TE OGH 2020/10/20 1Ob181/20d

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Veröffentlicht am 20.10.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj V***** H*****, geboren ***** 2012, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter S*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. Juli 2020, GZ 43 R 246/20z-487, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 14. Mai 2020, GZ 27 Ps 15/17v-454, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Der nunmehr achtjährige Sohn entstammt der Beziehung seiner unverheirateten Eltern. Er ist österreichischer und deutscher Staatsbürger und lebte von seiner Geburt bis Sommer 2018 in W*****. Die Eltern vereinbarten, dass ihnen die Obsorge gemeinsam zustehen solle, was pflegschaftsgerichtlich genehmigt wurde; eine Vereinbarung über die hauptsächliche Betreuung wurde nicht getroffen. Die Mutter übersiedelte mit dem Sohn Ende August/Anfang September 2018 – gegenüber dem Vater widerrechtlich – nach Deutschland, wo die beiden seither wohnen.

Das Erstgericht entzog dem Vater – dem Antrag der Mutter entsprechend – die Obsorge für den Sohn, sodass diese zukünftig der Mutter allein zustehe, regelte das Kontaktrecht des Vaters zu seinem Sohn und erteilte beiden Elternteilen bestimmte Auflagen.

Das Rekursgericht gab dem vom Vater erhobenen Rekurs dahin Folge, dass die Obsorge für den Sohn auch in Zukunft beiden Elternteilen gemeinsam zukomme, wobei die hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen im Haushalt der Mutter in Deutschland erfolge. Dem Vater wurde ein etwas erweitertes laufendes Kontaktrecht zu seinem Sohn eingeräumt und das Kontaktrecht in den Sommerferien teilweise abgeändert. Weiters wurde dem Vater eine – gegenüber dem erstinstanzlichen Beschluss – abgeänderte Auflage erteilt. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs infolge der (sehr speziellen) Aspekte einer Einzelfallentscheidung nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Mutter zeigt in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf:

1. Der Minderjährige hatte zum Zeitpunkt der Antragstellung vor dem Erstgericht seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Damit waren die österreichischen Gerichte nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO international zuständig. Das wird von der Mutter im außerordentlichen Revisionsrekurs auch nicht in Frage gestellt.

2. Bei einem im Inland gelegenen gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen ist gemäß Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO iVm Art 15 Abs 1 KSÜ österreichisches Recht anzuwenden (RIS-Justiz RS0127234 [T1]).

Strittig ist, ob Art 15 Abs 1 KSÜ auch dann anzuwenden ist, wenn die Zuständigkeit zwar nach der Brüssel IIa-VO – beispielsweise wie im vorliegenden Fall aufgrund der perpetuatio fori – gegeben ist, nicht mehr jedoch – aufgrund des Aufenthaltswechsels des Sohnes vor zwei Jahren während des laufenden Verfahrens – nach dem KSÜ (vgl Art 5 Abs 2 KSÜ). Die Frage, ob österreichische Gerichte auch bei einem Aufenthaltswechsel des Minderjährigen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten weiterhin gemäß Art 15 Abs 1 KSÜ österreichisches Sachrecht anzuwenden haben (so die herrschende Meinung: Huter in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 15 KSÜ Rz 26, 28; Dilger in Geimer/Schütze/Hau, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen II, Vor Art 8 ff EheVO Rn 17; Hilbig-Lugani in Rauscher, EuZPR/EulPR V4 [2016] Art 15 KSÜ Rn 3 ff; Dutta, Europäische Zuständigkeiten mit Kindeswohlvorbehalt, in FS Kropholler [2008] 281 [286 f]; Andrae, Zur Abgrenzung des räumlichen Anwendungsbereichs von EheVO, MSA, KSÜ und autonomem IZPR/IPR, IPrax 2006, 82 [87 f]; Traar, Bevorstehende Neuordnung des internationalen Kinderschutzes durch das KSÜ, iFamZ 2001, 97 f; Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht2 Rz 08.89) oder nicht (so Rauscher in Rauscher, EuZPR/EulPR IV4 [2015] Art 8 Brüssel IIa-VO Rn 25; Solomon, „Brüssel IIa“ – Die neuen europäischen Regeln zum internationalen Verfahrensrecht in Fragen der elterlichen Verantwortung, FamRZ 2004, 1409 [1416]; Kaller-Pröll in Fasching/Konecny2 Art 62 EuEheKindVO Rz 8; Nademleinsky, Haager Kinderschutzübereinkommen in Kraft, EF-Z 2011/56, 85 [88]), braucht nicht geklärt zu werden. Ginge man davon aus, dass Art 15 Abs 1 KSÜ nicht anzuwenden wäre, weil das Tatbestandsmerkmal der Ausübung der Zuständigkeit „nach Kapitel II“ [des KSÜ] nicht erfüllt ist, da sich die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte (nur) aus Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO ergibt, wären für die Bestimmung des anzuwendenden nationalen Sachrechts die Kollisionsnormen des Gerichtsstaats, somit jene des österreichischen IPRG, heranzuziehen. Sowohl nach Art 15 Abs 1 KSÜ als auch nach dem ansonsten anzuwendenden IPRG gelangt jedenfalls österreichisches Recht zur Anwendung, wovon (im Ergebnis) auch das Rekursgericht ausging:

Nach Art 15 Abs 1 KSÜ haben die Behörden der Vertragsstaaten ihr eigenes – hier also österreichisches – (materielles) Recht anzuwenden. Bei Anwendung österreichischen Kollisionsrechts wären sowohl die Wirkungen der Unehelichkeit des Kindes (§ 25 Abs 2 IPRG) als auch dessen Obsorge (§ 27 Abs 1 IPRG) nach dem Personalstatut des Kindes zu beurteilen (2 Ob 78/09y mwN). Gemäß § 9 Abs 1 Satz 1 IPRG richtet sich das Personalstatut einer natürlichen Person nach der Staatsangehörigkeit („Heimatrecht“). Besitzt ein Doppel- oder Mehrstaater auch die österreichische Staatsangehörigkeit, so ist nach § 9 Abs 1 Satz 2 IPRG allein diese maßgebend (2 Ob 211/11k mwN). Da der Sohn auch österreichischer Staatsangehöriger ist, wäre auch bei Anwendung des IPRG materiell österreichisches Recht anzuwenden.

Die nicht näher ausgeführte Argumentation der Mutter, dass nach Sinn und Zweck von Art 15 Abs 1 KSÜ das Recht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes und damit deutsches Recht angewendet werden solle, widerspricht dem Vertragstext und der Entstehungsgeschichte (instruktiv dazu insb Hilbig-Lugani aaO Rn 5). Auch mit dem lapidaren Hinweis auf die „Intention“ des Art 5 Abs 2 KSÜ vermag der Revisionsrekurswerber keine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen.

3. Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Eltern der Regelfall sein (RS0128811 [T1]). Dies setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit voraus, weil es bei der gemeinsamen Obsorge erforderlich ist, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen. Es ist daher vom Gericht eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (RS0128812). Diese Beurteilung kann nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen und begründet im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG (RS0128812 [T5, T15, T19]). Eine solche vermag die Revisionsrekurswerberin – die allein mit deutschem Recht argumentiert – auch nicht aufzuzeigen.

Bei der Beurteilung, ob zwischen den Eltern eine ausreichende Kommunikationsbasis für die Ausübung der gemeinsamen Obsorge besteht, kommt es nämlich in erster Linie auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch und nicht auf die Art der Nachrichtenübermittlung an (RS0128812 [T17, T21, T22]; RS0132055). Das Rekursgericht legte zugrunde, dass die Fähigkeit der Eltern zur Kommunikation grundsätzlich gegeben sei, die Kooperation vorwiegend aber an der Bereitschaft der Mutter scheitere (vgl RS0128812 [T11]). Die Eltern seien – zumindest in Teilfragen – durchaus zu einer einigermaßen vernünftigen und konstruktiven Kommunikation fähig (zB Änderung des Kontaktrechts im Sommer im Ausmaß von drei Wochen). In Zukunft sei eine verbesserte Kommunikation zwischen ihnen durchaus möglich, auch wenn sich die Mutter – nach dem Akteninhalt – an keine behördlichen oder gerichtlichen Vorgaben halte.

Diese Beurteilung ist nicht korrekturbedürftig, empfiehlt doch auch der beigezogene Sachverständige letztlich die gemeinsame Obsorge als „vermutlich die vernünftigere Variante“. Unter Zugrundelegung der getroffenen Kontaktrechtsregelung ist trotz der Entfernung der Wohnsitze die Beteiligung des Vaters an der Betreuung des Minderjährigen weiterhin gesichert. Die ursprünglich aufgrund des Umzugswunsches der Mutter nach Deutschland entstandene Eskalation der Beziehungssituation hat sich beruhigt und die Verlegung des Wohnsitzes des Sohnes nach Deutschland wurde zwischenzeitig mit Beschluss des Erstgerichts vorläufig gerichtlich genehmigt und vom Vater auch akzeptiert.

4. Grundsätzlich kann der (primär) zur Pflege und Erziehung berufene Elternteil, selbst wenn er finanziell dazu im Stande wäre, nicht verpflichtet werden, das Kind, das sich ständig im Ausland aufhält, dem anderen Elternteil
– allein um ihm den persönlichen Verkehr mit seinem Kind zu erleichtern oder zu ermöglichen – an einem bestimmten Ort (im Inland) zuzuführen; der Kontaktberechtigte hat vielmehr selbst das Kind von dessen ständigem Aufenthalt abzuholen und dorthin zurückzubringen (RS0048002). In der Rechtsprechung (7 Ob 285/04v; 3 Ob 84/11s; 3 Ob 159/19g; ähnlich 3 Ob 529/89) ist aber anerkannt, dass besondere Umstände Ausnahmen von diesem Grundsatz rechtfertigen können. Dabei sind nicht nur psychologische Aspekte bestimmend, sondern auch eine Reihe weiterer, vor allem wirtschaftlicher und organisatorischer Faktoren zu beachten, die eine Regelung praktikabel machen; zB bei weiten Entfernungen das Transportproblem und der mit den Fahrten verbundene Zeitaufwand und in diesem Zusammenhang auch finanzielle und berufliche Rücksichten (3 Ob 84/11s; RS0048002 [T7]). Ob solche besonderen Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine davon abweichende Kontaktrechtsgestaltung gerechtfertigt erscheinen lassen, ist eine Frage des Einzelfalls (3 Ob 84/11s = RS0048002 [T8]) und stellt mangels Vorliegens einer Fehlbeurteilung, die einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedürfte, keine erhebliche Rechtsfrage dar.

Die Mutter bestreitet nicht das Vorliegen der von ihr durch die Übersiedlung mitverursachten Ausgangslage, nämlich der beachtlichen Entfernung der Wohnorte. Sie erachtet es aber aufgrund ihrer Berufstätigkeit und der Fahrtkosten als unzumutbar, ein Mal in zwei Monaten einen Sonntag im Zug zu verbringen, um ihren Sohn in Wien vom Vater nach der Ausübung des Kontaktrechts abzuholen. Ein zweimonatiges Regelkontaktrecht in Deutschland sei in Verbindung mit dem Ferienkontaktrecht und den möglichen Videotelefonaten ausreichend. Die Einschätzung des Rekursgerichts, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände (Verlegung des Wohnsitzes nach Deutschland durch die Mutter; von den im Zeitraum von zwei Monaten insgesamt vier anfallenden „Kontaktfahrten“ habe die Mutter nur eine zu absolvieren; eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten des Vaters; positives Signal für ihren Sohn, die Mutter unterstütze den Kontakt zum Vater) sei es der Mutter zumutbar, jeden zweiten Monat an einem Sonntag nach Wien und wieder zurück zu reisen, um ihren Sohn abzuholen, ist nicht zu beanstanden. Zudem wäre ein Kontaktrecht im Ausmaß von nur einem Wochenende alle zwei Monate zwischen dem Vater und seinem achtjährigen Sohn für eine tragfähige Beziehung nicht ausreichend.

5. Soweit die Mutter erstmals im Revisionsrekurs die bereits vom Erstgericht angeordnete, sie betreffende Auflage bekämpft, ist sie darauf zu verweisen, dass eine in zweiter Instanz unterlassene Rechtsrüge – die Mutter erhob keinen Rekurs – in dritter Instanz auch im Außerstreitverfahren nicht nachgeholt werden kann (RS0043480). Dem Obersten Gerichtshof ist daher eine Auseinandersetzung mit den Rechtsausführungen zu Punkt 3.a) der erstinstanzlichen Entscheidung verwehrt.

6. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Textnummer

E130009

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00181.20D.1020.000

Im RIS seit

09.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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