TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/30 W279 2176070-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.07.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

30.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W279 2176070-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX 1999 alias XXXX alias XXXX 2001, StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.09.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.05.2020, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass gem. § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

III. Dem Beschwerdeführer wird gem. §§ 54 und 55 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX .2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (in der Folge AsylG).

2. Am selben Tag wurde der BF durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen, wobei er zunächst zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt angab, am XXXX 1999 in Ghazni geboren und ledig zu sein. Er bekenne sich zur Glaubensrichtung des schiitischen Islam und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er spreche Farsi und Dari. Schule habe er keine besucht, jedoch habe er in einer Moschee ein wenig den Koran lesen und Dari lesen und schreiben gelernt. Er habe im Dorf XXXX in der Stadt XXXX gelebt. Den derzeitigen Aufenthaltsort seiner Eltern und seiner Geschwister kenne er nicht.

Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, dass vor etwa sieben Monaten ein Kommandant aus seiner Ortschaft, dessen Namen er nicht kenne, zu ihnen nach Hause gekommen sei und seinem Vater gesagt habe, dass dieser den BF mit dem Kommandanten mitschicken solle. Er würde dem BF Singen beibringen und dieser würde dafür monatlich 6000 Afghani erhalten. Der Kommandant sei homosexuell gewesen. Sein Vater habe sich einverstanden gezeigt, woraufhin der Kommandant ihn zwei Mal mitgenommen habe. Statt zu Singen habe er jedoch in Frauenkleidung tanzen müssen. Da er das nicht gewollt habe, habe er seinen Eltern davon erzählt. Diese hätten den BF einem Verwandten übergeben, der ihn weggebracht habe. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor dem Kommandanten.

3. Am 20.06.2016 langte eine Meldung der Polizeiinspektion Neue Heimat beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Demnach werde der BF beschuldigt, seinen Zimmernachbarn am 06.05.2016 im Zuge eines Streites mit der Stirn auf die Nase geschlagen und diesen verletzt zu haben.

4. Am XXXX 2017 übermittelte das Stadtpolizeikommando XXXX eine Meldung über eine Massenschlägerei von irakischen und afghanischen Asylwerbern, an der der BF teilgenommen habe. Die Asylwerber hätten mit Fäusten auf einander eingeschlagen und sich mit Füßen getreten. Über den BF wurde mit Strafverfügung vom 11.08.2017 gem. § 81 SPG ein Betrag von € 150,- verhängt.

5. Am 24.04.2017 wurde das Bundesamt vom Stadtpolizeikommando XXXX mittels Meldung über eine mögliche Straftat des BF informiert. Demnach habe der BF am 01.04.2017 unmittelbar hintereinander in zwei Geschäften zwei Kleidungsstücke in einem Gesamtwert von € 52,90 gestohlen.

6. Mit Meldung vom 27.07.2017 wurde das Bundesamt vom Stadtpolizeikommando XXXX über die Beschuldigung des BF, ein Fahrrad gestohlen zu haben, informiert.

7. Am 28.08.2017 erging erneut eine Meldung des Stadtpolizeikommandos XXXX an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Der BF sei verdächtig, im Zuge einer gegenseitigen Körperverletzung einen anderen Asylwerber mit seinem Handy auf den Kopf geschlagen zu haben.

8. Mit Schreiben vom 10.05.2017 übermittelte das Magistrat der Landeshauptstadt XXXX für Soziales, Jugend und Familie Fotos der Tazkira des BF, welche ihm von seiner Familie übermittelt worden sei. Laut des Betreuers des BF sei in der Tazkira das Geburtsdatum XXXX angeführt, was dem XXXX entspreche. Daher werde um Korrektur ersucht.

9. Mit Meldung vom 15.09.2017 wurde das Bundesamt über die Anhaltung des BF informiert, da dieser bei einem Diebstahl aufgegriffen worden sei.

10. Am 02.01.2017 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mitgeteilt, dass gegen den BF Strafantrag gem. § 83 (1) StGB beim Landesgericht XXXX eingebracht worden sei.

11. Am 14.09.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Dabei gab er an, dass er am XXXX in Ghazni, XXXX geboren sei. Er habe von seinen Eltern eine Tazkira erhalten, wo ebenfalls dieses Geburtsdatum angeführt werde. Schule habe er keine besucht, alles was er Lesen und Schreiben könne, sei auf den Koran eingeschränkt gewesen oder habe er in Österreich von seinem Betreuer gelernt. Gearbeitet habe er lediglich ein oder zwei Mal pro Woche für nicht einmal ein Jahr auf dem Feld seines Vaters. Seine Eltern, sein Bruder sowie sein Onkel väterlicherseits würden nunmehr im Iran leben, zu seiner Mutter habe er auch Kontakt. In Afghanistan würden nur noch seine Tanten leben.

Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes sei er im XXXX in Behandlung gewesen, da er an Depressionen leide und sich selbst Verletzungen zugefügt habe. Seitdem nehme er auch Medikamente und habe Psychotherapiegespräche. In Afghanistan habe man seine Krankheit mit Gebeten aus dem Koran behandelt.

Hinsichtlich seines Fluchtgrundes gab der BF an, dass seine Familie in Afghanistan ein mittelmäßiges Leben geführt habe. Sein Vater habe den Kommandanten einmal gefragt, ob er noch andere Arbeitstätigkeiten für ihn habe, um mehr zu verdienen. Dieser habe vorgeschlagen, dass er den BF in eine Musikgruppe gebe, wo er singen lernen könne. Dafür würde die Familie 6000 Afghani erhalten. Sein Vater habe zugesagt, woraufhin der BF den Kommandanten begleitet habe. In dem Haus des Kommandanten sei jedoch keine Musikgruppe gewesen. Er habe Mädchenkleider anziehen müssen, sei sexuell missbraucht worden und habe auf Festen tanzen müssen. Nach zwei oder drei Malen habe der BF seinem Vater von den Vorfällen berichtet, woraufhin dieser gesagt hätte, dass der BF nicht mehr mit dem Kommandanten mitgehen müsse. Dieser sei jedoch erneut gekommen und habe den BF mitnehmen wollen. Als er sich geweigert habe, habe der Kommandant ihn gewaltvoll mitgenommen. Bei seiner Rückkehr habe er viel geweint. Danach habe sein Vater den BF einem Verwandten übergeben, der ihn weggebracht habe. Kontakt mit seinen Eltern habe er erst seit etwa einem Jahr und vier Monaten wieder. Näher befragt erklärte der BF, dass der Kommandant nur auf den Festen anwesend gewesen sei, sonst habe er immer andere geschickt. Der BF habe einen Rock, eine Armkette und ein Fußkettchen anlegen müssen. Einmal habe er sich auch die Augenbrauen zupfen müssen und man hätte ihm die Wimpern geschminkt. Der Kommandant habe ihm auf die Brust gegriffen, ihn am Gesäß berührt und als der Kommandant am Abend habe schlafen wollen, habe der BF ihn massieren müssen. Der Kommandant sei nie in ihn eingedrungen, habe seine Hand aber immer in der Unterhose des BF gehabt. Das Ganze sei über einen Zeitraum von etwa 1,5 bis 2 Monaten passiert. Er habe in dem Haus des Kommandanten gelebt und habe dieses nicht verlassen dürfen. Er sei auch immer wieder geschlagen worden. Auch seine Eltern seien belästigt worden, weshalb sie in den Iran gezogen seien.

Bei einem Telefonat des Dolmetschers mit der Mutter des BF im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme gab diese an, dass ihr Sohn selbst nach Österreich habe gehen wollen. Er habe die Schule besuchen und etwas lernen wollen. Von der Tazkira sei von Seiten der Eltern nichts erwähnt worden.

Zu seinen Ausreisemodalitäten befragt gab er an, dass er nach einer Übernachtung bei Verwandten nach Nimrouz gegangen sei. Von dort sei er nachts mit einer Gruppe Richtung iranische Grenze gereist. Im Iran habe er zwei bis drei Wochen, in der Türkei ein Monat , in Bulgarien etwa ein bis zwei Wochen, in Serbien zwei bis zweieinhalb Wochen und in Ungarn etwa vier oder viereinhalb Wochen verbracht, bevor er nach Österreich gereist sei. Vorgehalten, dass der BF angegeben habe, seine Reise hätte 7 Monate gedauert, erklärte er, dass er die fehlenden drei Monate Probleme in Afghanistan gehabt habe.

In Österreich habe er bei der Volkshilfe gearbeitet und Zimmer ausgemalt sowie Reparaturen durchgeführt. Er habe außerdem eine Freundin, XXXX , es sei jedoch keine sexuelle Beziehung. Außerdem sei er Mitglied beim ASKÖ XXXX , Sektion Ringen.

Mitvorgelegt wurden eine Teilnahmebestätigung eines Erste Hilfe Kurses des Roten Kreuzes, eine Bestätigung der Mitgliedschaft des ASKÖ XXXX , Sektion Ringen, ein ÖSD Zertifikat Niveau B1 – nicht bestanden, eine Einladung zum Lehrgangsstart „Pflichtschulabschluss Lehrgang“, eine Teilnahmebestätigung des bfi XXXX für Deutsch B1, eine Teilnahmebestätigung des bfi für Deutsch A2 Teil 1 und 2, eine Teilnahmebestätigung des bfi für Deutsch A1 Teil 1 und 2, Rechnungen des bfi, eine Teilnahmebestätigung des Summer Theater Institute XXXX der XXXX , eine Bestätigung über die freiwillige Mitarbeit bei der Flüchtlingsbetreuung sowie eine Tazkira und die zugehörige Übersetzung.

12. Am 18.09.2017 wurden Fotos, ein Musiktext in Kopie sowie diverse Arztbriefe des BF beim Bundesamt abgegeben.

13. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.09.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen und dem BF der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde der Antrag des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass der vorgebrachte Fluchtgrund nicht glaubhaft oder in sich schlüssig sei. So sei nicht nachvollziehbar, dass der BF einerseits angegeben habe, nicht zu wissen, wo der Kommandant wohne oder wie er heiße, andererseits jedoch schilderte, dass er den Kommandanten in seinem Schlafzimmer am Rücken, an den Füßen, Händen und Beinen massieren und bei diesem schlafen hätten müssen. Darüber hinaus habe sich der BF im Rahmen der Einvernahme durchgehend in Widersprüche verwickelt und dadurch den Anschein erweckt, dass die Vorfälle nicht der Wahrheit entsprechen könnten. Bei detaillierten Fragen sei der BF immerwährend den Fragen ausgewichen, wodurch sich die Behörde den Rückschluss erlaubt habe, dass sich der BF die Angaben ausgedacht habe. Weiters sei im Laufe des Verfahrens ein Telefonat mit den Eltern des BF geführt worden, indem der Vater des BF angegeben habe, dass der BF selbst nach Österreich habe kommen wollen, um die Schule zu besuchen und etwas zu lernen. Es könne daher in einer Gesamtschau der Umstände nicht von einer glaubwürdigen Darstellung in Bezug auf das Fluchtvorbringen ausgegangen werden. Hinsichtlich der Rückkehrsituation des BF sei darauf hinzuweisen, dass der BF nach wie vor Familienangehörige, nämlich Tanten, in seiner Heimat Ghazni habe, er arbeitsfähig und in erwerbsfähigem Alter sei. Auch die medizinische Versorgung sei gegeben. Dem BF sei eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zumutbar.

14. Mit Schreiben vom 25.09.2017 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Abschluss-Bericht der Polizeiinspektion XXXX übermittelt. Demnach habe der BF am 08.09.2017 mit einem weiteren Asylwerber in gemeinsamer Absprache in einem Modegeschäft zwei T-Shirts und eine Herrenarmbanduhr im Gesamtwert von € 37,- gestohlen. Die beiden seien außerhalb des Geschäftes von einem Sicherheitsmitarbeiter angehalten und überführt worden.

15. Am 30.10.2017 langte eine Meldung des Stadtpolizeikommandos XXXX ein, wonach der BF beschuldigt werde, eine Geldbörse samt Inhalt gestohlen zu haben und daher eine Anzeige wegen Diebstahl, Urkundenunterdrückung und Entfremdung unbarer Zahlungsmittel erstattet werde.

16. Mit Schriftsatz vom 31.10.2017 erhob der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Der BF brachte vor, dass die belangte Behörde ihrer Begründungspflicht im angefochtenen Bescheid nicht ausreichend nachgekommen sei. Der BF habe sein Verfolgungsvorbringen glaubhaft dargelegt. Behauptungen des Asylwerbers dürften keinesfalls durch Behauptungen und Vermutungen des Behörde in der Meinung widerlegt werden, der Asylwerber müsse strikte Beweise erbringen. Zur Untermauerung des Vorbringens des BF werde auf einen Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Tanzknaben verwiesen. Auch die ärztlich diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung mit damit verbundenen leicht depressiven Episoden sei keiner näheren Würdigung unterzogen worden. Es sei des Weiteren nicht nachvollziehbar, wie die Behörde zu der Annahme gelange, der BF sei bei einer Rückkehr keiner ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Der BF verfüge in Afghanistan über kein soziales Netz mehr und leide an einer psychischen Erkrankung, zudem sei die Sicherheitslage in ganz Afghanistan äußerst prekär. Mitvorgelegt wurde eine Teilnahmebestätigung eines Erste-Hilfe-Kurses sowie die Zahlungsanweisung des bfi für das ÖSD Zertifikat B1.

16. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX , XXXX , vom 11.12.2017, wurde der BF gem. §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Wochen, bedingt, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt. Mit Urteil vom 19.04.2018 wurde die Probezeit auf insgesamt 5 Jahre verlängert.

17. Am 06.03.2018 langte der Abschluss-Bericht des Stadtpolizeikommandos XXXX beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein. Der BF werde beschuldigt mit einem Zweiten die Geldbörse des Geschädigten weggenommen zu haben. Durch die angewendete Gewalt seien auch die getragenen Kopfhörer des Geschädigten zu Schaden gekommen, durch die Kopfstöße, Schläge und Tritte habe der Geschädigte auch eine Verletzung an der Schläfe und am Kieferknochen erlitten.

18. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX , XXXX , vom 19.04.2018, wurde der BF gem. § 142 (1) StGB, § 127 StGB, § 229 (1) StGB, § 241e (3) StGB, §§ 15, 142 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt.

19. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.05.2020 eine öffentliche, mündliche Verhandlung unter Beziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari durch, an der das Bundesamt entschuldigt nicht teilnahm.

Der BF gab an, in Afghanistan in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX , Dorf XXXX geboren zu sein. Schule habe er keine besucht, er habe lediglich in der Moschee gelernt, wie man den Koran lese. In Afghanistan habe er seinem Vater bei der landwirtschaftlichen Tätigkeit ausgeholfen.

In Österreich habe er nicht gearbeitet, nur Deutsch- sowie Erste-Hilfe-Kurse, Anti-Gewalt-Kurse und Basisbildungskurse besucht. Außerdem habe er das Reparieren von Fahrrädern und Kochen gelernt. Er wolle die Lehre bzw. Hauptschule abschließen. Er habe eine zwei Monate alte Tochter und seit 10.04.2019 eine Freundin.

Zu seinem Fluchtgrund befragt führte er aus, dass sein Vater die wirtschaftliche Lage der Familie habe aufbessern wollen. Daher habe er den Kommandanten gefragt, ob er zusätzliche Arbeit für die Familie habe. Dieser habe angeboten, dass der BF singen lernen solle, dafür würde er der Familie 6000 Afghani im Monat bezahlen. Sein Vater habe zugestimmt, woraufhin der Kommandant den BF mitgenommen habe. Er lernte jedoch nicht singen, sondern wurde in Mädchenkleider gesteckt. Der Kommandant habe ihn so zu Partys mitgenommen, damit er dort tanze. Nach ein paar Malen habe er angefangen ihn zu vergewaltigen. Nach 3 oder 4 Monaten habe der Kommandant ihn für kurze Zeit, drei oder vier Tage, nach Hause zurückgebracht. Anschließend habe er ihn wieder mitgenommen. Die Situation sei ausweglos gewesen. Der Kommandant habe ihn ständig mit dem Tode bedroht oder ihn geschlagen, wenn er sich weigerte. Daher habe er beschlossen zu fliehen.

Die Eltern des BF, zu denen er alle zwei oder drei Wochen Kontakt habe, würden im Iran in Teheran leben.

Die Zeugin, XXXX , gab an, dass sie eine Beziehung mit dem BF führe und sie eine gemeinsame Tochter, XXXX , haben würden. Den zweiten Namen habe die Familie des BF ausgesucht. Sie hätten über die App IMO Kontakt mit diesen. Der BF kümmere sich regelmäßig um sein Kind, habe auch Kontakt zur Mutter der Zeugin und füge sich gut ein, sie seien eine Familie.

20. Am 22.06.2020 brachte der BF die Vaterschaftsanerkennung von XXXX vom 08.06.2020, die Geburtsurkunde von XXXX vom 16.06.2020 sowie den Reisepass von XXXX vom 20.05.2020 ein. Zum Beweis des berücksichtigungswürdigen Privatlebens des BF wurde außerdem ein Basisbildungszertifikat vom 17.06.2020 sowie der Meldezettel des BF vom 04.06.2020 eingebracht. Die Situation in Afghanistan sei aufgrund der Pandemie sehr schlecht, es werde davon ausgegangen, dass sich bis zu 50 % der Bevölkerung anstecken würden. Aufgrund der lebensbedrohlichen Situation bestehe eine reale Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht außerdem Deutsch. Der BF ist ledig.

Der BF wurde in der Provinz Ghazni, Distrikt XXXX , Dorf XXXX geboren und wuchs dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder auf. Seine Eltern und sein Bruder leben derzeit in Teheran, der BF hat regelmäßig Kontakt zu diesen. In Afghanistan leben nach wie vor Tanten des BF.

Der BF besuchte keine Schule, er lernte jedoch in der Moschee das Lesen des Korans. Der BF erlernte keinen Beruf. Er half seinem Vater in seiner Heimat bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten aus.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF hat keine lebensbedrohlichen Erkrankungen, er leidet unter starken und ausgeprägten Ängsten, Alpträumen und Suizidgedanken. Er hat sich geritzt. Diagnostiziert wurde eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiven Reaktionen. Dem BF steht auch im Heimatstaat die Möglichkeit einer psychiatrischen Behandlung offen.

1.2 Zu den Fluchtgründen des BF

Es konnte nicht glaubhaft gemacht werden, dass der BF als Tanzjunge verwendet und von einem Kommandanten misshandelt worden ist.

Selbst unter der Annahme, dass das Vorbringen des BF glaubhaft wäre, steht dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der BF war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch den Kommandanten oder seine Angehörigen.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

1.3 Zum (Privat)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Jänner 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX .2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF spricht gemessen an der Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet und seinem Alter relativ schlecht Deutsch. In Grundsätzen kann er sich ausdrücken.

Er besuchte Deutschkurse für Niveau A1, A2 und B1 sowie Basisbildungskurse und das „Integrationsprojekt XXXX & Integration“. Außerdem nahm er an Erste-Hilfe- und Theaterkursen sowie Anti-Gewalt Trainings teil und war Mitglied beim ASKÖ XXXX Sektion Ringen. Er arbeitete freiwillig in der Flüchtlingsbetreuung des Roten Kreuzes.

Der BF ist der Vater der am XXXX geborenen, deutschen Staatsangehörigen, XXXX . Er hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Tochter und besucht die Mutter und das Kind sehr regelmäßig. Der BF ist mit der Mutter seiner Tochter, XXXX , in einer Beziehung. Der BF versteht sich gut mit der Mutter seiner Freundin und wird in die Familie integriert.

Der BF ist mehrfach strafgerichtlich verurteilt:

- BG XXXX vom 11.12.2017, XXXX , gem. §§ 15, 127 StGB, Freiheitsstrafe von 3 Wochen, bedingt, Probezeit 3 Jahre, verlängert auf 5 Jahre

- LG XXXX vom 19.04.2018, XXXX , gem. § 142 (1) StGB, § 127, § 229 (1) StGB, § 241e (3) StGB, §§ 15, 142 (1) StGB, Freiheitsstrafe von 20 Monaten, aus der Freiheitsstrafe entlassen am 23.03.2019, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Er verbüßte von 08.02.2018 bis 22.03.2019 seine Haftstrafe.

1.4 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Erörtert wurden das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, 18.05.2020, die UNHCR-Richtlinien vom August 2018 sowie die aktuellen EASO Guidelines.

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten