TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/4 L519 2203543-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.03.2020
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Entscheidungsdatum

04.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L519 2203549-1/11E

L519 2203545-1/5E

L519 2203543-1/5E

L519 2203547-1/5E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella Zopf als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, 2. XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, 3. XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, 4. XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, sämtliche vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 18.07.2018, Zl.en 1089451004-152069956, 1089452208-152069972, 1089456305-152070024, 1174581005-171308625 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als „bP1“ bis „bP4“ bezeichnet), sind Staatsangehörige der Republik Irak. Sie stellten einen Antrag auf Familienverfahren vor der türkischen Botschaft und erhielten ein Visum zur Einreise nach Österreich. Die bP 1 brachte für sich und die mit ihr miteingereisten bP 2 und 3 am 29.12.2015 bei der belangten Behörde (in weiterer Folge „bB“) Anträge auf internationalen Schutz ein. Für die in Österreich geborene bP 4 wurde am 22.11.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz durch die bP 1 unter Vorlage der Geburtsurkunde gestellt.

Die weibliche bP1 ist die Mutter der minderjährigen bP 2-4.

I.2.1. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die bP 1 im Wesentlichen vor, dass sie sechs Monate in der Türkei verbracht habe, bis sie das Visum für Österreich erhalten habe. Sie sei nach Österreich zu ihrem hier subsidiär schutzberechtigten Ehegatten gereist.

I.2.2. bP1 – bP4 beriefen sich auf die Gründe des Ehegatten der bP 1 bzw. ihren Vater und auf den gemeinsamen Familienverband.

Vor der belangten Behörde brachte die bP 1 zum Fluchtgrund im Wesentlichen vor, dass ihr Mann im Irak bedroht worden sei und er deshalb ausgereist wäre. Dann hätten sie und die Kinder Drohungen erhalten. Sie seien von XXXX nach XXXX vertrieben worden. Sie sei dann zu ihrem Mann gereist, welcher sich wegen des Verdachtes der Schlepperei in Österreich in Haft befände.

I.2.3. Mit Schreiben vom 04.06.2018 wurde ausgeführt, dass im Irak generell und insbesondere bezüglich von Frauen hinsichtlich der Situation keine Verbesserung zu erkennen sei. Es wurde aus einigen Berichten zitiert.

I.2.4. Vorgelegt vor dem BFA wurde von den bP:

?        Geburtsurkunde bP 4

?        Reisepässe der bP 1-3 samt österreichischem Visum gültig vom XXXX .2015 bis XXXX 2016 und Einreisestempel mit XXXX 2015 vom Flughafen Wien Schwechat

?        Heiratsurkunde

?        Deutschzertifikat der bP 1, Niveau A2

?        Chatnachrichtenverlauf

?        Personalausweise und Staatsbürgerschaftsnachweise

?        UNHCR Refugee Certificate aus Syrien, ausgestellt 2009

I.3. Die Anträge der bP auf internationalen Schutz wurden folglich mit im Spruch genannten Bescheiden der bB gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 abgewiesen und der Status von Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gem. § 8 Abs 1 Z 1 AsylG wurde der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak nicht zugesprochen (Spruchpunkt II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurden nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen gewährt.

In Bezug auf sämtliche bP wurde ein im Spruch inhaltlich gleichlautender Bescheid erlassen und wurde gleichzeitig dem Ehegatten der bP 1 mit Bescheid vom selben Tag der subsidiäre Schutz aberkannt, weshalb sich aus dem Titel des Familienverfahrens gem. § 34 AsylG ebenfalls kein anderslautender Bescheid ergab.

I.3.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung erachtete die bB das Vorbringen der bP 1 in Bezug auf die Existenz einer aktuellen Gefahr einer Verfolgung als nicht glaubhaft und führte hierzu aus, dass sich die bP 1 auf die Ausreisegründe ihres Gatten und der damit angeblich im Zusammenhang stehenden Verfolgung durch Private gestützt habe. Es sei zwar glaubhaft gewesen, dass der Ehegatte gegen Bezahlung von Lösegeld freigekommen ist, dass jedoch aufgrund der damit in Zusammenhang stehenden Verhaftung des Entführers Interesse an der Familie bestehe, habe bereits der Ehegatte nicht glaubhaft machen können. Dies sei auch vom BVwG bestätigt worden. Die bP 1 habe aufgrund der behaupteten Probleme des Ehegatten den Irak verlassen und könne damit nicht angenommen werden, dass die bP in irgendeiner Weise von einer Verfolgung betroffen wäre. Zudem wäre den bP eine innerstaatliche Fluchtalternative in Bagdad und Basra möglich und würden viele Personen freiwillig nach Mosul zurückkehren. Es wäre den bP aber auch möglich, nach XXXX zurückzukehren, da die Provinz Salah ad-Din nunmehr Großteils von der irakischen Regierung und nicht mehr dem IS kontrolliert werde.

In Bezug auf die weitern bP wurde in sinngemäßer Weise argumentiert.

I.3.2. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak traf die belangte Behörde ausführliche und schlüssige Feststellungen.

I.3.3. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass weder ein unter Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GKF noch unter § 8 Abs. 1 AsylG zu subsumierender Sachverhalt hervorkam. Es hätten sich weiters keine Hinweise auf einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG ergeben und stelle die Rückkehrentscheidung auch keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar, weshalb Rückehrentscheidung und Abschiebung in Bezug auf den Irak zulässig sind.

I.4. Gegen die im Spruch genannten Bescheide wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass die bP 1 vor massiven Verfolgungshandlungen durch schiitische Milizen geflohen sei und ihr nunmehr eine Verfolgung aufgrund ihrer westlichen Lebenseinstellung drohe. Die bP 1 hätte selbst ein schlüssiges Vorbringen erstattet und eigene Befürchtungen geäußert. Es seien keine Ermittlungen zu den Befürchtungen der bP 1 hinsichtlich schiitischer Milizen getätigt worden und komme diese aufgrund der Verbindungen der Milizen mit dem irakischen Staat einer Verfolgung durch staatliche Behörden gleich. Zudem sei die Situation im Irak instabil und eine Abschiebung der bP 1 mit ihren Kindern unverantwortlich. Die Befürchtungen würden durch die Länderfeststellungen bestätigt. Insbesondere sie die geschlechtsspezifische Verfolgung der bP 1 nicht berücksichtigt worden und wurde hierzu aus den UNHCR Richtlinien zum Schutzbedarf irakischer Flüchtlinge zitiert.

I.5. Für den 02.10.2018 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien und den Ehegatten der bP 1 zu einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

Gemeinsam mit der Ladung wurde – in Ergänzung bzw. Wiederholung zu den bereits bei der belangten Behörde stattgefundenen Belehrungen - ua. hinsichtlich der Obliegenheit zur Mitwirkung im Verfahren manuduziert und wurden die bP aufgefordert, Bescheinigungsmittel vorzulegen.

Vorgelegt in der Verhandlung wurde von den bP:

?        Unterlagen zum Schulbesuch der bP 2 und 3

Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis des BVwG vom selben Tag mündlich verkündet.

Die Beschwerden wurden spruchgemäß als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

Die bP wurden iSd § 29 Abs. 2 a VwGVG über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 zu verlangen bzw. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt, belehrt.

Nach Verkündung der Erkenntnisse wurde den bP sowie deren rechtsfreundlicher Vertretung eine Ausfertigung der Niederschrift ausgefolgt.

Mit Schreiben vom 17.10.2018 wurde die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Erkenntnisse begehrt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

II.1.1. Die beschwerdeführenden Parteien

II.1.1.1. Bei den bP handelt es sich um irakische Staatsangehörige, welche sich zum sunnitischen Islam bekennen.

Die bP1 ist eine junge, gesunde, arbeitsfähige Frau mit bestehenden familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer –wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich- gesicherten Existenzgrundlage im Irak.

Die Pflege und Obsorge der minderjährigen bP ist durch deren Eltern gesichert.

Die bP 1 ist in XXXX , Provinz Salah ad-Din aufgewachsen, wo sie auch die Schule besuchte und unmittelbar vor ihrer Ausreise aus dem Irak in die Türkei lebte. Zwischenzeitlich hielt sie sich mit ihrem Ehegatten in Syrien auf. Die bP 1 – 3 reisten legal in Österreich ein, um zum Gatten der bP 1 und Vater der bP 2-4 zu gelangen ( XXXX ), welchem mit Bescheid der bB vom 10.02.2014 subsidiärer Schutz gewährt wurde. Mit Bescheid vom 18.07.2018 wurde dieser subsidäre Schutz aberkannt und eine Rückkehrentscheidung gegen den Gatten erlassen.

Familienangehörige (Cousin und Schwestern des Ehegatten der bP 1) leben nach wie vor im Irak. Onkel und Tanten des Ehegatten der bP 1 leben innerhalb der europäischen Union. Die Eltern der bP 1 und ein Bruder leben in der Türkei.

Die bP 1, 2 und 3 lebten vor der Ausreise aus dem Irak im Haus des Vaters des Ehegatten der bP 1.

II.1.1.2. Die von bP1 genannte Erkrankung (Erregungszustände wegen der Inhaftierung ihres Gatten, Verdacht auf Depression im Jahr 2018, Behandlung mit Beruhigungstropfen) ist im Irak behandelbar. Die bP 3 wird mit einem „Saft“ wegen „Blutarmut“ behandelt. Beides stellen lediglich leichte Erkrankungen dar und haben die bP auch Zugang zum irakischen Gesundheitssystem.

Die volljährigen bP haben Zugang zum irakischen Arbeitsmarkt und es steht ihnen frei, eine Beschäftigung bzw. zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen.

Darüber hinaus ist es den bP unbenommen, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen und sich im Falle der Bedürftigkeit an eine im Herkunftsstaat karitativ tätige Organisation zu wenden.

II.1.1.3. Die bP halten sich seit 3 Jahren bzw. die bP 4 seit ihrer Geburt in Österreich auf.

Die bP haben in Österreich Verwandte (Eltern und Geschwister), leben mit diesen aber nicht im gemeinsamen Haushalt. Sie möchten offensichtlich ihr künftiges Leben in Österreich gestalten. Sie leben von der Grundversorgung und hat die bP 1 den A2 Deutschkurs absolviert. Sie sind strafrechtlich unbescholten. Die bP 2 und 3 besuchen die Schule.

Die Identität der bP steht fest.

Bei der bP 1 und deren Ehegatten, welche im Rahmen des Familienverbandes abzuschieben sind, handelt es sich um mobile, junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen. Einerseits stammen sie aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehören die bP keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann. So war es den bP auch vor dem Verlassen ihres Herkunftsstaates möglich, dort ihr Leben zu meistern.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Irak

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak schließt sich das ho. Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen der belangten Behörde an.

Zum konkreten Vorbringen der bP stellte die belangte Behörde Folgendes fest (Gliederung und Umfang der Feststellungen nicht mit dem Original übereinstimmend):

1.       Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen

Weitere Entwicklungen im Anschluss an das Kurdenreferendum, weitere Rückeroberungen von IS-Gebiet und Update Sicherheitslage mit Fokus auf Bagdad (Abschnitte Sicherheitslage, politische Lage, Menschenrechtslage)

Am 29.10.2017 erklärte Mas‘ud Barzani seinen Rücktritt als Präsident der kurdischen Region. Er lehnte in einem Brief an das kurdische Parlament eine Verlängerung seines Mandats über den 1.11.17 hinaus ab (IFK 6.11.2017). Barzani bleibt Vorsitzender der KDP (Kurdistan Democratic Party) und somit weiterhin ein wichtiger politischer Akteur. Die weiter andauernde Lähmung des kurdischen Regionalparlamentes versetzt die beiden Parteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans) weiterhin in die Lage, politische Entscheidungen ohne die Einbeziehung der Partei Goran oder anderer Parteien zu treffen (CR 14.11.2017).

Nach der Offensive der irakischen Armee und der PMF (Popular Mobilization Forces) in die von den Kurden kontrollierten Gebiete, besteht derzeit ein Waffenstillstand, es herrscht jedoch weiterhin Unsicherheit, nicht nur bezüglich der weiteren Vorgehensweise der irakischen Regierung, sondern auch die wirtschaftliche Situation Kurdistans betreffend. Unterdessen gibt es neue Beweise dafür, dass im Zuge der Offensive in den vorwiegend kurdischen Gebieten Plünderungen, Brandstiftungen, Häuserzerstörungen und willkürliche Angriffe offenbar insbesondere von Seiten der PMF (auch von Seiten turkmenischer PMF-Milizen) stattfanden. Tausende haben dabei ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihre sonstigen Besitztümer verloren. (AI 24.10.2017; Bas 14.11.2017; HRW 20.10.2017).

Laut den Vereinten Nationen (VN) kam es im Zuge der Offensive der irakischen Regierung zur Vertreibung von zehntausenden Menschen aus den sogenannten „umstrittenen Gebieten“. 180.000 Menschen sind (mit Stand 18.11.2017) nach wie vor vertrieben, 172.000 sind zurückgekehrt. Die meisten dieser Vertriebenen sind Kurden, aber auch Mitglieder anderer Minderheiten, einschließlich sunnitischer Araber und Turkmenen. Die meisten Vertriebenen lebten in den Städten Kirkuk, Daquq (Provinz Kirkuk), sowie Tuz Khurmatu (Rudaw 18.11.2017). Aus Furcht vor Repressalien kehren sie derzeit nicht in ihre Heimatgebiete zurück (Reuters 9.11.2017).

Am Abend des 12.11.2017 fand in der Grenzregion zwischen Iran und Irak ein Erdbeben der Stärke 7,3 statt. Im Irak war dabei die an der Grenze zum Iran befindliche Stadt Halabja (im Autonomen Kurdengebiet) am stärksten betroffen. Acht Menschen starben im Irak, mehr als 500 wurden verletzt und hunderte Familien wurden obdachlos. Zumindest drei Gesundheitszentren wurden beschädigt. Verglichen mit dem Iran war der Irak deutlich geringer von dem Erdbeben betroffen (UNFPA 19.11.2017).

Im Zuge der Rückeroberungen von IS-Gebieten (IS: sogenannter Islamischer Staat) werden weiterhin Massengräber gefunden. Zuletzt wurde in der Nähe der Militärbasis al-Bakara etwa drei Kilometer vor der Stadt Hawija ein Grab mit mindestens 400 Toten (mutmaßlichen IS-Opfern) entdeckt (MOI 3.11.2017; Standard 11.11.2017). Umgekehrt treten weitere Berichte von Racheakten von Seiten der Befreier zutage, laut Nahostexpertin Gudrun Harrer scheint der Zyklus der Gewalt mit dem Sieg über den IS nicht unterbrochen (Harrer 24.11.2017). Mehr als 3,1 Millionen Iraker (die überwältigende Mehrheit Sunniten) sind weiterhin Vertriebene. Weitere 2,3 Millionen sind in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt. Für den Wiederaufbau ihrer Städte erhielten die Sunniten nicht viel Hilfe von der Zentralregierung, die sich mehr auf die Bekämpfung/Zurückdrängung des IS und zuletzt der Kurden konzentrieren (NYTimes 26.10.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser sinkende Trend setzt sich im Jahr 2017 fort (MRG 10.2017). Nach den von Joel Wing dokumentierten Vorfällen, wurden in den Monaten August, September und Oktober 2017 im Irak 2.988 Zivilisten getötet (MOI 9.-11.2017). Zu diesen Zahlen gelten die im Länderinformationsblatt Irak in Abschnitt 3.1 erwähnten Einschränkungen und Anmerkungen - kriminelle Gewalt wurde in dieser Statistik nur zum Teil berücksichtigt, Stammesgewalt gar nicht .

Beispielhaft wird im Folgenden eine Grafik angeführt, in der die von einer Sicherheitsfirma dokumentierten Vorfälle, die in Kalenderwoche 45 des Jahres 2017 stattgefunden haben, eingezeichnet sind. Die Grafik stellt jedoch nach Angaben der Quelle nicht das gesamte Ausmaß der Gewalt und der Vorfälle dar. Mehrere Vorfälle, bzw. umfangreiche und länger andauernde Gefechte werden jeweils als ein Vorfall zusammengefasst dargestellt. Darüber hinaus bleiben viele Vorfälle auf Grund von Einschränkungen durch die Regierung und Einschränkungen der Kommunikation undokumentiert:

Im kürzlich veröffentlichten Global Peace Index (GPI)-Bericht wurde der Irak als das „dritt-unfriedlichste“ Land der Welt eingestuft. Laut GPI-Bericht bleibt trotz der Zurückdrängung des IS die Stabilität und Sicherheit der Staaten Syrien und Irak weiterhin bedroht (K24 8.8.2017; vgl. Iraqinews 15.11.2017).

Bagdad:

Obwohl der IS Bagdad [kontrollgebietsmäßig] nie erreicht hat, verzeichnete die Hauptstadt laut Angaben der UN jeweils entweder die höchste oder die zweithöchste - nach der Provinz Ninewa - Anzahl an zivilen Todesopfern. Um ein Beispiel zu nennen: UNAMI berichtet, dass im Februar 2017 120 Zivilisten getötet und 300 verletzt wurden. In demselben Monat im Jahr 2016 war Bagdad der am stärksten betroffene Bezirk, UNAMI berichtete von 277 Todesopfern und 838 Verletzten. (Update: Für den Monat Oktober 2017 berichtet UNAMI 177 zivile Opfer (38 Tote, 139 Verletzte). Wichtig ist, anzumerken, dass diese Zahlen ausschließlich verifizierte Opfer inkludieren und als das absolute Minimum gesehen werden müssen [Anm.: Es gelten die in Abschnitt 3.1 des LIB Irak getätigten Aussagen und Anmerkungen]. Zum Beispiel beinhalten sie auch nicht jene Opfer, die in manchen Teilen der Stadt regelmäßig tot aufgefunden und geborgen werden (MRG 10.2017; UNAMI 1.11.2017). Nach wie vor kommt es in Bagdad täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit zivilen Opfern (Wing 9.-11.2017; vgl. IBC 28.2.2017). Laut Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes ist in Bagdad weiterhin mit schweren Anschlägen insbesondere auf irakische Sicherheitsinstitutionen und deren Angehörige, auf Ministerien, Hotels, öffentliche Plätze und religiöse Einrichtungen zu rechnen (AA 23.11.2017). Für die fragile Sicherheitssituation in der Hauptstadt gibt es zahlreiche Gründe. Abgesehen davon, dass es ein attraktives Ziel für Anschläge ist, beherbergten und beherbergen die Gebiete rund um Bagdad historisch entstandene Terrorzellen, u.a. von Al-Qaeda und dem IS. Dies ist insbesondere in der Nachbarprovinz Anbar im Westen, sowie im Bezirk Jurf al-Sakhar in der Provinz Babil der Fall. Dazu kommen die äußeren Bezirke Bagdads, dem sogenannten “Bagdad-Belt”, der aus spärlich besiedelten ländlichen Gegenden besteht, in denen sich bewaffnete Gruppen leicht verstecken können.

Die Acht-Millionenmetropole Bagdad hat eine höhere Kriminalitätsrate als jede andere Stadt des Landes. Hauptverantwortlich dafür ist der schwache staatliche Sicherheitsapparat sowie die schwache Exekutive. Seit dem Krieg gegen den IS verblieb in Bagdad aufgrund von Militäreinsätzen in anderen Teilen des Landes phasenweise nur eine geringe Zahl an Sicherheitspersonal. Da große Teile der Armee im Sommer 2014 abtrünnig wurden, sind zum Wiederaufbau der Armee mehrere Jahre nötig. Gleichzeitig erschienen bewaffnete Gruppen, vor allem Milizen mit Verbindungen zu den ‘Popular Mobilization Forces’ (PMF), auf der Bildfläche, mit divergierenden Einflüssen auf die Stabilität der Stadt. Der Zusammenbruch der Armee führte zusätzlich zu einem verstärkten Zugang und zu einer größeren Verfügbarkeit von Waffen und Munition. Dazu kommt die Korruption, die in allen Einrichtungen des Sicherheitsapparates und der Exekutive herrscht. Trotz dieser Probleme gibt es aktuell eine Verbesserung der Situation, die sich auch auf die Meinung der Bewohner über den irakischen Gesetzesvollstreckungsapparat auswirkt. Obwohl konfessionell bedingte Gewalt in Bagdad existiert, ist die Stadt nicht in gleichem Ausmaß in die Spirale der konfessionellen Gewalt des Bürgerkriegs der Jahre 2006-2007 geraten. Stattdessen kommt es zu einem Anstieg der Banden-bedingten Gewalt (Bandenkriege), die meist finanziell motiviert sind, in Kombination mit Rivalitäten zwischen Sicherheitskräften/-akteuren (MRG 10.2017).

Terrorattacken:

Terrorattacken werden meist mit verschiedenen Arten von IEDs (Improvised Explosive Devices) ausgeführt, inklusive am Körper getragene (‘body-born’ oder BBIEDs, in Fahrzeugen transportierte (‘vehicle-borne’ oder S/VBIEDs) und unter Fahrzeugen befestigte Sprengfallen (‘under-vehicle-borne’ oder UVBTs). Dabei handelt es sich um typische Taktiken des IS. Sie zielen dabei auf große Menschenansammlungen wie z.B. auf Märkten, in Einkaufszentren und Moscheen ab, wo der Kollateralschaden maximiert werden kann. Auch wenn diese Attacken alle Teile der Stadt treffen können, sind [ethno-religiös] gemischte Gebiete besonders gefährdet. Auch werden Kontrollpunkte regelmäßig angegriffen mit dem Ziel Sicherheitskräfte zu schwächen. Wegen des hohen Verkehrsaufkommens werden an den Kontrollpunkten selten sorgfältige Fahrzeugdurchsuchungen durchgeführt, weshalb das Problem schwer einzudämmen ist (MRG 10.2017).

Es sollte auch erwähnt werden, dass UVBTs besonders häufig verwendet werden, um Individuen zu attackieren. Diese Attentate können durch persönliche oder stammesbezogene Auseinandersetzungen motiviert sein, in spezifischen Fällen sind sie politisch motiviert.

Kidnappings und Entführungen:

Kidnappings und Entführungen kommen überall in Bagdad vor, unterscheiden sich aber in Häufigkeit und Art der Opfer. Man kann generell zwischen finanziell motivierten Entführungen und denen, die politisch oder persönlich motiviert sind, unterscheiden. Während erstere von kriminellen Gangs begangen werden, werden die politisch oder persönlich motivierten von bewaffneten Gruppen oder Individuen ausgeführt. Geschätzte 65-75 Prozent können als kriminelle Akte kategorisiert werden, während zwischen einem Viertel und einem Drittel als politisch oder als Folge von persönlichen Auseinandersetzungen gesehen werden können. Die zentralen und relativ wohlhabenden Bezirke Karkh und Rusafa zeigen die höchsten Zahlen an Kidnappings und sind für etwa die Hälfte der dokumentierten Fälle des gesamten Gouvernements verantwortlich (MRG 10.2017).

Obwohl die offiziellen Daten nicht veröffentlicht wurden zeigt eine Aufzeichnung des Innenministeriums, dass in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 in Bagdad zumindest 700 Kidnappings stattgefunden haben (MRG 10.2017).

Allerdings können sich diese in vielen Fällen überschneiden. Es wurde zum Beispiel berichtet, dass schiitische Milizen Kidnappings und Erpressungen als einkommensgenerierende Aktivitäten einsetzen. Während es sich dabei um einen kriminellen Akt handelt, kann zusätzlich auch ein politisches oder religiöses Motiv dahinter stehen. Milizen haben z.B. Mitglieder anderer Gruppen entführt und verschleppt. Opfer der von den Gruppen durchgeführten Kidnappings sind tendentiell eher Sunniten als Schiiten. Es ist auch häufig, dass Milizen Kidnappings in Gegenden, die nicht unter ihrer eigenen Kontrolle stehen, ausführen, etwa um ihre Reputation in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht aufs Spiel zu setzen (MRG 10.2017).

Da es zu Protesten in der Bevölkerung kam, und zu Forderungen an den Staat, Maßnahmen zu ergreifen, wurde in den letzten zwei Jahren das Thema Kidnappings in der Öffentlichkeit diskutiert. Immer wieder kam es zu Wellen von Entführungen, die gegen bestimmte Professionen und Gruppen der Gesellschaft gerichtet waren. Anfang 2017 tauchten Berichte auf, dass Sicherheitskräfte eine kriminelle Gruppe zu identifizieren suchten, die auf die Entführung von Kindern in der Gegend um Bagdad al-Jadida spezialisiert war. Im August 2017 veröffentlichte Niqash einen Artikel über eine vor Kurzem vorgefallene Serie an Kidnappings, die gegen Ärzte und medizinisches Personal gerichtet waren. Diese wurden von kriminellen Banden durchgeführt, aber auch von Stämmen, die Wiedergutmachung für Verwandte forderten, die nicht behandelt werden konnten oder die im Spital verstorben waren. Im Mai 2017 wurde eine Gruppe von Studenten und Anti-Korruptions-Aktivisten gekidnappt, angeblich von einer Miliz. Dennoch war einer der meist diskutierten Fällen die Entführung von Afrah Shawqi, einem Journalisten, der nur wenige Tage davor einen Artikel im Al-Sharq al-Awsat über die Straffreiheit von schiitischen Milizen im Irak veröffentlicht hatte. In beiden Fällen wurden die Opfer freigelassen, nachdem großer öffentlicher Druck auf den Premierminister selbst, sowie auf das Innenministerium ausgeübt worden war. Regierungsbeamte und andere politische Führungskräfte wurden ebenso ins Visier genommen wie z.B. bei jenem Fall eines hohen Beamten des Justizministeriums, der im September 2015 gekidnappt wurde, oder jenem Fall eines sunnitischen Stammesführers, dessen Entführung und Ermordung Anlass zu einer Kampagne von Amnesty International wurde (MRG 10.2017).

All diese Fälle haben Regierung und Sicherheitsdienste gezwungen, sich aktiver diesem Problem zu widmen. In vergangenen Jahren, sowie auch in den Jahren 2006-2007, war die Exekutive beinahe gänzlich außerstande, mit dieser Art der Gewalt umzugehen. Heute spricht Premierminister Abadi, der sich manchmal persönlich in Fälle involviert, lautstark über die Bedenken der Bevölkerung, und unternimmt Schritte, um die Kapazitäten der Gesetzesvollstreckung auszuweiten. Dennoch werden Milizen in erfolgreichen Fällen - wenn es Sicherheitskräften gelingt, Banden zur Anklage bringen - selten erwähnt. Es ist praktisch unmöglich einzuschätzen, wie oft die von den Sicherheitskräften Verhaftungen Mitglieder von Milizen einschließen, da Fälle von Kidnappings mit Lösegeldforderungen einfach als kriminelle Akte kategorisiert werden. Dies kann nur durch anekdotische Hinweise und durch Zeugenaussagen belegt werden. Allerdings besteht das Problem, dass die Opfer oft selber nicht wissen woher die Bedrohung kommt oder wer der Empfänger des geforderten Lösegeldes ist (MRG 10.2017).

Schießereien mit Handfeuerwaffen:

Was die Verwendung von Handfeuerwaffen betrifft, können generelle Muster zwischen dem zentralen Gebiet und der Peripherie der Provinz Bagdad unterschieden werden. Morde und Anschläge auf Zivilisten sind innerhalb der Stadt Bagdad weiter verbreitet, die Bezirke Karkh, Rusafa und Adhamiya sind diesbezüglich überrepräsentiert. Diese Anschläge richten sich z.B. gegen Geschäftsbesitzer, Anwälte sowie Angestellte der Regierung. Schießereien kommen auch in Verbindung mit Raubüberfällen vor. Zusätzlich stehen viele Tötungen in Verbindung mit Kidnappings, bei denen das Lösegeld nicht gezahlt wurde.

Im Gegensatz dazu sind Vorfälle mit Handfeuerwaffen im ‘Bagdad Belt’ üblicherweise gegen Sicherheitsdienste wie die Iraqi Security Forces (ISF) und Mitglieder von sunnitischen und schiitischen Milizen gerichtet, und finden meistens bei Kontrollpunkten statt. Dies kann man in Abu Ghraib, Mahmudiya und Tarmiya beobachten. Diese Gebiete verzeichnen auch eine große Anzahl an Schießereien in Verbindung mit stammesbezogenen Auseinandersetzungen (MRG 10.2017).

Konfessionalismus und Diskriminierung:

Konfessionalismus und Diskriminierung sind weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen in Bagdad, wenn sie auch nicht dasselbe Ausmaß an Gewalt erreicht haben, der während des konfessionellen Krieges in den Jahren 2006-2007 dokumentiert wurde. Dies anzumerken, ist von wichtig, weil von vielen angenommen wurde, dass durch das Ausbreiten des IS ab 2014 frühere Muster an Gewalt nach Bagdad zurückkehren würde. Das hat er auch, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Wie diverse Menschenrechtsberichte gezeigt haben, fachen Terrorattacken des IS in Bagdad viele Arten an Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Zivilisten an, die vorwiegend von schiitischen Milizen begangen werden. Diese beinhalten Kidnappings, Ermordungen sowie ungesetzlichen Freiheitsentzug. Dennoch ist der offensichtlichere Konfessionalismus - bei dem sunnitische Bewohner Kontrollpunkte nicht passieren konnten ohne namentlich aufgerufen zu werden und manchmal schikaniert oder festgenommen wurden - heute relativ selten. Dies trifft allerdings nicht auf sunnitische Internvertriebene (IDPs) zu, die in der Provinz Bagdad regelmäßig diskriminiert werden. Nachdem der IS in großen Teilen von Anbar und Salah al-Din die Macht ergriffen hatte, flohen Tausende nach Bagdad. In vielen Fällen war es ihnen von vorne herein nie gestattet, in die Provinz einzureisen. Die, die es dennoch geschafft haben, berichten von extrem eingeschränkter Reisefreiheit (da Personalausweise aufzeigen in welchem Gouvernement sie ausgestellt wurden), von Schwierigkeiten, als Gebietsfremde des Gouvernements an wesentliche Dokumente zu gelangen, sowie von Schikanen aufgrund des Pauschalverdachts der IS-Zugehörigkeit. Für Internvertriebene besteht, aufgrund fehlender Netzwerke für persönliche Unterstützung, auch ein größeres Risiko, entführt zu werden.

Eine weitere Seite des Konfessionalismus sind Verhaftungen, oft willkürlich, welche meist in Verbindung mit einer Anklage wegen Terrorismus nach Artikel 4 vollzogen werden und beinahe ohne Ausnahme Sunniten betreffen. Diese Festnahmen sind nach Terroranschlägen häufig, wenn Sicherheitsdienste Durchsuchungsaktionen durchführen, um Mitglieder oder Unterstützer des IS ausfindig zu machen (MRG 10.2017).

Kleinere Gemeinschaften, inklusive Minderheiten und solche, die sich ineiner Minderheitssituation wiederfinden, stehen unter signifikantem Risiko. Die Anzahl an Christen in Bagdad nimmt unter dieser Bedrohungssituation weiterhin ab, wenn auch kleine christliche Gemeinden in gemischten Bezirken bestehen bleiben; so auch in Karkh und in Karrada und Palästina. Faili-Kurden (schiitische Kurden), einschließlich jener, die in Sadirya und im südlichen Teil Bagdads leben, haben unter Bombenangriffen gelitten und berichten von erhöhten Spannungen, die in Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stehen. Palästinenser, die vorwiegend in al-Baladiyat leben, sind diesen gezielten Attacken ebenso ausgesetzt und bleiben weiterhin besonders gefährdet (MRG 10.2017).

Sicherheitskräfte in der Provinz Bagdad:

Irakische Sicherheitskräfte (ISF):

Die ISF werden in Bagdad vom ‘Baghdad Operations Command’ (BOC) repräsentiert, Geheimdienste und irakische Polizeieinheiten, die im Bagdad Gouvernement agieren, sind dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der BOC besteht aus mehreren Brigaden, die der 6., 11. und 17. Abteilung der irakischen Armee angehören, sowie aus spezialisierten Militär- und Polizei-Einheiten, inklusive Bereitschaftspolizei und Schutzeinheiten für Diplomaten. Die irakische Armee ist gemeinsam mit staatlichen und lokalen Polizeieinheiten für die Sicherheit verantwortlich. Zusätzlich zu regulären Sicherheitsfunktionen, sind die ISF gemeinsam mit Einheiten, die in Verbindung zum Innenministerium stehen, für die Überprüfung von Internvertriebenen und Rückkehrern und damit in Zusammenhang stehende Regulierungen zuständig (MRG 10.2017).

Polizeikräfte werden oft als Erweiterung der Badr-Partei gesehen. Darüber hinaus wird das Polizeikorps, abgesehen von Teilen der Staatspolizei, als schwer korrupt erachtet. In wenigen Ausnahmen sind Offiziere der Staatspolizei ehemalige Offiziere der Armee und werden als weniger korrupt und konfessionalistisch gesehen. Die meisten sind allerdings durch politische Einflussnahme und Vereinbarungen verschiedener Parteien an ihre Position gelangt (MRG 10.2017).

Im Allgemeinen vertraut die Bevölkerung eher der Armee als der Polizei. Die Mehrheit der Bewohner Bagdads, die in einer Umfrage einer NGO befragt wurden, ob sie in einer Notsituation die Polizei kontaktieren würden, sagten sie würden erst versuchen, das Problem selbst zu beheben. Knapp unter 50 Prozent meinten, sie würden der Polizei unter keinen Umständen Bericht erstatten. Im Vergleich dazu: über 70 Prozent derer, die in Gebieten leben, in denen die Armee für die Sicherheit verantwortlich ist, gaben an, sie würden, wenn nötig, ihre lokalen Sicherheitskräfte kontaktieren. In derselben Umfrage wurden Bewohner gefragt, ob sie jemals Bestechungsgeld gezahlt hätten, um Unterstützung von offiziellen Sicherheitskräften zu erhalten, was 30 Prozent der Befragten bejahten. Zuletzt wurden Bewohner gefragt ob sich die Sicherheits-Situation in Bagdad verbessern oder verschlechtern würde, worauf beinahe 70 Prozent antworteten, das sie sich verbessere (MRG 10.2017).

Islamischer Staat (IS):

Der IS konnte Mitte 2014 Gebiete im Provinz Bagdad nicht unter seine Kontrolle bringen. Allerdings hat sich IS-Aktivität mehrmals vom angrenzenden Provinz Anbar in den westlichen Bezirk Abu Ghraib ausgeweitet. Teile des ‘Bagdad-Belt’ sind historisch gesehen Unterstützungsgebiete des IS, welche IS-Attacken in zentraler gelegenen Gebieten Bagdads ermöglichen (MRG 10.2017).

In der Provinz Bagdad beschränken sich die Aktivitäten des IS vor allem auf „unkonventionelle Attacken“ gegen Zivilisten und hochrangige Opfer - in erster Linie durch die Verwendung von IEDs (MRG 10.2017).

Popular Mobilization Forces (PMF):

[Erläuterungen zu den PMF siehe auch Länderinformationsblatt Irak Abschnitt 3.2.2]

Während die PMF generell auf Schlachtfeldern quer durch das Land eingesetzt wurden, bewahren einige eine signifikante Präsenz in Bagdad. Die älteren und größeren [überwiegend schiitischen] Milizen sind jene, die vorwiegend als aktive Gruppen einen Teil der Sicherheitskräfte der Stadt repräsentieren. […] Sunnitische Milizen kommen in der Stadt Bagdad nicht vor, aber sehr wohl in manchen Teilen des ‘Bagdad-Belt’, besonders in den Bezirken, die an Anbar und das Gouvernement Salah al-Din grenzen, inklusive Taji, Tarmiya und Abu Ghraib. Auf lokaler Ebene agieren PMF-Einheiten parallel und oft im Konflikt mit den ISF. Bewaffnete Konflikte zwischen ISF und PMUs, wenn auch selten, wurden im Gouvernement Bagdad beobachtet. Während die PMF weitläufig von der schiitischen Bevölkerung unterstützt werden, wurden sie beschuldigt, Menschenrechtsverletzungen gegen sunnitische Zivilisten in Gebieten begangen zu haben, die vom IS zurückerobert wurden, - wie von diversen Organisationen wie z.B. Human Rights Watch, Amnesty International und Minority Rights Group dokumentiert wurde. Berichterstattung dieser Art tendiert dazu, sich auf die Gouvernements zu konzentrieren, in denen in den letzten zwei Jahren Militäreinsätze stattgefunden haben - wie in etwa in Anbar, Ninewa und Salah al-Din - sowie auf Gebiete, in denen außer Frage steht, dass Milizen ungestraft agierten. Aufgrund dessen werden Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Gouvernements Bagdad nicht so eingehend verfolgt (MRG 10.2017).

Im Folgenden werden einige Beispiele der wichtigsten PMF-Milizen aufgezählt, die in Bagdad operieren: Badr-Organisation, Asaib Ahl al-Haq, Saraya al-Salam, Saraya al-Khorasani, Kataib Hizbullah (MRG 10.2017). Anm.: Die Milizen sind in Abschnitt 3.2.2 des LIB näher beschrieben.

Quellen:

-        AA-Auswärtiges Amt (23.11.2017): Irak: Reisewarnungen, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738#content_1, Zugriff 23.11.2017

-        AI- Amnesty International (24.10.2017): Titel? https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/10/iraq-fresh-evidence-that-tens-of-thousands-forced-to-flee-tuz-khurmatu-amid-indiscriminate-attacks-lootings-and-arson/, Zugriff 22.11.2017

-        Bas - Basnews (14.11.2017): Over 1,500 Civilian Properties Damaged by Hashd al-Shaabi in Tuz KhurmatuFeatured, http://www.basnews.com/index.php/en/news/kurdistan/392677, Zugriff 22.11.2017

-        BBC (3.11.2017): Islamic State and the crisis in Iraq and Syria in maps, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-27838034, Zugriff 22.11.2017

-        BI – Business Insider (13.11.2017): Two suicide attacks in Iraq's Kirkuk kill at least five, http://www.businessinsider.de/us-marines-isis-iraq-2017-11?r=US&IR=T, Zugriff 22.11.2017

-        CR - Control Risks (14.11.2017): Iraq Weekly, per Email am 16.11.2017

-        Der Standard (11.11.2017): Massengräber mit mindestens 400 Opfern des IS im Irak entdeckt http://derstandard.at/2000067646336/Massengraeber-mit-mindestens-400-Opfern-des-IS-im-Irak-entdeckt, Zugriff 22.11.2017

-        Harrer, Gudrun in der Standard (24.11.2017): "Islamischer Staat": Der Zyklus der Gewalt ist nicht gebrochen - derstandard.at/2000068367290/Islamischer-Staat-Der-Zyklus-der-Gewalt-ist-nicht-gebrochen , http://derstandard.at/2000068367290/Islamischer-Staat-Der-Zyklus-der-Gewalt-ist-nicht-gebrochen, Zugriff 24.11.2017

-        HRW – Human Rights Watch (20.10.2017): Iraq: Fighting in Disputed Territories Kills Civilians, https://www.hrw.org/news/2017/10/20/iraq-fighting-disputed-territories-kills-civilians, Zugriff 22.11.2017

-        IBC – Iraq Body Count (23.11.2017): Documented civilian deaths from violence, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 23.11.2017

-        IBC – Iraq Body Count (28.2.2017): Incidents, https://www.iraqbodycount.org/database/incidents/page1, Zugriff 23.11.2017

-        IFK – Institut für Friedens- und Konfliktforschung des Österreichisches Bundesheeres (6.11.2017): Briefing Notes 6.11.2017, per Email am 6.11.2017

-        Iraqinews (15.11.2017): Terrorism index: Iraq two slots away from world’s least peaceful country, https://www.iraqinews.com/features/terrorism-index-iraq-two-slots-away-worlds-least-peaceful-country/, Zugriff 23.11.2017

-        K24 – Kurdistan 24 (8.8.2017): Iraq ranks third least peaceful country in the world: Report, http://www.kurdistan24.net/en/news/a5f19b70-94f2-4744-b300-6632c34e3659, Zugriff 23.11.2017

-        Liveuamap (17.11.2017): 17. November 2017, http://isis.liveuamap.com/ , Zugriff 22.11.2017

-        MEE – Middle East Eye (16.11.2017): The hunt for rogue IS fighters in Iraq's vast desert, http://www.middleeasteye.net/news/nowhere-left-run-rogue-fighters-ambush-iraqi-forces-hunting-them-down-1394927173, Zugriff 22.11.2017

-        MOI – Musings on Iraq (3.11.2017): 1,093 Killed 721 Wounded In Iraq In October 2017 , http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/11/1093-killed-721-wounded-in-iraq-in.html , Zugriff 22.11.2017

-        MRG – Minority Rights Group - Ceasefire Center for Civilian Rights (10.2017): Security Situation and sectarian tensions in the city of Baghdad, per Email am 12.9.2017

-        NYTimes – New York Times (26.10.2017): As ISIS Is Driven From Iraq, Sunnis Remain Alienated, https://www.nytimes.com/2017/10/26/world/middleeast/iraq-isis-sunni.html, Zugriff 24.11.2017

-        Reuters (5.11.2017): Two suicide attacks in Iraq's Kirkuk kill at least five, https://uk.reuters.com/article/uk-mideast-crisis-iraq-kirkuk/two-suicide-attacks-in-iraqs-kirkuk-kill-at-least-five-idUKKBN1D50MQ, Zugriff 22.11.2017

-        Reuters (9.11.2017): Kurds displaced by Iraq advance fear reprisals if they return, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-displaced/kurds-displaced-by-iraq-advance-fear-reprisals-if-they-return-idUSKBN1D91XL, Zugriff 22.11.2017

-        Rudaw (18.11.2017): UN: Over 181k people from Kirkuk, Tuz Khurmatu still displaced , http://www.rudaw.net/english/kurdistan/181120171, Zugriff 22.11.2017

-        Telegraph (17.11.2017): Iraqi forces captures last Isil-held town in Iraq, http://www.telegraph.co.uk/news/2017/11/17/iraqi-forces-captures-last-isil-held-town-iraq/, Zugriff 22.11.2017

-        UNAMI (1.11.2017): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of October 2017, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8132:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-october-2017&Itemid=633&lang=en, Zugriff 23.11.2017

-        UNFPA - United Nations Population Fund 19.11.2017, Titel?, https://reliefweb.int/report/iraq/unfpa-scales-response-after-earthquake-hit-iraq-enar, Zugriff 22.11.2017

-        MOI - Musings on Iraq (9.-11.2017): 1,093 Killed 721 Wounded In Iraq In October 2017; 728 Dead And 549 Wounded In September 2017 In Iraq; 1,958 Killed and 1,261 Wounded In Iraq In August 2017, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/09/1958-killed-and-1261-wounded-in-iraq-in.html, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/10/728-dead-and-549-wounded-in-september.html, http://musingsoniraq.blogspot.co.at/2017/11/1093-killed-721-wounded-in-iraq-in.html, Zugriff 23.11.2017

KI vom 25.10.2017: Kämpfe zwischen Peschmerga und Regierungskräften in Folge des Referendums, weitere Informationen zur Sicherheitslage

Relevant für die Abschnitte Politische Lage, Sicherheitslage und Menschenrechtslage

Irakische Regierungskräfte haben als Reaktion auf das Kurdenreferendum beinahe alle Gebiete eingenommen, die zu den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ zählen, einschließlich Kirkuk und die dort befindlichen Ölquellen. Auch die jesidische Stadt Sinjar werde Berichten zufolge nun von Popular Mobilization Forces (PMF) kontrolliert (NYTimes 22.10.2017; Rudaw 17.10.2017). Unter anderem kam es dabei am 20. Oktober 2017 zu schweren Gefechten zwischen irakischen Truppen und kurdischen Peschmerga-Kämpfern. Iraks gemeinsames Operationskommando teilte am Freitag mit, Kräfte von Armee, Polizei und schiitischen Milizen hätten den Ort Altun Kopri/Pirde in der umstrittenen Provinz Kirkuk eingenommen. Nach offiziellen kurdischen Angaben kamen bei den Gefechten etwa 30 Peschmerga-Kämpfer ums Leben. Auch die arabischen Kämpfer der Regierungskräfte sollen hohe Verluste gehabt haben. Von ihrer Seite hieß es, die Kurden hätten das von Deutschland für den Kampf gegen den IS gelieferte MIlan-Panzerabwehrsystem eingesetzt. Die Kurden ihrerseits beklagen, dass sie mit US-Waffen bekämpft werden. Es gab zwar vereinzelt Gefechte, meist zogen sich die Peschmerga zurück (Standard 20.10.2017). Die Anti-IS-Koalition zerfällt nicht nur entlang ethnischer Linien, sondern auch die innere Spaltung der irakischen Kurden tritt wieder stärker zutage. Die irakischen Kurden sind in sich tief gespalten. Die von Barzani geführte KDP (Kurdistan Democratic Party) beschuldigt ihren innerkurdischen Hauptrivalen PUK (Patriotic Union of Kurdistan), schuld am Verlust der Stadt Kirkuk zu sein, da diese mit der Zentralregierung in Bagdad einen Deal abgeschlossen und einige ihrer Peschmerga-Einheiten angewiesen habe, sich von ihren Positionen zurückzuziehen. Die beiden kurdischen Parteien haben unterschiedliche Interessen: Der Barzani-Clan (KDP) strebt die Unabhängigkeit von Bagdad an, der Talabani-Clan (PUK) eher die Unabhängigkeit vom Barzani-Clan - durchaus auch im Einvernehmen mit Bagdad. Ein Deal zwischen Bagdad und den Talabanis über einen kurdischen Rückzug aus Kirkuk war die Konsequenz dieser Konstellation. Verlierer sind indes beide kurdischen Parteien. Im Hintergrund stehen radikalere Fraktionen wie die PKK (Kurdische Arbeiterpartei) oder die Salafisten bereit, um das kurdische Vakuum im Irak zu füllen (TDB 16.10.2017; Presse 18.10.2017).

Die VN (Vereinten Nationen) drängen die irakische Regierung, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass alle Zivilisten geschützt sind und dass jene, die die Zivilbevölkerung bedrohen, zwangsvertreiben, oder dieser gegenüber Gewaltverbrechen begehen, gestoppt werden (Rudaw 20.10.2017). Es liegen Berichte vor, denen zufolge in der Stadt Tuz Khurmatu 150 kurdische Häuser (laut Amnesty International „hunderte Häuser“) von (auch mit der Regierung verbündeten) bewaffneten Gruppen niedergebrannt wurden. Nachdem sich die Peschmerga-Kämpfer aus diesen Gebieten zurückgezogen hatten, gelangte die Stadt unter die Kontrolle von schiitisch-turkmenischen Kämpfern, die den PMF angehören. Laut VN sind mit Stand 22.10.2017 mehr als 30.000 Zivilisten aus Tuz Khurmatu geflohen. Bei Zusammenstößen zwischen Regierungskräften (einschließlich PMF-Milizen) und den kurdischen Peschmerga in Tuz Khurmatu wurden zumindest 11 Zivilisten getötet. Es schien sich dabei um einen gezielten Angriff auf überwiegend kurdische Gebiete zu handeln. Insgesamt sind laut VN 100.000 Zivilisten aus den umstrittenen Gebieten geflohen, einschließlich Zehntausender aus der Stadt Kirkuk, einige davon sind danach wieder zurückgekehrt. Den meisten jener, die geflohen sind, wird nachgesagt, dass sie Anhänger Mas‘ud Barzani’s seien (NYTimes 22.10.2017; AI 24.10.2017). Für den 24.10.2017 wurde ein Vorfall dokumentiert, bei dem die irakische Armee und PMF-Milizen auch einen Peschmerga-Checkpoint östlich des von den Kurden gehaltenen Dorfs Mahmud angriffen, nach schweren Gefechten scheiterten und sich ergaben, wobei zumindest 15 Menschen starben (NA 24.10.2017).

Die USA drängen darauf, dass die Regierung von Premierminister Haidar al-Abadi die Offensive stoppt, denn es scheint längst nicht mehr nur um Gebiete zu gehen, auf die die Kurden ihre Verwaltung 2014, als die irakische Armee vor dem IS floh, ausgedehnt hatten. Die Einheiten der PMF würden die Kurden gerne noch weiter zurückdrängen. US-Außenminister Rex Tillerson fordert die „iranischen Milizen“ auf, das Land zu verlassen. Von einer Auflösung der Milizen ist der Irak aber weit entfernt. Umgekehrt fordert der mächtige Anführer der PMF-Miliz Asaib Ahl al-Haq, dass die Amerikaner unverzüglich abziehen sollten (Harrer 24.10.2017).

In Anbetracht der militärischen Gewalt von Seiten der irakischen Armee und der PMF boten kurdische politische Führer am 25.10.2017 an, die Unabhängigkeitsbestrebungen auszusetzen. Ein Sprecher des irakischen Militärs antwortete zunächst, dass die Offensive dennoch weitergeführt werde, eine Reaktion des Premierministers steht noch aus (Reuters 25.10.2017).

Die Organisation IS („Islamischer Staat“) wurde zwar massiv zurückgedrängt (s. Länderinformationsblatt inkl. bisherige Kurzinformationen), befindet sich aber weiterhin in Teilen der Provinzen Ninewa, Salah Al-Din und Anbar. Es muss dort weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und den irakischen Sicherheitskräften, regional-kurdischen Peschmerga, Milizen und auch mit US-Luftschlägen gerechnet werden. In der Provinz Ta’mim kommt es regelmäßig zu Kämpfen zwischen terroristischen Gruppen und kurdischen Peschmerga (AA 24.10.2017). Veröffentlichungen von Audiobotschaften des IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zielen darauf ab, die Gerüchte rund um seinen Tod zu entkräften und die IS-Kämpfer in Syrien und Irak zur Standhaftigkeit aufzurufen. In Mosul etwa wurde der IS zwar vor drei Monaten besiegt, die Organisation stellt dort jedoch noch immer eine Bedrohung dar. Alleine im Zeitraum 19.9.2017 bis 13.10.2017 wurden dort zwölf Selbstmordattentäter getötet. In der Provinz Anbar versuchte der IS Ende September 2017 die Kontrolle über Teile der Stadt Ramadi wiederzuerlangen. Kurzzeitig konnten einige IS-Truppen tatsächlich Teile der Stadt besetzen, letztlich scheiterte der Versuch jedoch. Anbar war stets eine Hochburg von sunnitischen Aufständischen (IFK 13.10.2017).

Neben den militärischen Maßnahmen fasste die Zentralregierung in Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum eine Reihe weiterer Maßnahmen, darunter: Die Sanktionierung kurdischer Banken, das Einfrieren von Fremdwährungstransfers, sowie das Einstellen von Flugverbindungen und mobilen Kommunikationsnetzen (IFK 13.10.2017).

Der für den 1. November 2017 festgelegte Wahltermin für Präsidial- und Parlamentswahlen in Irakisch Kurdistan wurde verschoben (Reuters 23.10.2017).

Betreffend die nächsten Parlamentswahlen auf nationaler Ebene hat die irakische Wahlkommission den 12. Mai 2018 als Wahltermin festgelegt, der Termin muss noch vom irakischen Parlament bestätigt werden (Rudaw 22.10.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (24.10.2017): http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/IrakSicherheit.html?nn=332636, Zugriff 24.10.2017

-        AI – Amnesty International (24.10.2017): Iraq: Kurdish homes targeted in wave of attacks by government-backed militias, https://www.amnesty.org.uk/press-releases/iraq-kurdish-homes-targeted-wave-attacks-government-backed-militias, Zugriff 24.10.2017

-        Al-Jazeera (20.9.2017): Iraq war map: Who controls what, http://www.aljazeera.com/indepth/interactive/2016/08/iraq-war-map-controls-160830115440480.html, Zugriff 27.9.2017

-        Harrer, Gudrun in Der Standard (24.10.2017): USA sitzen im Irak zwischen den Stühlen, http://derstandard.at/2000066619739/Die-USA-sitzen-im-Irak-zwischen-zwei-Stuehlen, Zugriff 25.10.2017

-        IFK - Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (13.10.2017): Fact Sheet Syrien & Irak, Nr. 65, per Email am 23.10.2017

-        NA – The New Arab (24.10.2017): Exclusive: Iraqi troops surrender after attacking Kurdish village, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2017/10/24/exclusive-iraqis-surrender-at-makhmur-kurdistan, Zugriff 25.102.2017

-        NYTimes – New York Times (22.10.2017): Iraqi Forces Overpower Kurds, but Public Relations Battle Rages, https://www.nytimes.com/2017/10/22/world/middleeast/iraq-kurds.html, Zugriff 24.10.2017

-        Presse (18.10.2017): Der Nahe Osten nach dem Ende des IS, http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5305255/Der-Nahe-Osten-nach-dem-Ende-des-IS?from=suche.intern.portal, Zugriff 25.10.2017

-        Reuters (23.10.2017): Iraq's Kurdistan region delays elections, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-election/iraqs-kurdistan-region-delays-elections-idUSKBN1CS0T0?il=0

-        Reuters (25.10.2017): Kurds offer to suspend independence drive, seek talks with Baghdad, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-kurds-referendum/kurds-offer-to-suspend-independence-drive-seek-talks-with-baghdad-idUSKBN1CT37M?il=0, Zugriff 25.10.2017

-        Rudaw (17.10.2017): Iraqi forces, Shiite militia control series of Peshmerga-held areas, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/17102017, Zugriff 24.10.2017

-        Rudaw (20.10.2017): US, UN express concern over mounting violence in Kirkuk, http://www.rudaw.net/english/kurdistan/201020171, Zugriff 24.10.2017

-        Rudaw (22.10.2017): Iraq’s parliamentary elections set for May 12, 2018, http://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/22102017, Zugriff 24.10.2017

-        Standard – Der Standard (20.10.2017): Viele Tote: Irakische Armee erobert letztes Kurdengebiet in Kirkuk, www.derstandard.at/2000066379819/Kaempfe-bei-Kirkuk-Irakische-Armee-erobert-letztes-Gebiet-zurueck, Zugriff 24.10.2017

-        TDB – The Daily Beast (16.10.2017): With the Battle for Kirkuk, A New Iraq Civil War May Just Be Beginning, https://www.thedailybeast.com/with-the-battle-for-kirkuk-a-new-iraq-civil-war-may-be-just-beginning, Zugriff 24.10.2017

KI vom 16.10.2017: Entwicklungen im Anschluss an das Kurden-Referendum, Offensiven gegen den IS, geplante Wahlen in der KRI

Relevant für die Abschnitte Politische Lage, Sicherheitslage und Menschenrechtslage

Beim Unabhängigkeitsreferendum bezüglich der Frage der Loslösung Irakisch Kurdistans (KRI) vom irakischen Staat stimmten am 25.9.17 92,7 Prozent der Stimmberechtigten für einen eigenen Staat (Wahlbeteiligung: 72 Prozent) (ORF 27.9.2017). Als Reaktion darauf verbot die irakische Zentralregierung u.a. internationale Flüge in die Region. Die irakische Zentralregierung bat zudem die beiden Länder Türkei und Iran darum, ihre Grenzen zu den kurdischen Autonomiegebieten zu schließen sowie jeglichen Handel einzustellen (BAMF 9.10.2017). Die Grenzübergänge von der KRI zum Iran und der Türkei sind seit dem Referendum nur mehr teilweise geöffnet (s. Karte unten). Die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) haben außerdem begonnen, Checkpoints an diesen Grenzübergängen einzurichten (ISW 6.10.2017).

Die Türkei, der Iran und der Irak antworteten darüber hinaus auf das Referendum mit einem aggressiven und koordinierten In-Position-bringen ihrer Truppen. Die vorangetriebenen Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden führen in der Region somit zu Annäherungen zwischen diesen drei Staaten. Am 24 September kam es zum Beschuss des Bezirks Juman (Provinz Erbil) von Seiten nicht-identifizierter iranischer Streitkräfte (ISW 6.10.2017).

Am 25. September kam es laut des kurdischen Sicherheitsdienstes Asayish von Seiten der Popular Mobilization Forces (PMF, offiziell in den irakischen Sicherheitsapparat eingegliedert) in Tuz Khurmatu zum Beschuss der kurdischen Peschmerga. Am 27. September verabschiedete der irakische Repräsentantenrat eine Resolution, welche die irakische Regierung dazu aufruft, die ISF mit der Zurückgewinnung der Ölfelder in Kirkuk zu beauftragen (ISW 6.10.2017). Premierminister Haidar al-Abadi forderte die Kurdenführung auf, alle Gebiete an die irakische Zentralregierung zurückzugeben, die die kurdischen Peschmerga-Kämpfer während des Kampfes gegen den IS unter ihre Kontrolle gebracht hatten (ORF 27.9.2017).

Die folgende Grafik zeigt das von den Kurden kontrollierte Gebiet an, sowie in welchen Gebieten das Referendum abgehalten wurde. Darüber hinaus zeigt sie den jeweiligen Status von Grenzübergängen und Flughäfen an.

Am 15. Oktober 2017 eröffneten die irakischen Sicherheitskräfte (Iraqi Security Forces, ISF), Counterterrorism Services (CTS), die Bundespolizei und die vom Iran unterstützten PMF eine Offensive in Kirkuk mit dem Ziel die K1 Militärbasis, den Flughafen Kirkuk und die Ölfelder in Kirkuk von den kurdischen Peshmerga einzunehmen (ISW 15.10.2017). Dies folgte dem Ablaufen eines Ultimatums der irakischen Armee an die kurdischen Kämpfer, laut welchem der Rückzug der Peshmerga auf ihre Stellungen, die sie vor dem 6. Juni 2014 hielten, gefordert wird. Die kurdischen Peshmerga hatten diese Gebiete 2014 im Kampf gegen den IS erobert (Der Standard 15.10.2017).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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