelegten Gutachten entnehmen, dass die Erkrankung bereits vor der Erlassung des Erkenntnisses des BVwG, somit vor dem 19. Dezember 2019, bestanden habe. Es handle sich daher um eine nach dieser Entscheidung eingetretene Sachverhaltsänderung, die keinen Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens darstelle.
4 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit - unter Zitierung näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - zusammengefasst geltend macht, bei dem vorgelegten Gutachten handle es sich um ein neu entstandenes Beweismittel, das sich auf vor dem Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene Tatsachen beziehe. Die Formulierung im Wiederaufnahmeantrag sei „sprachlich nahelegend und grammatikalisch auch richtig“ so zu verstehen, dass der Revisionswerber den Psychologen nach dem Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens getroffen habe, weshalb ihn kein Verschulden treffe, zumal er als medizinischer Laie nicht ahnen habe müssen, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Zudem hätte das BVwG bei Unklarheiten über die Auslegung des Wiederaufnahmeantrages nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand nehmen dürfen.
5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Beschluss erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.
7 Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und denen allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.
8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG rechtfertigen neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel (also solche, die bereits zur Zeit des früheren Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden) - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sie die Richtigkeit des angenommenen Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen; gleiches gilt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für neu entstandene Beweismittel, sofern sie sich auf „alte“ - d.h. nicht erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene - Tatsachen beziehen. Hingegen ist bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung eingetreten sind, kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern ein neuer Antrag zu stellen, weil in diesem Fall einem auf der Basis des geänderten Sachverhaltes gestellten Antrag die Rechtskraft bereits erlassener Bescheide nicht entgegensteht (vgl. zu alldem VwGH 14.3.2019, Ra 2018/18/0403; 21.5.2019, Ra 2018/19/0510; jeweils mwN).
9 Soweit das BVwG ausführte, dass sich dem Wiederaufnahmeantrag nicht entnehmen lasse, die Erkrankung habe bereits vor der Erlassung des das wiederaufzunehmende Verfahren abschließenden Erkenntnisses bestanden, ist dem entgegen zu halten, dass der Revisionswerber in diesem Antrag behauptete, die psychische Störung sei „anlässlich jenes Sachverhalts, dessen Vorbringen vom Bundesverwaltungsgericht als unglaubwürdig festgestellt“ worden sei, entstanden. Dieser Vorfall kann sich denklogisch nur vor der Erlassung des Erkenntnisses des BVwG im wiederaufzunehmenden Verfahren ereignet haben. Ob die Behauptung des Revisionswerbers zutrifft, wird das BVwG im fortgesetzten Verfahren zu prüfen haben.
10 Im Übrigen verweist die Revision in diesem Zusammenhang auch zu Recht darauf, dass auch in dem mit dem Wiederaufnahmeantrag vorgelegten Gutachten unter anderem ausgeführt wurde, dass der Revisionswerber „als Folge zahlreicher massiver traumatisierender Ereignisse in seinem Heimatland Pakistan“ leide. Vor diesem Hintergrund ist die Begründung des BVwG aktenwidrig, wonach sich weder dem Wiederaufnahmeantrag noch dem Gutachten entnehmen lasse, dass die Erkrankung bereits vor der Erlassung des Erkenntnisses des BVwG vom 19. Dezember 2019 bestanden habe. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass auch durch ein medizinisches Gutachten nicht geklärt werden kann, im Zuge welcher Ereignisse der Revisionswerber die im Gutachten festgestellte psychische Störung erlitt. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Angaben des Revisionswerbers fällt nicht in das Aufgabengebiet eines Sachverständigen, sondern ist vielmehr dem Kernbereich der richterlichen Beweiswürdigung zuzurechnen (vgl. dazu bereits VwGH 15.10.2019, Ra 2019/01/0344, zu Narben aufgrund von Verletzungen).
11 Voraussetzung für die Stattgabe des Wiederaufnahmeantrags ist aber weiters, dass diese Tatsachen ohne Verschulden der Partei nicht schon im wiederaufzunehmenden Verfahren geltend gemacht werden konnten (vgl. etwa VwGH 3.7.2015, Ro 2015/08/0013, mwN).
12 Im vorliegenden Fall führte das BVwG aus, den Revisionswerber treffe ein Verschulden daran, seine psychische Erkrankung nicht bereits im wiederaufzunehmenden Verfahren vorgebracht zu haben. Dies begründete das BVwG insbesondere damit, der Revisionswerber sei laut dem Vorbringen in seinem Wiederaufnahmeantrag bereits im Jahr 2018 über den Umstand informiert worden, dass eine psychische Erkrankung wahrscheinlich sei.
13 Auch diese Ausführungen des BVwG sind aktenwidrig, weil der Revisionswerber in seinem Wiederaufnahmeantrag lediglich ausführte, dass er „im Rahmen des abschließenden Erkenntnisses“ des BVwG Kontakt zu einem 2018 bei einer näher genannten Einrichtung tätigen Psychologen aufgenommen habe. Aus diesem Vorbringen ergibt sich somit lediglich, dass der Psychologe im Jahr 2018 bei der genannten Einrichtung tätig gewesen sei, jedoch nicht, dass das Gespräch, im Zuge dessen der Revisionswerber über die wahrscheinlich bestehende psychische Erkrankung informiert wurde, ebenfalls im Jahr 2018 stattgefunden hätte. Vielmehr verweist die Revision zu Recht darauf, dass die Ausführungen im Wiederaufnahmeantrag in ihrem sprachlichen Gesamtzusammenhang so zu deuten sind, dass das Gespräch mit dem Psychologen „im Rahmen des abschließenden Erkenntnisses“ und nicht bereits im Jahr 2018 stattgefunden habe. Wie die vom Revisionswerber in seinem Vorbringen gemachte unbestimmte Zeitangabe „im Rahmen des abschließenden Erkenntnisses“ zu verstehen ist, wird das BVwG im fortgesetzten Verfahren zu beurteilen haben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG nur solche neu hervorgekommenen Tatsachen beachtlich sind, die ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten. Dies liegt etwa dann nicht vor, wenn fallbezogen davon auszugehen ist, dass die Geltendmachung der neu hervorgekommenen Tatsachen im Verfahren möglich und zumutbar gewesen wäre. Eine solche nach den Umständen des Einzelfalles vorgenommene und vertretbare Beurteilung ist nicht revisibel (vgl. zu allem VwGH 4.10.2018, Ra 2018/18/0463, Rn. 5).
14 Das Erkenntnis des BVwG leidet somit an Verfahrensmängeln, deren Relevanz die Revision auch hinreichend konkret aufzeigt.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. November 2020
Schlagworte
Beweismittel Sachverständigenbeweis Gutachten rechtliche BeurteilungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010195.L01Im RIS seit
15.12.2020Zuletzt aktualisiert am
15.12.2020