TE Vfgh Erkenntnis 1995/10/10 G154/93, G171/94

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Veröffentlicht am 10.10.1995
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Index

20 Privatrecht allgemein
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
EMRK 7. ZP Art5
EMRK Art8
EMRK Art8 Abs2
KindRÄG
KindRÄG ArtI Z20
ABGB §176
ABGB §177
ABGB §177 Abs1
ABGB §178

Leitsatz

Zulässigkeit der Anträge auf Aufhebung der Regelung der Zuerkennung des Sorgerechts für das eheliche Kind an einen Elternteil allein nach Auflösung der Ehe im Kindschaftsrecht; keine Rechtskraft der Vorentscheidung aufgrund neuer Bedenken und Änderung der Rechtslage; Abweisung der Anträge; kein Abgehen von Vorjudikatur; sachliche Rechtfertigung der angefochtenen Bestimmung durch Bedachtnahme auf das Kindeswohl und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs; einvernehmliches Vorgehen der Eltern nicht verhindert oder erschwert; keine Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit (der Rechte und Pflichten) von Mann und Frau in den familienrechtlichen Beziehungen

Spruch

Die Anträge, das Wort "allein" in Abs1 des §177 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, in der Fassung des Kindschaftsrecht-Änderungsgesetzes - KindRÄG, BGBl. Nr. 162/1989, als verfassungswidrig aufzuheben, werden abgewiesen.

Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien versagte einer (als Voraussetzung für eine Ehescheidung) in der Form eines gerichtlichen Vergleiches geschlossenen Vereinbarung, in deren Punkt I. die Eltern festlegten, daß das Recht und die Pflicht, ein minderjähriges Kind zu pflegen und zu erziehen, sein Vermögen zu verwalten und es zu vertreten, nach der Scheidung beiden Elternteilen zustehen sollen, die pflegschaftsbehördliche Genehmigung.

Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht unterbrach, während es das gegen den Beschluß des Erstgerichtes eingebrachte Rechtsmittel im übrigen meritorisch erledigte, das Rechtsmittelverfahren insoweit, als es die Nichtgenehmigung des Punktes I. der Vereinbarung betraf und stellte unter Berufung auf Art89 Abs2 und 140 Abs1 B-VG den - zu G154/93 protokollierten - Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle jeweils das Wort "allein" in §177 Abs1 und 2 ABGB, in eventu "die gesamte Bestimmung des §177 ABGB" als verfassungswidrig aufheben.

2. Das Bezirksgericht Oberndorf bei Salzburg versagte einer (als Voraussetzung für eine Ehescheidung) in der Form eines gerichtlichen Vergleiches geschlossenen Vereinbarung, in der die Eltern unter anderem festlegten, daß sie die Obsorge für ihren minderjährigen Sohn wie bisher und in gleicher Weise gemeinsam ausüben, die pflegschaftsbehördliche Genehmigung.

Das von den Eltern mit Rekurs gegen diesen Beschluß angerufene Landesgericht Salzburg als Rekursgericht stellte aus Anlaß dieses Verfahrens unter Berufung auf Art89 Abs2 und 140 Abs1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof den - zu G171/94 protokollierten - Antrag, den §177 ABGB, idF des Kindschaftsrecht-Änderungsgesetzes - KindRÄG, BGBl. 162/1989, zur Gänze als verfassungswidrig aufzuheben.

3. §177 ABGB und die im vorliegenden Zusammenhang gleichfalls bedeutsamen §§144, 167, 176, 176a, 176b und 178 ABGB (jeweils idF des KindRÄG, dieses idF der Kundmachung BGBl. 251/1989) haben folgenden Wortlaut:

"Obsorge

§144. Die Eltern haben das minderjährige Kind zu pflegen und zu erziehen, sein Vermögen zu verwalten und es zu vertreten; sie sollen bei Ausübung dieser Rechte und Erfüllung dieser Pflichten einvernehmlich vorgehen. Zur Pflege des Kindes ist bei Fehlen eines Einvernehmens vor allem derjenige Elternteil berechtigt und verpflichtet, der den Haushalt führt, in dem das Kind betreut wird.

Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und unehelichen Kindern

   §165. ...

   §167. Das Gericht hat auf gemeinsamen Antrag der Eltern zu

verfügen, daß ihnen beiden die Obsorge für das Kind zukommt, wenn die Eltern mit dem Kind in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben und diese Verfügung für das Wohl des Kindes nicht nachteilig ist. Hebt ein Elternteil die häusliche Gemeinschaft nicht bloß vorübergehend auf, so ist §177 Abs1 und 2 entsprechend anzuwenden.

Entziehung oder Einschränkung der Obsorge

§176. (1) Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen; eine solche Verfügung kann auf Antrag eines Elternteils auch ergehen, wenn die Eltern in einer wichtigen Angelegenheit des Kindes kein Einvernehmen erzielen. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs- oder Zustimmungsrechte, entziehen. Im Einzelfall hat das Gericht auch eine gesetzlich erforderliche Einwilligung oder Zustimmung eines Elternteils zu ersetzen, wenn keine gerechtfertigten Gründe für die Weigerung vorliegen.

(2) Die Entziehung der Pflege und Erziehung oder der Verwaltung des Vermögens des Kindes schließt die Entziehung der gesetzlichen Vertretung in dem jeweiligen Bereich mit ein; die gesetzliche Vertretung kann für sich allein entzogen werden, wenn der betroffene Elternteil seine übrigen Pflichten erfüllt.

§176a. Ist das Wohl des Kindes gefährdet und deshalb die gänzliche Entfernung aus seiner bisherigen Umgebung gegen den Willen der Erziehungsberechtigten notwendig und ist seine Unterbringung bei Verwandten oder anderen geeigneten nahestehenden Personen nicht möglich, so hat das Gericht die Obsorge für das Kind dem Jugendwohlfahrtsträger ganz oder teilweise zu übertragen. Der Jugendwohlfahrtsträger darf deren Ausübung Dritten übertragen.

§176b. Durch eine Verfügung nach den §§176 und 176a darf das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist.

§177. (1) Ist die Ehe der Eltern eines minderjährigen ehelichen Kindes geschieden, aufgehoben oder für nichtig erklärt worden oder leben die Eltern nicht bloß vorübergehend getrennt, so können sie dem Gericht eine Vereinbarung darüber unterbreiten, wem von ihnen künftig die Obsorge für das Kind allein zukommen soll. Das Gericht hat die Vereinbarung zu genehmigen, wenn sie dem Wohl des Kindes entspricht.

(2) Kommt innerhalb angemessener Frist eine Vereinbarung nicht zustande oder entspricht sie nicht dem Wohl des Kindes, so hat das Gericht, im Fall nicht bloß vorübergehender Trennung der Eltern jedoch nur auf Antrag eines Elternteils, zu entscheiden, welchem Elternteil die Obsorge für das Kind künftig allein zukommt.

(3) Der §167 gilt entsprechend.

Mindestrechte der Eltern

§178. (1) Soweit einem Elternteil die Obsorge nicht zukommt, hat er, außer dem Recht auf persönlichen Verkehr, das Recht, von außergewöhnlichen Umständen, die die Person des Kindes betreffen, und von beabsichtigten Maßnahmen zu den im §154 Abs2 und 3 genannten Angelegenheiten von demjenigen, dem die Obsorge zukommt, rechtzeitig verständigt zu werden und sich zu diesen wie auch zu anderen wichtigen Maßnahmen, in angemessener Frist zu äußern. Dem Vater eines unehelichen Kindes, dem die Obsorge nie zugekommen ist, steht dieses Recht nur bezüglich wichtiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung zu. Diese Äußerung ist zu berücksichtigen, wenn der darin ausgedrückte Wunsch dem Wohl des Kindes besser entspricht.

(2) Würde die Wahrnehmung dieser Mindestrechte das Wohl des Kindes ernstlich gefährden, so hat das Gericht sie einzuschränken oder zu entziehen."

§178a ABGB, eingefügt durch ArtI Z13 des Bundesgesetzes über die Neuordnung des Kindschaftsrechts, BGBl. 403/1977, hat folgenden Wortlaut:

"§178 a. Bei Beurteilung des Kindeswohls sind die Persönlichkeit des Kindes und seine Bedürfnisse, besonders seine Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten, sowie die Lebensverhältnisse der Eltern entsprechend zu berücksichtigen."

4. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien erachtet die Zuteilung der Obsorge (§144 ABGB) an einen Elternteil allein in §177 ABGB für nicht verfassungskonform. Es begründet seine Auffassung mit folgenden Ausführungen:

"Die nach der Kreierung des §177 ABGB eingetretene Entwicklung hat dieses Modell insoweit überholt, als - von der Basis kommend - bei geschiedenen Eltern immer stärker der Wunsch aufgetreten ist, nach erfolgter Scheidung weiterhin auch gemeinsam die Verantwortung für das Kind zu tragen. Das Rekursgericht hat diese Entwicklung in seiner u.a. in JBl. 1992, 695 ff. veröffentlichten Entscheidung 43 R 281/92, vor allem auch an Hand der Ausführungen von Coester in Staudinger, BGB12 IV (1991) zu §1671 BGB dargelegt. Im Zeichen dieser Veränderung stand der in Salzburg im Mai abgehaltene Familienrichtertag 1993. Die Bestimmung, daß nach erfolgter Scheidung die Obsorge nur einem Elternteil zuzukommen hat, wurde daher als nicht mehr zeitgemäß, einengend und mit verfassungsrechtlichen Bestimmungen im Widerspruch gesehen (Stolzlechner, Übertragung und Obsorge in Harrer/Zitta, Familie und Recht, 785 ff.). Selbstredend kann die seit der Neufassung des §177 ABGB eingetretene Entwicklung keinen alleinigen Grund darstellen, die Verfassungsmäßigkeit des §177 in Frage zu stellen, doch ist sie für das nunmehrige Normverständnis aus teleologischer Sicht nicht ohne Bedeutung (vgl. Posch in Schwimann, Praxiskommentar zum ABGB I Rz. 21-23 zu §6; auch Bydlinski, in Rummel I Rz. 20-24 zu §6). Vor allem kann in diesem Rahmen der bei einem Rechtsinstitut eingetretene Funktionswandel nicht unberücksichtigt bleiben. Für die hier ausschlaggebende Argumentation ist der Rückgriff darauf sicher nicht notwendig, doch soll dieser Gedanke deshalb nicht unerwähnt bleiben.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 22.6.1989, G142, 168/88, veröffentlicht u.a. in JBl. 1990 305 ff., ausgesprochen, daß die Bestimmung des §177 ABGB über die Alleinzuteilung an einen Elternteil dem Art8 MRK nicht widerspricht, jedoch ausdrücklich angeführt, daß er mangels dahingehender Anfechtung im Sinne seiner Judikatur nicht zu prüfen hatte, ob die Gesetzesstelle auch anderen Verfassungsbestimmungen widerspricht. Es kann daher zulässigerweise eine Prüfung dahin angestrengt werden, ob die Norm anderen im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen entspricht.

Vor allem Stolzlechner, aaO 790 ff., macht geltend, daß die Bestimmung des §177 ABGB dem Zusatzprotokoll Nr. 7, Art5 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten samt Erklärungen, BGBl. 1988/628 (7. ZProt.), das im Verfassungsrang steht, nicht standhalten kann. Der Artikel lautet:

'Ehegatten haben untereinander in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Eheschließung und bei Auflösung der Ehe. Der Artikel verwehrt es den Staaten nicht, die im Interesse der Kinder notwendigen Maßnahmen zu treffen.'

Die Gleichheit beschränkt sich demnach nicht nur auf die Ehe, sondern ist im selben Ausmaß für die nacheheliche Phase zu wahren (EBzRV 900 BlgNR 16. GP, 9; Trechsel, Das verflixte Siebente? Bemerkungen zum 7. Zusatzprotokoll des EMRK in FS Ermacora 208 ff.). Bezogen auf die Elternrechte stellt daher die Scheidung keine Zäsur dar, die für sich Anlaß geben könnte, normierte Elternrechte, die dem Gleichheitsgrundsatz entsprechen, anders, vor allem auch unter Ausschaltung des Elternteiles, neu zu regulieren. Bezogen auf die elterlichen Rechte und Pflichten wird die eheliche Phase der nachehelichen gleichgestellt. Die Gesetzgebungen der Vertragsstaaten sind daher verpflichtet, ihre Familienrechte so zu gestalten, daß der Gleichheitsgrundsatz bezüglich der Ausübung der Obsorgerechte und Pflichten nicht alleine dadurch in Frage gestellt wird, je nachdem ob die Ehe der Eltern der Kinder aufrecht oder geschieden ist, Nach §177 ABGB soll ein Elternteil durch die Ehescheidung zwingend die ihm zustehenden Obsorgerechte verlieren. Ein Eingehen auf die konkrete Situation ist nicht erforderlich. Der rechtliche Akt der Scheidung für sich genügt, um diese Wirkung zu rechtfertigen. Das widerspricht dem Artikel 5 und ist daher verfassungswidrig. Es ist nicht zu erkennen, was sein Schutzzweck ist, wenn mit ihm die Alleinzuteilung der Obsorge an einen Elternteil nur deshalb, weil die Ehe geschieden wurde, vereinbar wäre. Der Text, seine Intention und der ganze Aufbau der Bestimmung soll doch erkennbar der Tendenz entgegenwirken, Obsorgerechte davon abhängig zu machen, ob die Ehe aufrecht oder geschieden ist. Wäre dieses Ziel nicht angestrebt worden, so hätte sich die Vereinbarung erübrigt. Der ganze Artikel verlöre seinen Sinngehalt und seine Substanz, wenn ihm das nicht zu unterstellen wäre. Die Ausführungen Stolzlechners aaO, S. 394, gehen dahin, daß die Maßnahmen des §177 ABGB nicht adäquat seien. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei nicht für sich abstrakt, sondern im Verhältnis zum grundrechtlichen Inhalt des Art5 des 7. Zusatzprotokolles zu sehen.

Der zweite Satz des Artikels verwehrt es den Staaten nicht, die im Interesse der Kinder notwendigen Maßnahmen zu treffen. Diese Bestimmung vermag aber den im ersten Satz statuierten Gleichheitsgrundsatz für die nacheheliche Phase nicht in Frage zu stellen. Vor allem würde es auf eine Aufhebung des im ersten Satz des Artikels normierten Gleichheitsgrundsatzes hinauslaufen, wenn die Scheidung für sich eine notwendige Maßnahme im Sinne des Obsorgeentzuges rechtfertigen und demnach §177 ABGB insoweit billigen würde. Die im Artikel angesprochenen Maßnahmen rechtfertigen die Erlassung von Normen, wie sie im §176 ABGB festgelegt sind (Einschränkung oder Entziehung der elterlichen Rechte und Pflichten bei schon objektiver Gefährdung durch einen Elternteil). Das Interesse der Kinder (in unserer Diktion: Wohl der Kinder) ist immer wahrzunehmen und demgemäß zu handeln, gleich, ob seine Eltern geschieden sind oder in aufrechter Ehe leben. Jede an sich statuierte Regelung kann zu anderen Gestaltungen führen, wenn der betroffene Elternteil das Wohl des Kindes gefährdet. Mit dem Artikel stünde daher durchaus in Einklang, wenn die Gesetzgebungen der Einzelstaaten anordnen, daß aus Anlaß einer Scheidung eine Prüfung stattzufinden hat, ob die bisherige Ausübung der Elternrechte weiterhin verbleiben sollen. Für anderweitige Gestaltungen erfordert der zweite Satz des Artikels erkennbar einen konkreten Sachbezug, der nur in der Prüfung obwaltenden Lebensverhältnisse seine Rechtfertigung finden kann, nicht aber schon in der Scheidung an sich. Eine schwerpunktsmäßige Orientierung in Richtung Scheidung ist dem zweiten Satz des Artikels 5 schon deshalb nicht zuzuordnen, weil er sich ja unterschiedslos auf alle Phasen, die im ersten Satz genannt sind, bezieht. Die notwendigen Maßnahmen sich daher auch auf die Phase der Dauer der Ehe beziehen.

Es bedarf wohl keiner Erörterung, daß die dem die Obsorge nicht innehabenden Elternteil in §178 ABGB zuerkannten Mindestrechte eine dem Gleichheitsgrundsatz entsprechende Position bezüglich des Obsorgerechtes nicht geben. Spricht doch das Gesetz einleitend selbst von dem Elternteil, dem die Obsorge nicht zukommt. Hat er doch nur das Recht von 'außergewöhnlichen Umständen', die das Kind betreffend und von beabsichtigten Maßnahmen zu den in §154 Abs2 und 3 genannten Angelegenheiten von demjenigen, dem die Obsorge zukommt, rechtzeitig verständigt zu werden und sich zu diesen, wie auch zu anderen wichtigen Maßnahmen, in angemessener Frist zu äußern. Ein Zustimmungs- und Mitbestimmungsrecht wird dadurch nicht gewährt (Schwimann in Schwimann, Praxiskommentar zum ABGB I Rz. 7 zu §178 mit weiteren Zitaten aus der Judikatur). Auch ergeben sich aus dieser Bestimmungen für den nicht obsorgeberechtigten Elternteile keine Parteienrechte (Pichler in Rummel, Kommentar zum ABGB I Rz. 5 zu §178 mit Nachweisen aus der Judikatur). Von einer qualitativen Beteiligung an der Obsorge, dessen Ausschluß §178 ABGB seinem ausdrücklichen Wortlaute nach voraussetzt, kann daher nicht die Rede sein.

Ohne jegliche Relevanz ist die Bestimmung des §177 Abs3 ABGB, wonach §167 ABGB entsprechend gilt, weil für die nacheheliche Situation geradezu typisch ist, daß die geschiedenen Eheleute nicht in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben. Mit dieser Bestimmung kann daher nicht argumentiert werden, daß das Gesetz in seiner Gesamtregulierung dem Art5 nicht widerspricht.

Dem Rekursgericht erscheint aber nicht nur das

7. Zusatzprotokoll, Art5 BGBl. 1988/628, sondern auch Art2 StGG insoferne verletzt, als in entscheidenden Bereichen eine unsachliche Differenzierung vorgenommen wurde (vgl. Adamovich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht3, 379; 381 f.).

§177 ABGB steht nämlich in sich mit seinen Wertungen in einem unlösbaren innerlichen Widerspruch. Er verlangt nämlich die amtswegige Alleinzuteilung der Obsorge an einen Elternteil nur dann, wenn die Ehe geschieden, aufgehoben oder für nichtig erklärt wurde. Leben die Eltern ohne Scheidung dauernd getrennt, so kann das Gericht amtswegig keinem von ihnen die Elternrechte alleine zuteilen. In diesem Falle kann eine Zuteilung nur über Antrag erfolgen. Liegt der Gesetzesstelle die innere Wertung zugrunde, daß ein dauerndes Getrenntleben der Eltern für das Kind einen Zustand bringt, der einer amtswegigen Regelung bedarf, wonach die Elternrechte einem Elternteil ausschließlich zuzuordnen sind, so ist nicht einzusehen, warum einer in diesem Zusammenhang möglichen Fälle herausgegriffen und einer abweichenden Regelung dahin zugeführt wird, daß die Rechtsfolgen nicht amtswegig, sondern nur über Antrag bewirkt werden können. Entscheidend ist die unterschiedliche und sachlich in keiner Weise begründete abweichende Regelung für diesen Fall des Getrenntlebens. Die Regelung des §177 ABGB ist ja inhaltlich eine solche des Kindschaftsrechtes zur Wahrung des Wohles des Kindes, und nicht eine solche des Scheidungsfolgerechtes oder gar eine Scheidungssanktion. In welcher rechtlicher Verbindung die Eltern die zueinander stehen, ist für das Kind unentscheidend.

Die Bestimmung des §177 ABGB widerspricht daher auch dem Art2 StGG."

5. Das Landesgericht Salzburg hat gegen die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB folgende Bedenken vorgebracht:

"Es wird zwar nicht verkannt, daß der Verfassungsgerichtshof bereits über die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB (idF des Bundesgesetzes über die Neuordnung des Kindschaftsrechtes, BGBl. 1977/403) im Hinblick auf Artikel 8 EMRK entschieden hat (Erkenntnis vom 22.6.1989, G142, 168/88 VfSlg. 12103); andererseits wurden jedoch auch unter Bedachtnahme auf die zitierte Vorentscheidung des Verfassungsgerichtshofes sowie darauf, daß §177 ABGB durch Anfügung eines Absatzes 3 durch

Artikel 1 Z20 KindRÄG, BGBl. 1989/162, dahingehend novelliert wurde, daß unter Verweis auf den ebenfalls mit dem Kindschaftsrechtsänderungsgesetz neu gefaßten §167 ABGB die Belassung der gemeinsamen Obsorge für ein Kind auch nach Scheidung der Eltern bei gemeinsamen Antrag der Eltern ermöglicht wird, wenn 'die Eltern mit dem Kind in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben' und die Belassung der gemeinsamen Obsorge 'für das Wohl des Kindes nicht nachteilig ist', neben der im Erkenntnis Verfassungssammlung 12103 bereits berücksichtigten Lehrmeinung von H a r r e r (Pflege, Erziehung und Verwaltung des Vermögens des Kindes nach Scheidung der Elternehe, ÖJZ 1984, 452), in der Literatur weitere kritische Stimmen gegen die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB laut (vgl. S t o l z l e c h n e r , Die Übertragung der Obsorge auf einen Elternteil nach Eheauflösung bzw. nach einer nicht bloß vorübergehenden Trennung der Eltern (§177 ABGB) im Lichte des Artikel 8 MRK sowie des Artikel 5 des 7. ZProt. in :

H a r r e r / Z i t t a (Hg.), Familie und Recht (1992), 785 ff.;

B r ö t e l , Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens (1991), 189 ff.; P i c h 1 e r , Glosse zu OGH 10.6.1992, 3 Ob 514/92 JBl. 1992, 699; D e i x 1 e r - H ü b n e r , Die Obsorgerechtsregelung nach der Ehescheidung, ÖJZ 1993, 722 und Ü b e r t s r o i d e r , Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre durch Artikel 8 EMRK und §1 DSG, Rechtswissenschaftliche Dissertation an der Universität Salzburg (1994), 96 ff.). Diese in der Lehre vorgebrachten Bedenken, die im unten dargelegten Ausmaß vom erkennenden Rekurssenat geteilt werden, sowie die Erfahrungen der Judikaturpraxis mit der Bestimmung des §177 ABGB lassen es daher als geboten erscheinen, den vorliegenden Antrag zu stellen.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die derzeitige Regelung des §177 ABGB beziehen sich auf Sachverhalte, in denen es dem Kindeswohl nicht nachteilig ist (vgl. §167 ABGB) oder es dem Kindeswohl sogar mehr entspricht, die Obsorge nach Scheidung bei beiden Elternteilen zu belassen. Unter Verweis auf die Ausführungen von C o e s t e r (in S t a u d i n g e r , BGB IV12 Rz. 162 zu §1671; vgl. auch LGZ Wien JBl. 1992, 695 ff.) können die für eine gemeinsame Sorgerechtsregelung sprechenden kindeswohlrelevanten Gesichtspunkte darin erblickt werden, daß durch ein von beiden Elternteilen gemeinsam ausgeübtes Sorgerecht die Loyalitätskonflikte des Kindes geschont werden, da es sich nicht zwischen den Eltern entscheiden muß und damit die Kontinuität der Beziehungen weitmöglichst gewahrt wird. Der Umstand, daß beide Elternteile weiter für das Kind zuständig sind und sorgen wollen, vermag ihm eine psychische Hilfe bei der Bewältigung der Scheidungskrise zu sein, wie überhaupt das Bedürfnis des Scheidungskindes nach fortbestehenden Beziehungen zu beiden Elternteilen als fundamental erkannt worden ist. Weiterhin kann das gemeinsame Sorgerecht die Befriedung der familiären Konflikte fördern und häufig anzutreffende Schwierigkeiten bei der Besuchsrechtsausübung ersparen. Das gemeinsame Sorgerecht ist daher in geeigneten Fällen die für das Kind schonendste und ihm förderlichste Sorgerechtsform und konzeptionell der Alleinsorge überlegen (vgl. C o e s t e r aaO).

Aus kindes- und sozialpsychologischer Sicht muß daher davon ausgegangen werden, daß die Zuteilung der Obsorge nach Scheidung an einen Elternteil allein nicht in jedem Fall dem Kindeswohl zuträglich ist. Hinsichtlich der Fallgruppe, in denen das Kindeswohl die Zuweisung der Obsorge an einen Elternteil nicht erfordert oder eine solche unter Bedachtnahme auf das Kindeswohl geradezu kontraindiziert wäre, ergeben sich die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB, die nunmehr wie folgt näher auszuführen sind:

Zunächst ist festzuhalten, daß die Textierung des §177 Abs1 und 2 ABGB im Zusammenhang mit der aus den Materialien hervorleuchtenden Absicht des Gesetzgebers eine Interpretation dahingehend ausschließt, das Sorgerecht in bestimmten Fällen beiden Elternteilen zuzuweisen (arg.: 'allein' in Absatz 1 und 2 leg.cit.; vgl. D e i x 1 e r - H ü b n e r aaO, 725 ff.; VfSlg. 12103). Eine verfassungskonforme Auslegung des §177 ABGB dahingehend, daß das Sorgerecht nach Scheidung der Elternehe auch bei Fehlen des Tatbestandsmerkmales der dauernden häuslichen Gemeinschaft der Eltern mit dem Kind im Interesse des Kindeswohles bei beiden Elternteilen belassen werden könne, erscheint daher de lege lata nicht möglich.

1.) Bedenken aus der Sicht des Artikel 8 EMRK :

Das antragstellende Gericht verkennt keineswegs, daß nach ständiger Rechtsprechung der EKMR die Regelung der Sorgeberechtigung für ein Kind in erster Linie Sache des nationalen Gesetzgebers ist. Weiters wird nicht übersehen, daß die familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern vor und nach der Scheidung unterschiedlich geregelt werden können (vgl. B r e i t e n m o s e r, Der Schutz der Privatsphäre gemäß Artikel 8 EMRK (1986), 120 f.).

Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis Verfassungssammlung 12.103 (Seite 731) festgehalten hat, ist die Zuweisung der aus den familienrechtlichen Beziehungen erfließenden Rechte und Pflichten nach Auflösung der Ehe (oder im Fall dauernder Trennung der Eltern) an einen Elternteil allein ein Eingriff in das dem anderen Elternteil, aber auch dem Kind durch Artikel 8 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens (so auch in ständiger Rechtsprechung die EKMR 2.5.1978, B7.770/77, DR 14, 175 (176 f.); EKMR 9.7.1980, B8.513/79, EuGRZ 1982, 311 Nr. 102). Entscheidungen eines staatlichen Gerichtes, die das Grundrecht eines Elternteiles im Interesse des Wohles des Kindes beschränken, sind durch Artikel 8 EMRK gedeckt (VfSlg. 12103).

Der Eingriff ist dann eine in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft notwendige Maßnahme, wenn er im öffentlichen Interesse oder zum Schutz der Gesundheit des Kindes erfolgt, wobei unter Gesundheit auch das psychische Wohl des Kindes verstanden wird (statt aller EKMR 10.4.1961 B911/60, Yb 4, 198 (216)).

Wie eingangs bereits angesprochen, gibt es Fallgestaltungen, die im Interesse des Kindeswohles gerade wegen der Trennung der Eltern die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge der Kindeseltern erheischen. Es ist ein kinderpsychologischer Gemeinplatz, daß mit der Trennung der Eltern erhebliche psychische Belastungen der Kinder einhergehen. Können diese naturgemäß auftretenden psychischen Belastungen der Kinder dadurch gemildert werden, daß die Eltern weiterhin gemeinsam das Sorgerecht ausüben, so muß im Interesse des Kindeswohles die Möglichkeit bestehen, den Eltern das Sorgerecht gemeinsam zuzusprechen, und zwar unabhängig vom Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft im Sinne des §167 ABGB iVm §177 Abs3 ABGB (vgl. Ü b e r t s r o i d e r aaO, 104).

Regelungen, die den Eltern unter bestimmten Voraussetzungen das Sorgerecht gemeinsam zuerkennen, entsprechen dem Artikel 8 EMRK, da das Familienleben nach der Trennung der Eltern weiter besteht (B r ö t e 1 aaO, 191 mwN).

Artikel 8 Abs2 EMRK gestattet einen Eingriff zum Schutz der Gesundheit des Kindes bzw. von dessen Rechten (siehe VfSlg. 12103, 733). Damit unterliegt eine Obsorgerechtsregelung nicht nur auf einfach-gesetzlicher Ebene dem Postulat des Kindeswohles (siehe dazu D e i x l e r - H ü b n e r , ÖJZ 1993, 725), sondern auch aus der Sicht des Artikel 8 EMRK ist eine Regelung nur insoweit konventionskonform, als sie zum Schutz des Kindeswohles erforderlich ist. Erfordert das Kindeswohl einen solchen Eingriff nicht und entspricht es überdies dem Kindeswohl mehr, wenn das Sorgerecht beiden Elternteilen zugewiesen wird, dann entfallen die genannten Eingriffsgründe in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Übrig bleibt ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens des nicht sorgeberechtigten Elternteiles und des Kindes, der nicht aus dem in Artikel 8 Abs2 EMRK angeführten Eingriffsgrund 'Schutz der Gesundheit oder der Rechte' des Kindes erforderlich ist, da ja das Kindeswohl gerade das Gegenteil indiziert (B r ö t e l aaO, 191;

Ü b e r t s r o i d e r aaO, 105).

Einen anderen der Eingriffsgründe des Artikel 8 Abs2 EMRK als den des Schutzes der Gesundheit des Kindes und von dessen Rechten (also des Inbegriffs des Kindeswohles) heranzuziehen, erscheint nicht möglich. Insbesondere könnte ein 'gesellschaftliches Interesse' wohl nicht über das Kindeswohl gestellt werden; letztlich erfolgt der Schutz der Kinder im Gesellschaftinteresse, da sie der am meisten schutzbedürftige Teil der Gesellschaft sind.

Eine gesetzliche Regelung über die Bestimmung des §177 ABGB, die eine Zuweisung der Obsorge zwingend an einen Elternteil vorsieht, ohne daß auf das Kindeswohl im konkreten Fall abgestellt wird, sodaß durchaus Fälle denkbar sind und in der Praxis auch vorkommen, in denen die Zuweisung der Obsorge an einen Elternteil dem Kindeswohl geradezu widerspricht, erscheint daher verfassungsrechtlich aufgrund des Fehlens eines Eingriffstatbestandes in das durch Artikel 8 EMRK gewährleistete Grundrecht nicht verfassungskonform zu sein.

Es ist im Gegenteil zu fragen, ob nicht Artikel 8 EMRK sogar einen Anspruch auf Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen einräumt. Das könnte der Fall sein, wenn die Eltern die gemeinsame Obsorge übereinstimmend wollen, sie beide voll erziehungsfähig sind, die Verantwortung weiter wahrnehmen können und keine Gründe dafür vorliegen, die im Interesse des Kindeswohles die Übertragung des Sorgerechtes an nur einen Elternteil angezeigt erscheinen ließen. Wie bereits ausgeführt, fehlt in solchen Fällen ein unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohles rechtfertigender Grund für den Eingriff in ein Grundrecht, sodaß Artikel 8 EMRK die Belassung der Obsorge bei beiden Elternteilen fordert (B r ö t e l aaO, 191), denn aus dem Begriff 'Achtung des Familienlebens' ergeben sich für den Gesetzgeber positive, diesem Begriff immanente Pflichten. So ist der Staat beispielsweise verpflichtet, die familiären Beziehungen so zu gestalten, daß es den Betroffenen möglich ist, ein normales Familienleben zu führen (EGMR 13.6.1979 - Marckx-Fall -, EuGRZ 1979, 459).

Kann aufgrund der starren gesetzlichen Regelung des §177 ABGB die Obsorge im Gros der Fälle nur einem Elternteil zugewiesen werden - die dauernde häusliche Gemeinschaft der Kindeseltern mit dem Kind nach Trennung ihrer Ehe bildet einen seltenen Ausnahmefall - , so liegt darin ein Eingriff des Gesetzgebers in das Recht auf Achtung des Familienlebens eines Grundrechtsträgers, wobei in das Grundrecht des anderen (nicht obsorgeberechtigten) Elternteiles und des Kindes eingegriffen wird. Die Beurteilung der Notwendigung eines Eingriffes ist Sache des Gesetzgebers; er ist aufgrund des Artikel 8 EMRK grundsätzlich auch nicht auf eine bestimmte Regelung beschränkt, sondern hat rechtspolitischen Gestaltungsspielraum (VfSlg. 12104, 731). Im übrigen ist der Begriff 'notwendig' des Artikel 8 Abs2 auch nicht in der Form zu verstehen, daß der Gesetzgeber nur auf eine 'beste' Lösung beschränkt ist. Dazu ist anzumerken, daß die beste Lösung für das Kind in bestimmten Fällen die gemeinsame Ausübung der Obsorge sein kann. Obwohl diese Lösung auch Nachteile mit sich bringt, bleibt die Frage, ob man schon deshalb die 'zweitbeste' Lösung, nämlich die Zuerkennung der Obsorge an nur einen Elternteil und damit verbunden den Abbau der Kontakte zum anderen Elternteil. grundsätzlich vorziehen soll (hiezu näher C o e s t e r , aaO, Rz. 163).

Nach den Wertungskriterien des EGMR muß eine Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Anspruch auf Achtung des Familienlebens durchgeführt werden. Zusätzlich ist die Notwendigkeit der Zuteilung der Obsorge an nur einen Elternteil zum Schutze des Kindeswohles überzeugend nachzuweisen. Im übrigen müssen die für einen Eingriff ins Treffen geführten Gründe umso schwerwiegender sein, je schwerwiegender der Eingriff ist (zum 'Verhältnismäßigkeitspinzip' siehe EGMR 7.12.1976 - Handyside-Fall - EuGRZ 1977, 28 (41 f.)). Ist der Eingriff ins Familienleben nicht unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohles erforderlich, so fehlen ihm rechtfertigende Gründe.

Nach der Judikatur des EGMR ist die 'Notwendigkeit' eines Eingriffes dann gegeben, wenn ein 'dringendes soziales Bedürfnis' dafür vorliegt (so auch VfSlg. 12103, 734 mwN). Ein 'dringendes soziales Bedürfnis' dafür, daß die Obsorge, selbst wenn dem das Kindeswohl entgegensteht - abgesehen vom Fall des Weiterbestehens der dauernden häuslichen Gemeinschaft der Eltern -, zwingend nur einem Elternteil zugewiesen werden kann, vermag der antragstellende Senat nicht zu erkennen.

Zweifellos bringen die mit dem Kindschaftsrechtsänderungsgesetz 1989 eingeführten Änderungen (§177 Abs3 ABGB) eine Verbesserung hinsichtlich der Achtung des Familienlebens desjenigen Elternteiles mit sich, dem ansonsten das Sorgerecht nicht mitübertragen werden könnte. Ob dies allerdings bereits hinreicht, um einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen, erscheint fraglich. Insbesondere ist zweifelhaft, ob eine Notwendigkeit dahingehend besteht, die gemeinsame Obsorge nur bei Aufrechterhaltung der dauernden häuslichen Lebensgemeinschaft weiter zu belassen. Naturgemäß erleichtert das Wohnen im gemeinsamen Haushalt die praktische Ausübung des Sorgerechtes, doch gilt dies in abgestufter Form, beispielsweise auch dann, wenn die Eltern zwar in getrennten Wohnungen, jedoch in räumlicher Nähe zueinander wohnen. Die soziale Wirklichkeit zeigt auch, daß selbst bei weit entfernten getrennten Wohnsitzen der Elternteile in bestimmten Fällen die (faktische) gemeinsame Obsorgerechtsausübung durchaus möglich ist. Es besteht demnach keine zwingende Notwendigkeit, die Möglichkeit einer gemeinsame Obsorge nach Scheidung der Elternehe an das Tatbestandsmerkmal der 'dauernden häuslichen Gemeinschaft' der Kindeseltern zu knüpfen, zumal Artikel 8 EMRK für ein 'Familienleben' zwischen Eltern und Kindern keineswegs erfordert, daß diese zusammenleben (EGMR 21.6.1988 - Berrehab-Fall -, EuGRZ 1993, 547 (549)).

Die 'Notwendigkeit' eines Eingriffes ist zusätzlich aus der Sicht 'einer demokratischen Gesellschaft' zu beurteilen. Das Merkmal der 'demokratischen Gesellschaft' erfordert letztlich die Vornahme eines Vergleiches der entsprechenden Rechtslagen in den Europaratsstaaten (dazu B e r k a, die Gesetzesvorbehalte der EMRK, ZÖR 1986/37, 93). Wie in der Stellungnahme der Bundesregierung in VfSlg. 12103 (Seite 721) ausgeführt wird, ist die Beibehaltung der gemeinschaftlichen Wahrnehmung der elterlichen Sorgerechte für das Kind nach Scheidung bzw. Trennung der Eltern in der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, England, Wales, Frankreich, Italien, Norwegen, Schweden und Spanien möglich (siehe auch B r ö t e l aaO, 205 ff.), während in Belgien, Luxemburg, Österreich, Portugal und in den Niederlanden das Sorgerecht nur einem Elternteil übertragen werden kann.

In der Mehrzahl der angeführten Staaten ist also eine Weiterbelassung des gemeinsamen Sorgerechtes nach der Scheidung der beiden Eltern möglich bzw. wird die ausnahmslose Übertragung der Obsorge an nur einen Elternteil nicht als notwendig angesehen. Zusätzlich ergibt sich aus der zitierten Stellungnahme der Bundesregierung auch, daß die Tendenz in den Europaratstaaten in jüngerer Zeit eindeutig in Richtung der Belassung des Sorgerechtes bei beiden Elternteilen geht. Auch wenn man nicht auf die numerische Mehrheit derjenigen Europaratstaaten abstellt, die die Belassung des gemeinsamen Sorgerechtes normativ ermöglichen, kann aufgrund einer wertenden Ermittlung jedoch festgehalten werden, daß der europäische Standard in Richtung einer solchen Regelung geht (vgl. B e r k a aaO, 94 f.). Daraus ist ersichtlich, daß nicht nur kein dringendes soziales Bedürfnis dahingehend besteht, das Sorgerecht nach der Scheidung nur einem Elternteil zuzuerkennen, sondern überdies immer mehr Staaten dazu übergehen, das Sorgerecht bei beiden Eltern zu belassen.

Diese Entwicklung wird durch Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK dokumentiert, welche Bestimmung von einer grundsätzlichen Gleichstellung der Ehegatten hinsichtlich ihrer privatrechtlichen Rechte und Pflichten nach Auflösung der Ehe im wechselseitigen Verhältnis sowie im Verhältnis zu gemeinsamen Kindern ausgeht. Während es zur Entstehungszeit der Konvention im Jahre 1950 in vielen Staaten als zulässig und normal angesehen wurde, einen Unterschied zwischen 'nichtehelicher' und 'ehelicher' Familie zu machen, hat sich das Recht vieler Europaratstaaten in Richtung der Gleichbehandlung der Eltern vor und nach der Ehe fortentwickelt. Da die Konvention jeweils im Licht der aktuellen Bedeutung auszulegen ist, kommt auch diesem Umstand Gewicht zu (zu dieser Argumentation vgl. EGMR 13.6.1979 - Marckx-Fall -, EuGRZ 1979, 454 (457) Z41).

Eine Regelung wie in §177 ABGB, die grundsätzlich das Sorgerecht nur einem Elternteil zuweist - ohne Berücksichtigung des Kindeswohles im konkreten Einzelfall -, erscheint daher als Verletzung des Anspruches auf Achtung des Familienlebens des nicht sorgeberechtigten Elternteiles und des Kindes (so auch B r ö t e l aaO, 204).

Der Umstand, daß den Kindeseltern unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung der Obsorge die Möglichkeit unbenommen bleibt, dennoch faktisch einvernehmlich vorzugehen, ist nach Auffassung des erkennenden Rekurssenates nicht geeignet, die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §177 ABGB zu zerstreuen, bleibt es doch letztlich dem Gutdünken des obsorgeberechtigten Elternteiles überlassen, ob er den anderen Elternteil über die in §178 Abs1 ABGB normierten Mindestrechte hinaus in die Ausübung der Obsorge einbezieht, sodaß die (partielle) Wahrnehmung von Elternrechten des ansonsten auf die Mindestrechte nach §178 ABGB beschränkten Elternteiles rechtlich in keiner Weise abgesichert ist und daher kein verfassungsrechtlich unbedenkliches Surrogat dafür darstellt, auch bei Nichtvorliegen des Tatbestandsmerkmales der dauernden häuslichen Gemeinschaft eine einvernehmliche Ausübung der Obsorge durch beide Elternteile nach der Scheidung der Elternehe zu ermöglichen (vgl. S t o l z l e c h n e r aaO, 792; Ü b e r t s r o i d e r aaO, 103). Die faktische Möglichkeit, die Obsorge trotz Scheidung der Elternehe weiter gemeinsam auszuüben, bildet somit keinen Ersatz für einen nach der hier vertretenen Auffassung grundrechtlichen Anspruch auf Einräumung der Möglichkeit einer gemeinsamen Obsorge auch nach Scheidung der Kindeseltern auf einfachgesetzlicher Basis, ohne daß es auf das Tatbestandsmerkmal der dauernden häuslichen Gemeinschaft ankäme. Insbesondere vermag das dem nicht obsorgeberechtigten Elternteil durch §178 Abs1, §148 ABGB eingeräumte Recht auf persönlichen Verkehr mit dem Kind den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Anspruch auf Achtung des Familienlebens und - daraus abgeleitet - das Recht auf Mitwirkung an der Pflege, Erziehung, Vermögensverwaltung und gesetzlichen Vertretung nicht zu erfüllen.

Artikel 8 EMRK ist letztlich auch in Zusammenhang mit Artikel 14 EMRK zu interpretieren. Eine Verletzung des Familienlebens des nicht sorgeberechtigten Elternteiles liegt daher so lange nicht vor, als die Ungleichbehandlung auf objektiven und vernünftigen Gründen beruht (EKMR 16.1.1992, B12875/87, News-letter 1992/3, 20). Wie bereits ausgeführt, kann in einer nicht unerheblichen Anzahl von praktischen Fällen die Ungleichbehandlung des obsorgeberechtigten und des nicht obsorgeberechtigten Elternteiles nicht mit Kindeswohlerwägungen gerechtfertigt werden, sondern ist vielmehr das genaue Gegenteil der Fall, daß nämlich aus kindeswohlrelevanten Gründen die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge bei beiden Elternteilen wünschenswert wäre. In diesen Fällen kann nach Auffassung des erkennenden Rekurssenates die aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage gegebene Ungleichbehandlung nicht auf objektive und vernünftige Gründe gestützt werden.

Eine Ungleichbehandlung ergibt sich in den Fällen des §177 Abs3 ABGB auch zwischen jenen Eltern, die nach der Scheidung die dauernde häusliche Gemeinschaft beibehalten wollen und denjenigen, welche dies nicht wollen, was nach forensischer Erfahrung in der Mehrzahl der Fälle zutrifft. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß die gemeinsame Sorgerechtsausübung durch beide Eltern problemlos nur dann möglich sei, wenn beide in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben, kann nicht aufgestellt werden, zumal auch vom Obersten Gerichtshof zunächst, wenngleich nur in Form eines obiter dictum, die Auffassung vertreten wurde, daß eine gemeinsame Obsorge der Kindeseltern nach Scheidung der Elternehe auch bei räumlicher Nähe der Wohnsitze der Kindeseltern zulässig sei (8 Ob 719/39).

Da aufgrund des Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK die Erreichung der Gleichbehandlung der Eltern hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten gegenüber den Kindern während der Ehe und nach Eheauflösung heute ein wesentliches Ziel der Mitgliedstaaten des Europarates ist, müssen sehr schwerwiegende Gründe vorgebracht werden, wenn die dargestellte unterschiedliche Behandlung der Eltern als mit der Konvention vereinbar angesehen werden soll (vgl. EGMR 28.5.1985 - Abdulaziz-Fall -, EuGRZ 1985, 567 (571)).

2.) Bedenken aus der Sicht des Gleichheitsgrundsatzes:

Auch aus der Sicht des in Artikel 7 Abs1 B-VG und Artikel 2 StGG normierten Gleichheitsgrundsatzes ergeben sich Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB.

Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes liegt immer dann vor, wenn eine unsachliche Differenzierung vorgenommen wurde (vgl. A d a m o v i c h - F u n k , Österreichisches Verfassungsrecht3, 379). §177 ABGB verlangt die amtswegige Alleinzuteilung an einen Elternteil nämlich nur dann, wenn die Ehe geschieden, aufgehoben oder für nichtig erklärt wurde. Leben die Eltern ohne Scheidung dauernd getrennt, so kann das Gericht amtswegig keinem von ihnen die Elternrechte allein zuteilen. Im letzteren Fall kann die Zuteilung nur über Antrag erfolgen. Entscheidend ist die unterschiedliche und sachlich in keiner Weise begründete Regelung für beide Fälle des Getrenntlebens der Eltern. Die Regelung des §177 ABGB ist ja inhaltlich eine solche des Kindschaftsrechtes zur Wahrung des Wohles des Kindes und nicht eine solche des Scheidungsfolgerechtes oder gar eine Scheidungssanktion. In welcher rechtlicher Verbindung die Eltern zueinander stehen, ist für das Kind nicht entscheidend. Der maßgebliche Reflex für sie ist, ob die Elternrechte gemeinsam von ihnen ausgeübt werden, was im Falle einer ernsthaften und tragfähigen Einigung der Eltern anerkanntermaßen die beste Form der Obsorge ist, oder ob gezwungenermaßen entgegen diesem Grund eine Alleinzuteilung stattzufinden hat (vgl. LGZ Wien JBl. 1992, 695 ; D e i x l e r - H ü b n e r aaO, 726; P i c h l e r aaO, 702).

Aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es dem Gesetzgeber im Rahmen seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes nicht verwehrt, auf den Regelfall abzustellen und von einer Durchschnittsbetrachtung auszugehen (VfSlg. 8457). Unabhängig von der Frage, ob die Zuweisung der Obsorge an einen Elternteil der 'Regelfall' sein wird. bezieht auch diese Obsorgeregelung wie jede andere Ausgestaltung einer solchen ihre Legitimation daraus, daß sie der bestmöglichen Wahrung des Kindeswohles dient. Wie bereits ausgeführt, kann jedoch gerade das Kindeswohl selbst bei Nichtvorliegen des Tatbestandsmerkmales der dauernden häuslichen Gemeinschaft der Eltern es erfordern, die Obsorge bei beiden Elternteilen zu belassen. Damit entstehen bei Zuweisung der Obsorge an einen Elternteil 'Härtefälle', die zwar die Regelung des §177 ABGB nicht an sich gleichheitswidrig machen (VfSlg. 10276), doch widerspricht das Anliegen des Gesetzgebers, einfache und leicht handhabbare Regelungen zu schaffen (VfSlg. 10455), der unzweifelhaften Intention des Gesetzgebers, immer das Kindeswohl als oberste Maxime des Pflegschaftsrechtes zu beachten, zumal jene Fälle, in denen die Belassung der Obsorge bei beiden Elternteilen dem Kindeswohl mehr entspricht als eine andere Regelung, quantitativ keineswegs vernachlässigt werden können. Es kann daher zu unsachlicher und letztlich nicht erforderlicher Härte des Gesetzes gegenüber Kindern aus einer Scheidungsfamilie kommen. Der hohe Stellenwert der Wahrung des Kindeswohles, insbesondere auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht, läßt es äußerst fragwürdig erscheinen, im Sinne einer Durchschnittsbetrachtung und des grundsätzlich anstrebenswerten Zieles einfacher und leicht handbarer Regelungen diese Gesichtspunkte über das Wohl des Kindes im Einzelfall zu stellen. Es erscheint demnach sachgerecht, die Überlassung der gemeinsamen Obsorge nach Scheidung bei beiden Eltern über die Grenzen des §177 Abs3 ABGB hinaus zumindest gesetzlich zu ermöglichen.

Insbesondere stellt das Abstellen auf die 'dauernde häusliche Gemeinschaft' gerade bei Scheidungen ein äußerst unpraktisches Kriterium dar, da im Regelfall bei Scheidung der Elternehe ein gemeinsamer Haushalt nicht aufrecht erhalten werden wird. Das führt in der Praxis zum Ergebnis, daß trotz des Ausnahmetatbestandes des §177 Abs3 ABGB das gemeinsame Sorgerecht den Eltern nach einer Scheidung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht beibehalten werden kann.

Eine Abschwächung der strengen Zuweisungsregel des Sorgerechtes an nur einen Elternteil wurde zwar durch die zitierte Bestimmung erreicht. Bei Fällen, in denen die häusliche Gemeinschaft nach der Scheidung dauernd aufrecht erhalten (oder gegebenenfalls wieder aufgenommen) wird, kann das Sorgerecht beiden Elternteilen zugesprochen werden.

Damit wurde versucht, die Regelung der Zuweisung des Sorgerechts bei Kindern von geschiedenen Eltern derjenigen von unehelichen Kindern anzupassen und somit einen Gleichklang zwischen den Regelungsmodellen herzustellen. Daß dies nicht in wünschenswertem Ausmaß gelungen ist, wurde bereits oben gezeigt.

3.) Bedenken aus der Sicht des Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK:

Selbst wenn man im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (vgl. etwa JBl. 1992, 699) der Ansicht anhängt, daß eine Regelung, die nach Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung die Zuweisung der Obsorge - mit Ausnahme des Weiterbestehens der häuslichen Gemeinschaft - an nur einen Elternteil ermöglicht, nicht dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz widerspricht, so ergeben sich Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung aus dem Artikel 5 des

7. ZP zur EMRK, der eine spezielle Ausformung des Gleichheitsgrundsatzes darstellt. Die genannte Bestimmung gewährleistet Ehegatten 'untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe'. Es wird allerdings den Staaten nicht verwehrt, 'die im Interesse der Kinder notwendigen Maßnahmen zu treffen'. Der antragstellende Senat ist - entgegen der vom Obersten Gerichtshof vertretenen Auffassung (vgl. 1 Ob 515/93) - der Ansicht, daß gerade Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK weitere Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB aufwirft.

Im Zusammenhang mit Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK werden im wesentlichen die Bedenken von S t o l z l e c h n e r (aaO, 794) geteilt. Der §177 ABGB in seiner derzeitigen Fassung erlaubt nämlich keine partnerschaftliche Ausübung der Obsorge nach Auflösung der Ehe, und zwar selbst dann nicht, wenn die Eltern dies wünschen und die Interessen des Kindes nicht entgegenstehen oder sogar durch eine solche Regelung befördert würden. Er schließt vielmehr praktisch jede Gestaltungsmöglichkeit aus, da in der Regel nach einer Scheidung nicht, wie von §177 Abs3 ABGB vorausgesetzt, die häusliche Gemeinschaft der Eltern aufrecht erhalten werden wird.

Es ist davon auszugehen, daß ein gerichtlicher Beschluß, der die Obsorge an nur einen Elternteil überträgt, in die durch

Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK gewährleistete Grundrechtsposition des anderen Ehegatten eingreift. Dies muß dann eine im Interesse der Kinder notwendige Maßnahme sein; d.h., die Maßnahme muß zur Erreichung des Kindeswohles geeignet und adäquat sein. Diese Verhältnismäßigkeit ist jedoch nicht abstrakt zu beurteilen, sondern ist im Zusammenhang mit dem Inhalt des durch Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK gewährleisteten Schutzes zu sehen. Es kann nicht übersehen werden, daß der §177 ABGB in einem Spannungsverhältnis zum, die Gleichbehandlung zwischen Mann und Frau in Bezug auf ihre privatrechtlichen Beziehungen zu ihren Kindern während der Ehe und nach Eheauflösung normierenden,

Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK steht. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit der partnerschaftlichen Aufteilung der Elternrechte und damit die gleichberechtigte Behandlung der Eltern in ihren Rechtsbeziehungen zu ihren Kindern in §177 ABGB bewußt nicht vorgesehen.

Wesentlich ist, daß es sich beim §177 ABGB um keine Einzelmaßnahme, mit der ausnahmsweise in ein Grundrecht eingegriffen wird, sondern um eine Verkehrung der grundrechtlichen Schutzgarantie des Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK handelt. Es liegt eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen grundrechtlicher Schutzgarantie und Grundrechtseingriff vor, das einem Regel-Ausnahmeverhältnis entsprechen soll. Die Ungleichbehandlung als Ausnahme wird zur Normalregelung gemacht.

Unter Hinweis auf die zu Artikel 8 EMRK und zum Gleichheitsgrundsatz angeführten Bedenken stellt sich die Frage, ob eine derartige Ausschaltung des Grundrechtes eine vom Grundrechtsvorbehalt (Artikel 5 7. ZP zur EMRK letzter Satz) gedeckte, im 'Interesse des Kindes notwendige Maßnahme' ist. Dies insbesondere aus dem Blickwinkel derjenigen Fälle, in denen das Kindeswohl eine gemeinsame gleichberechtigte Ausübung der Obsorge durch beide Elternteile nicht nur erlauben, sondern geradezu erfordern würde.

Aufgrund der angeführten Bedenken erscheint es dem antragstellenden Senat verfassungsrechtlich geboten, einfachgesetzlich die Möglichkeit einzuräumen, das Sorgerecht unabhängig von der Aufrechterhaltung (oder Wiederaufnahme) der häuslichen Gemeinschaft beiden Elternteilen über deren übereinstimmenden Antrag zuzuweisen, zumal auch der Gesetzgeber durch die Einführung des §177 Abs3 ABGB mit dem Kindschaftsrechtsänderungsgesetz 1989 tendentiell zum Ausdruck gebracht hat, daß unter der Voraussetzung, daß beide Eltern gewillt und in der Lage sind, die Verantwortung für ihre Kinder weiter gemeinsam zu tragen, die gemeinsame Ausübung der Obsorge aus Kindeswohlerwägungen geboten sein kann. Allerdings wurde diese Möglichkeit der gemeinsamen Ausübung der Obsorge unter praxisfremder und zu enger Grenzziehung der Tatbestandsvoraussetzungen nur bei Weiterbestehen der häuslichen Gemeinschaft ermöglicht, wobei de lege lata aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlautes und der aus den Materialien hervorleuchtenden Absicht des Gesetzgebers eine Auslegung des §177 in der Richtung, daß auch ohne Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der dauernden häuslichen Gemeinschaft der Kindeseltern eine gemeinsame Zuweisung der Obsorge nach Scheidung der Elternehe möglich sei, bereits die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreitet, sodaß eine verfassungskonforme Auslegung nach der hier vertretenen Auffassung methodisch nicht mehr zulässig erscheint.

Der mit dem Kindschaftsrechtsänderungsgesetz 1989 eingeschlagene Weg zur Möglichkeit der Gleichbehandlung beider Elternteile hinsichtlich ihrer privatrechtlichen Beziehungen zu ihren Kindern innerhalb und außerhalb einer Ehe sollte konsequenterweise nicht bei der derzeitigen Regelung Halt machen, sondern unter Beachtung der durch Artikel 8 EMRK, dem Gleichheitsgrundsatz und Artikel 5 des 7. ZP zur EMRK normierten verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer Regelung fortschreiten, die die Zuteilung der gemeinsamen Obsorge auch außerhalb der Tatbestandsvoraussetzungen des §167 ABGB (iVm §177 Abs3 ABGB) ermöglicht. Es wird nicht übersehen, daß die praktische Ausgestaltung von gemeinsamen elterlichen Sorgerechten, die außerhalb einer bestehenden häuslichen Gemeinschaft wahrgenommen werden, Probleme aufwirft. Bei der Erarbeitung entsprechender Lösungen darf das Kind nicht zum Versuchsobjekt werden. Gemildert wird diese Problematik jedoch dadurch, daß ein gemeinsames Sorgerecht ohnehin nur bei Konsens der Eltern möglich ist. Insgesamt soll nicht das Kindeswohl über das Gesetz gestellt werden (vgl. P i c h 1 e r aaO, 791), sondern dem Pflegschaftsgericht sollte gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt werden, die gemeinsame Obsorge dann auszusprechen, wenn sich diese im Einzelfall als die beste Lösung erweist, und zwar unabhängig vom Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft der Eltern (so auch S c h l e m m e r in S c h w i m a n n ABGB-Praxiskommentar, Rz. 5 zu §177)."

6.a) Die Bundesregierung hat die Verfassungsmäßigkeit des §177 ABGB verteidigt und den Bedenken des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien folgendes entgegengehalten:

"Das antragstellende Gericht erhebt Bedenken lediglich unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des in Art5 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankerten Gleichberechtigung der Ehegatten u.a. bei Auflösung der Ehe sowie unter dem Gesichtspunktes des Gleichheitssatzes. Nur auf diese behaupteten Verfassungswidrigkeiten ist daher einzugehen.

1. Zum Recht auf Gleichheit in und nach der Ehe:

Nach Art5 des verfassungsändernden Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 628/1988, haben Ehegatten untereinander und in ihren Beziehungen zu ihren Kindern gleiche Rechte und Pflichten privatrechtlicher Art hinsichtlich der Eheschließung, während der Ehe und bei Auflösung der Ehe. Dieser Artikel verwehrt es aber den Staaten zufolge seinem zweiten Satz nicht, die im Interesse der Kinder notwendigen Maßnahmen zu treffen.

Unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der im Interesse der Kinder notwendigen Maßnahmen ist zugunsten der bekämpften Bestimmung folgendes ins Treffen zu führen:

Der Verfassungsgerichtshof hatte §177 Abs1 ABGB idF BGBl. Nr. 407/1977 bereits in dem dem Erkenntnis VfSlg. 12103/1988 zugrundeliegenden Verfahren zu prüfen. Damals hatte er sich zwar lediglich mit Bedenken unter dem Gesichtspunkt des durch Art8 EMRK gewährleisteten Schutzes des Privat- und Familienlebens auseinanderzusetzen, die dabei angestellten Erwägungen lassen sich jedoch weitestgehend auf die durch Art5 des 7. ProtEMRK geschaffene Rechtslage übertragen. Sowohl nach der einen wie nach der anderen Grundrechtsbestimmung ist ein Grundrechtseingriff zulässig, wenn er zur Erreichung der jeweils angeführten Zwecke 'notwendig' ist. In dieser Hinsicht ist der Tatbestand 'im Interesse der Kinder notwendige(n) Maßnahmen' nur ein Unterfall des Tatbestandes 'zum Schutz der Rechte ... anderer notwendig'. Gerade mit Maßnahmen, die im Interesse der Kinder notwendig sind, hat sich der Verfassungsgerichtshof in d

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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