TE Vwgh Beschluss 2020/11/5 Ra 2020/21/0287

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Veröffentlicht am 05.11.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §21 Abs7 impl
B-VG Art133 Abs4
FrPolG 2005 §76 Abs2a
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z3
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z4
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z5
FrPolG 2005 §76 Abs3 Z9
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §24

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M F in W, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juni 2020, W283 2231912-1/11E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein marokkanischer Staatsangehöriger, stellte am 19. Jänner 2007 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Das Verfahren wurde im April 2008 rechtskräftig negativ beendet. Ein Folgeantrag vom 15. Oktober 2014 wurde im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2018 rechtskräftig wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig ergingen eine Rückkehrentscheidung und - im Hinblick auf insgesamt vier strafgerichtliche Verurteilungen - ein unbefristetes Einreiseverbot.

2        Während der Anhaltung in Strafhaft stellte der Revisionswerber am 24. Februar 2020 einen dritten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. März 2020 wurde die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ausgesprochene Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes bestätigt.

3        Mit Bescheid des BFA vom 4. Mai 2020 wurde über den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens über den Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet. Der Bescheid wurde im Anschluss an die Entlassung des Revisionswerbers aus der Strafhaft am 15. Mai 2020 in Vollzug gesetzt.

4        Mit Schriftsatz vom 10. Juni 2020 erhob der Revisionswerber Beschwerde gemäß § 22a BFA-VG gegen den Schubhaftbescheid vom 4. Mai 2020 und die Anhaltung in Schubhaft seit 15. Mai 2020. Er brachte vor, dass einerseits eine Abschiebung in absehbarer Zeit nicht realisierbar sein werde. Seine Nationalität und Identität seien zweifelsfrei geklärt, dennoch habe die marokkanische Vertretungsbehörde bisher kein Heimreisezertifikat ausgestellt. Zudem seien Überstellungen in das Ausland im Luftweg auf Grund fehlender Flugverbindungen faktisch unmöglich. Andererseits bezog er sich auf seinen schlechten Gesundheitszustand. Er benötige Medikamente und erhalte regelmäßig schmerzstillende Spritzen. Damit treffe ihn die Haft unverhältnismäßig hart und stärker als andere Häftlinge, zumal auf Grund der derzeitigen „COVID-19-Situation“ die Schubhaftdauer überhaupt nicht absehbar sei. Der Gesundheitszustand des Revisionswerbers mache auch ein Untertauchen bzw. eine Flucht sehr unwahrscheinlich. Es entspreche nicht der Lebenserfahrung, dass Personen mit gesundheitlichen Problemen im Bereich der Hüfte und der Beine ein hohes Fluchtpotential hätten. Selbst bei Bejahung einer Fluchtgefahr wäre aber mit einem gelinderen Mittel das Auslangen zu finden gewesen.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG statt, indem es den Schubhaftbescheid aufhob und feststellte, dass die Anhaltung in Schubhaft vom 15. Mai 2020 bis zum 19. Juni 2020 rechtswidrig gewesen sei (Spruchpunkt A.I.). Gemäß § 22a Abs. 3 iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG stellte das Bundesverwaltungsgericht allerdings fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Die Kostenersatzanträge des Revisionswerbers und des BFA wurden abgewiesen (Spruchpunkte A.III. und A.IV.).

6        Zur Begründung des positiven Fortsetzungsausspruchs führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass Fluchtgefahr im Sinn des § 76 Abs. 3 FPG vorliege. Gegen den Revisionswerber bestehe eine rechtskräftige, durchsetzbare Rückkehrentscheidung, und er sei während seiner ersten beiden Asylverfahren, wenn auch nur für kurze Zeiträume, untergetaucht, sodass der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG erfüllt sei. Auch § 76 Abs. 3 Z 4 FPG sei im Hinblick auf die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes erfüllt. Ebenso sei § 76 Abs. 3 Z 5 FPG erfüllt, weil zum Zeitpunkt der Stellung des letzten Antrags auf internationalen Schutz bereits eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung vorgelegen sei. Es sei auch keine Verankerung des Revisionswerbers im Bundesgebiet im Sinn des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG ersichtlich, die gegen das Bestehen von Fluchtgefahr sprechen würde. Der Revisionswerber habe im Inland keinerlei enge soziale, berufliche oder familiäre Anknüpfungspunkte und sei auch nicht selbsterhaltungsfähig.

7        Sowohl das Vorverhalten des Revisionswerbers als auch die vorzunehmende Verhaltensprognose ergäben in einer Einzelfallbeurteilung einen Sicherungsbedarf, da im Fall des Revisionswerbers ein beträchtliches Risiko des Untertauchens bestehe.

8        Die Schubhaft sei auch verhältnismäßig. Gemäß § 76 Abs. 2a FPG sei im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen. Der Revisionswerber weise „Strafen nach dem StGB und dem SMG“ auf, wobei sich der Zeitraum der strafbaren Handlungen von 2007 bis 2015 erstrecke. Er sei mehrfach wegen gewerbsmäßigen Suchtgifthandels verurteilt worden, außerdem wegen Diebstählen und Körperverletzungsdelikten. Auch durch einschlägige Vorverurteilungen habe er sich nicht von der weiteren Tatbegehung abhalten lassen. Allein aus diesen Erwägungen bestehe ein besonders hohes öffentliches Interesse an der baldigen Außerlandesbringung des Revisionswerbers.

9        Das Beschwerdevorbringen, wonach der Revisionswerber auf Grund seiner Probleme im Bereich der Hüfte bzw. Beine faktisch fluchtunfähig wäre, habe sich bereits auf Sachverhaltsebene nicht bestätigt: Der Revisionswerber sei am 3. Juni 2020 in einer Ambulanz eines Krankenhauses untersucht worden, und es sei ihm eine Schmerztherapie verordnet sowie die Durchführung von Wirbelsäulen-Heilgymnastik empfohlen worden. Daraus sei weder eine relevante Minderung der Fluchtgefahr abzuleiten, noch werde die Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblich beeinflusst.

10       Den Anträgen des Revisionswerbers in seiner Stellungnahme vom 18. Juni 2020 auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zum Beweis, dass er weiterhin an einer relevanten psychischen Störung leide, sowie auf Einholung eines amtsärztlichen und eines psychiatrischen Gutachtens sei nicht zu folgen gewesen. Die Feststellung, dass der Revisionswerber an einer Persönlichkeitsstörung leide, werde der Entscheidung ohnedies zugrunde gelegt. Sie gründe sich auf die Diagnose eines Facharztes für Psychiatrie vom 17. Juni 2020. Es stehe auch zweifelsfrei - ohne dass es dazu der Durchführung eines Verhandlung bedürfte - fest, dass die Schubhaft den Revisionswerber härter treffe als einen völlig gesunden Menschen.

11       Die Fortsetzung der Schubhaft sei jedoch angesichts seines Vorverhaltens auch unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands verhältnismäßig. In der Schubhaft habe er Zugang zu medizinischer und fachärztlicher Betreuung sowie zu Medikamenten.

12       Die Bemühungen des BFA, eine baldige Abschiebung nach Erlangung eines Heimreisezertifikats durchzuführen, seien auf Grund der aktenkundigen Verfahrensschritte deutlich hervorgekommen. Das Verfahren sei bei der marokkanischen Vertretungsbehörde anhängig, die Ausstellung eines Heimreisezertifikats sei vom BFA zuletzt am 15. Juni 2020 urgiert worden. Der Flugverkehr sei mittlerweile wieder aufgenommen worden, auch die zeitnahe Wiederaufnahme des Flugverkehrs nach Marokko sei damit wahrscheinlich.

13       Die Verhängung eines gelinderen Mittels komme weiterhin nicht in Betracht, weil der Revisionswerber schon in der Vergangenheit für die Behörde nicht greifbar gewesen sei. Auch habe er versucht, seine Anhaltung durch einen Hungerstreik zu beenden und seine Abschiebung durch einen unbegründeten Folgeantrag zu vereiteln.

14       Die beantragte mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG entfallen können, weil der Sachverhalt zu Spruchpunkt I. (Stattgabe der Beschwerde) im Rahmen des behördlichen Verfahrens hinreichend geklärt worden sei. Die Änderungen das gerichtliche Verfahren betreffend seien durch die vorliegenden medizinischen Unterlagen dokumentiert und würden der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt. Die Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers seien den Verfahrensparteien zur Kenntnis gebracht und nicht bestritten worden.

15       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

16       Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich (u.a.) wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG „nicht zur Behandlung eignen“, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

17       An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen dieser in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

18       Die - erkennbar nur gegen Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses gerichtete - Revision macht unter diesem Gesichtspunkt geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht von der beantragten mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen. Nur durch den persönlichen Eindruck in einer Verhandlung könne beurteilt werden, ob der Revisionswerber vertrauensunwürdig sei, sich einer Abschiebung wiedersetzen und einem behördlichen Verfahren durch Flucht entziehen werde. Auch die Klärung, ob und welche gelinderen Mittel in Betracht kämen, wäre Gegenstand einer mündlichen Verhandlung gewesen. Vom Revisionswerber gehe auch keine Gefahr mehr aus, sei doch seine letzte strafgerichtliche Verurteilung im November 2015 erfolgt. Die Aufrechterhaltung der Schubhaft sei auch deswegen rechtswidrig, weil bis dato kein Heimreisezertifikat ausgestellt worden sei und angesichts der COVID-19-Pademie vollkommen unklar sei, wann eine Abschiebung tatsächlich vollzogen werden könne. Die Aufrechterhaltung der nun schon fast vier Monate andauernden Schubhaft sei daher rechtswidrig.

19       Diesem Vorbringen ist entgegen zu halten, dass nicht in allen Fällen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks erforderlich ist, um die konkrete Fluchtgefahr - insbesondere im Hinblick auf eine mangelnde Vertrauenswürdigkeit des betreffenden Fremden - beurteilen zu können. Sie lässt sich vielmehr auch aus einem einschlägigen Vorverhalten ableiten (vgl. zu einem solchen Fall etwa VwGH 20.8.2020, Ra 2019/21/0397) - hier aus bereits früherem Untertauchen, der Folgeantragstellung, um einer Abschiebung zu entgehen, dem Hungerstreik und den fallbezogen ebenfalls eine Vertrauensunwürdigkeit indizierenden zahlreichen, durch mehrfache Rückfälle gekennzeichneten Straftaten. Diese Straftaten haben auch im Sinn des § 76 Abs. 2a FPG das öffentliche Interesse an einer baldigen Abschiebung verstärkt, wobei anzumerken ist, dass sich der Revisionswerber seit dem 28. September 2015 durchgehend in Haft befand, sodass sein strafrechtliches Wohlverhalten während dieses Zeitraums nicht zu einer günstigen Gefährdungsprognose führen konnte.

20       Angesichts des festgestellten Vorverhaltens und der fehlenden sozialen Verankerung in Österreich hat das Bundesverwaltungsgericht auch in jedenfalls vertretbarer Weise das Ausreichen eines gelinderen Mittels verneint, ohne dass es dafür der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedurft hätte.

21       Was die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft im Hinblick auf die Frage einer absehbaren Durchführbarkeit der Abschiebung betrifft, so war sie bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts am 19. Juni 2020 zu beurteilen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Schubhaft erst etwas mehr als einen Monat gedauert. Jedenfalls angesichts dieser kurzen Dauer war ihre Aufrechterhaltung, um die Erlangung eines Heimreisezertifikats weiter zu betreiben - dass das von vornherein aussichtslos wäre, behauptet auch der Revisionswerber nicht - und gegebenenfalls die Wiederaufnahme des Flugverkehrs mit Marokko abzuwarten, noch nicht unzulässig geworden.

22       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 5. November 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210287.L00

Im RIS seit

11.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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