Entscheidungsdatum
13.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W166 2135142-1/41E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Irene Oberschlick, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.06.2020 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
III. In Erledigung der Beschwerde wird festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
IV. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. VERFAHRENSGANG:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 15.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Im Rahmen seiner Erstbefragung am 15.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Steiermark gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari befragt nach seinem Fluchtgrund an, dass er gegen die Heirat seiner Schwester mit einem Kommandanten gewesen sei, welcher daraufhin seine Familie und ihn verfolgt habe. Der Mann sei gewalttätig geworden, weshalb er nach Österreich geflohen und seine Familie in eine andere Provinz in Afghanistan gezogen sei.
Am 21.07.2016 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „BFA“ oder „belangte Behörde“) einvernommen, wobei er befragt nach seinem Fluchtgrund ergänzend angab, dass ein Kommandant seine Schwester habe zwangsheiraten wollen, aber der Vater des Beschwerdeführers dagegen gewesen sei, weil der Kommandant kriminell gewesen sei und schon eine Ehefrau gehabt habe. Der Kommandant habe im Beisein seiner Wachen im Haus der Familie versucht, diese unter Druck zu setzen, dabei sei es zu Handgreiflichkeiten gekommen und sowohl der Vater als auch der Beschwerdeführer selbst seien vom Kommandanten geschlagen worden. Als der Kommandant seine Waffe auf den Vater gerichtet habe, habe der Beschwerdeführer versucht, ihm die Waffe zu entreißen, wobei ein Schuss auf eine Wache abgegangen sei. Der Kommandant habe daraufhin auf den Beschwerdeführer und seinen Vater eingeschlagen. Nachdem der Kommandant gegangen sei, sei der Beschwerdeführer für zwei Tage zu einem Freund des Vaters und habe dann Afghanistan verlassen. Seine Familie habe ihm danach berichtet, dass der Kommandant noch ein paar Mal zu ihnen nach Hause gekommen sei und nach dem Beschwerdeführer gefragt habe. Die Familie sei nach ungefähr zwölf Tagen nach Kunduz gezogen.
Bei der Einvernahme am 21.07.2016 legte der Beschwerdeführer eine Tazkira, ein afghanisches Schulzeugnis und Deutschkursbestätigungen vor.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Es wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Im Bescheid wurde begründend ausgeführt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich des Vorfalls mit seinem Vater und dem Kommandanten nicht plausibel sei, weshalb der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. In Afghanistan finde der Beschwerdeführer ein familiäres Netzwerk vor, er habe eine zehnjährige Schulbildung und sei in einem arbeitsfähigen und gesunden Zustand, weshalb eine Rückkehr nach Afghanistan unter Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumutbar sei.
Mit Schriftsatz vom 14.09.2016 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, fristgerecht eine vollumfängliche Beschwerde.
Mit Datum vom 16.09.2016 legte das BFA die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
Am 07.03.2017 legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht Dokumente zu Deutschkursen und weitere Integrationsunterlagen vor.
Mit Schriftsatz vom 28.11.2017 gab die Rechtsanwältin bekannt, dass sie vom Beschwerdeführer bevollmächtigt worden sei und ihn im Asylverfahren rechtlich vertrete.
Am 04.12.2017 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers und seiner Rechtsvertretung vom damals zuständigen Richter zu seinem Antrag und seiner Beschwerde einvernommen wurde. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben.
Am 19.12.2017 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur vorgelegten Tazkira und zu den Länderfeststellungen beim Bundesverwaltungsgericht ein. Eine ergänzende Stellungnahme langte am 11.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Der Beschwerdeführer übermittelte am 20.02.2018 dem Bundesverwaltungsgericht seine Beschäftigungsbewilligung (Bescheid des AMS) und seinen Lehrvertrag.
Der Beschwerdeführer bezog mit Schriftsatz seiner Rechtsanwältin vom 22.08.2018 Stellung zu den am 02.08.2018 übermittelten Länderfeststellungen und zu seiner Integration. Dazu legte er dem Gericht weitere Integrationsunterlagen vor.
Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.09.2019 wurde die gegenständliche Rechtsache dem zuständigen Richter abgenommen und neu zugewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem BFA rechtzeitig im Sinne des § 55a Abs. 3 FPG mitgeteilt, dass er sich als Lehrling gemäß § 1 Berufsausbildungsgesetzes in einem Ausbildungsverhältnis befindet.
Mit Ladung vom 20.02.2020 wurde eine mündliche Verhandlung für 01.04.2020 anberaumt, welche auf Grund der Covid-19 Situation mit Schreiben vom 20.03.2020 abberaumt werden musste.
Sodann erging mit Ladung vom 08.05.2020 die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für 17.06.2020 mit dem Hinweis auf die der Entscheidung zu Grunde legenden Länderberichte betreffend den Herkunftsstaat Afghanistan.
Am 12.06.2020 übermittelte die Rechtsanwältin des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu den aktuellen Länderberichten und zur Covid-19 Situation.
Mit Schreiben vom 15.06.2020 übermittelte das BFA, Regionaldirektion Steiermark den Verzicht auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Am 17.06.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsanwältin von der erkennenden Richterin zu seinem Antrag und seiner Beschwerde einvernommen wurde, und der vertretene Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, sein Vorbringen ausführlich darzulegen. Weiters wurden der Arbeitgeber, die Verlobte und ein Freund in der mündlichen Verhandlung befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist volljährig und afghanischer Staatsangehöriger. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Verfahrensidentität des Beschwerdeführers steht fest.
Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Zudem spricht der Beschwerdeführer ausgezeichnet Deutsch und ist mit ihm jegliche Kommunikation in deutscher Sprache möglich.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Kunduz in Afghanistan, wo er wohnte, bis er ungefähr sieben Jahre alt war. Danach lebte der Beschwerdeführer bis zu seiner Flucht nach Österreich in Mazar-e-Sharif. Er lebte sowohl in Kunduz als auch in Mazar-e-Sharif mit seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seiner Schwester. Der Beschwerdeführer hat seit dem Jahr 2019 keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.
Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan die Schule bis zur zehnten Klasse.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Im Hinblick auf die Pandemie zum Corona-Virus SARS-CoV2 (COVID -19) ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer ein junger, gesunder Mann ohne schwerwiegende Erkrankung ist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen bzw. der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt und in der Folge daher keiner spezifischen Gefahr durch die Pandemie ausgesetzt ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer einer individuellen, konkreten, asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist oder bei Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wäre.
Zudem droht dem Beschwerdeführer im Fall einer Verbringung in seinen Herkunftsstaat kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Ebenso wenig würde eine Zurückverbringung für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.
1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer hält sich seit Juni 2015 durchgehend in Österreich auf. Es befinden sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich.
Der Beschwerdeführer besuchte von September 2016 bis Februar 2018 das Abendgymnasium in XXXX . Seit 01.02.2018 steht der Beschwerdeführer in einem Lehrverhältnis und wird im XXXX zum Restaurantfachmann ausgebildet. Die Lehre dauert drei Jahre und endet am 31.01.2021. Der Beschwerdeführer besucht erfolgreich die Berufsschule in XXXX .
Im Zusammenhang mit der Lehrlingsausbildung hat der Beschwerdeführer Modul 1 bis Modul 4 der Lehrlings-Akademie XXXX absolviert.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und ein Zertifikat vom 01.03.2017 über die bestandene ÖSD-Prüfung auf dem Niveau B1 erlangt. Es wird festgestellt, dass die tatsächlichen Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers bereits auf einem ausgezeichneten Niveau sind.
Der Beschwerdeführer nahm an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF teil, und hat die Integrationsprüfung B1 am 30.12.2019 erfolgreich bestanden.
Der Beschwerdeführer hat am Erste-Hilfe Grundkurs teilgenommen und leistete für das Österreichische Rote Kreuz im Zeitraum von Ende 2017 bis Mitte 2019 freiwillige Mitarbeit.
Der Beschwerdeführer wohnt gemeinsam mit einem Freund in einer privaten Mietwohnung, ist selbsterhaltungsfähig und seit 01.02.2018 von der Grundversorgung abgemeldet. Vom derzeitigen Arbeitgeber des Beschwerdeführers liegt eine Einstellungszusage nach Absolvierung der Lehre vor.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über zahlreiche soziale Kontakte, hat viele österreichische Freunde und ist bereits sehr gut in die österreichische Gesellschaft integriert.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitskonstellation des Beschwerdeführers, des Lebensverlaufs seit seiner Einreise und seinen Zukunftsperspektiven ist von einer positiven Prognose auszugehen.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt vom 13.11.2019; letzte Information eingefügt am 29.06.2020
1.3.1. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
1.3.1.1. Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
1.3.1.2. Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
[…]
1.3.1.3. High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
1.3.1.4. Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
1.3.1.5. Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017).
1.3.1.6. Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart (CTC 1.2018).
1.3.1.7. Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
1.3.2. Kunduz
Die Provinz Kunduz war schon immer ein strategischer Knotenpunkt. Darüber hinaus verbindet die Provinz Kunduz den Rest Afghanistans mit seiner nördlichen Region und liegt in der Nähe einer Hauptstraße nach Kabul (DW 30.9.2015). Somit liegt die Provinz Kunduz im Norden Afghanistans und grenzt an Tadschikistan sowie an die Provinzen Takhar, Baghlan und Balkh (UNOCHA 4.2014kd). Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (OPr 1.2.1017kd).
Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert (AAN 7.11.2018; vgl. AJ 5.2.2019). Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban (UNAMA 24.2.2019) und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein (BAMF 2.9.2019). Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001 (RFE/RL o.D.).
Die Taliban waren im Jahr 2018 in den Distrikten Dasht-e-Archi und Chahar Darah aktiv, wo sich die staatliche Kontrolle auf kleine Teile der Distriktzentren und einige benachbarte Dörfer beschränkte (AAN 7.11.2018). Die Taliban hatten laut Quellen im Februar 2019 im Distrikt Dasht-e-Archi eine parallele Schattenregierung gebildet, die einen Distriktgouverneur, Bildungsleiter, Justiz, Gesundheit, Öffentlichkeitsarbeit, Militär und die Finanzkomitees umfasst. Diese Posten werden von jungen Paschtunen und Usbeken aus dem Distrikt besetzt (AAN 26.2.2019). In Ali Abad, Imam Sahib und Khan Abad erreichte die Präsenz der Regierung fast die Hälfte der Distrikte, während die restlichen Teile umstritten waren. Aqtash, Calbad und Gultipa standen, zum Berichtszeitraum November 2018, weitgehend oder vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AAN 7.11.2018).
Außerdem soll eine aufständische Gruppe namens Jabha-ye Qariha ("die Front derer, die den Quran auswendig gelernt haben", die Qaris), die als Militärflügel von Jundullah bekannt ist, im Distrikt Dasht-e-Archi aktiv sein. Obwohl Jundullah eine unabhängige Gruppe ist, ist sie mit den Taliban verbündet (AAN 26.2.2019). In den vergangenen Monaten sind Zellen der Islamischen Staates in der nördlichen Provinz Kunduz aufgetaucht (NYT 14.6.2019; vgl. JF 6.4.2018); auch soll der IS dort Basen und Ausbildungszentren unterhalten (RE 19.3.2018; 27.2.2019).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 492 zivile Opfer (141 Tote und 351 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einer Steigerung von 46% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffen (UNAMA 2.2020).
Im April 2019 wurde die Sicherheitsoperation Khalid durch die afghanische Regierung gestartet, die sich auf die südlichen Regionen, Nangarhar im Osten, Farah im Westen, sowie Kunduz, Takhar und Baghlan im Nordosten, Ghazni im Südosten und Balkh im Norden konzentrierte (UNGASC 14.6.2019). In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte; dabei werden unter anderem auch Aufständische getötet (z.B. XI 31.7.2019; KP 22.7.2019; KP 11.7.2019; KP 7.7.2019; XI 27.1.2019; TN 10.9.2018; TN 8.2.2019; NYTM 1.8.2019; UNAMA 25.3.2019; IE 20.7.2018); und Luftangriffe durchgeführt (z.B. NYTM 1.8.2019; XI 31.7.2019; KP 22.7.2019; KP 11.7.2019; XI 12.5.2019; TN 31.1.2019; XI 27.1.2019; UNAMA 25.3.2019).
Auch kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den Sicherheitskräften (z.B. BAMF 2.9.2019; NYTM 1.8.2019; XI 28.7.2019; XI 10.7.2019; SP 30.6.2019; TN 13.4.2019; RG 5.2.2019; TN 10.9.2018). Ende August 2019 starteten die Taliban in Kunduz-Stadt eine Großoffensive mit mehreren Hundert Kämpfern. Dabei konnten sie das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt einnehmen. Die Kämpfer verschanzten sich in Häusern und lieferten sich Gefechte mit dem afghanischen Militär (BAMF 2.9.2019; TN 1.9.2019). Schon im April 2019 hatten sie Ziele in der Stadt Kunduz angegriffen, wobei dieser Angriff von den Sicherheitskräften zurückgeschlagen wurde (AT 14.4.2019; vgl. NYT 18.4.2019). Manchmal kommt es durch Talibanaufständische zu sicherheitsrelevanten Vorfällen auf der Verbindungsstraße Kunduz-Takhar (CBS 20.8.2018; vgl. KP 20.8.2018; BN 20.8.2018; AAN 7.11.2018).
1.3.3. Balkh
Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt an die Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan sowie an die Provinzen Kunduz, Baghlan, Samangan, Sar-e Pul und Jawzjan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).
Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).
Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (UNAMA 2.2020).
Im Winter 2018/2019 (UNGASC 28.2.2019) und Frühjahr 2019 wurden ANDSF-Operationen in der Provinz Balkh durchgeführt (UNGASC 14.6.2019). Die ANDSF führen auch weiterhin regelmäig Operationen in der Provinz (RFERL 22.9.2019; vgl KP 29.8.2019, KP 31.8.2019, KP 9.9.2019) unter anderem mit Unterstützung der US-amerikanischen Luftwaffe durch (BAMF 14.1.2019; vgl. KP 9.9.2019). Taliban-Kämpfer griffen Einheiten der ALP, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten beispielsweise in den Distrikten Chahrbulak (TN 9.1.2019; vgl. TN 10.1.2019), Chemtal (TN 11.9.2018; vgl. TN 6.7.2018), Dawlatabad (PAJ 3.9.2018; vgl. RFE/RL 4.9.2018) und Nahri Shahi (ACCORD 30.4.2019) an.
Berichten zufolge, errichten die Taliban auf wichtigen Verbindungsstraßen, die unterschiedliche Provinzen miteinander verbinden, immer wieder Kontrollpunkte. Dadurch wird das Pendeln für Regierungsangestellte erschwert (TN 22.8.2019; vgl. 10.8.2019). Insbesondere der Abschnitt zwischen den Provinzen Balkh und Jawjzan ist von dieser Unsicherheit betroffen (TN 10.8.2019).
1.3.4. Tadschiken
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.b; vgl. RFERL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.b). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012). Die tadschikischen Kerngebiete sind vor allem in Nordafghanistan in den Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul (GIZ 4.2019).
Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).
1.3.5. Grundversorgung und Arbeitsmarkt
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 2.9.2019; AF 2018). Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (AA 2.9.2019).
Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.8.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019).
Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt (ILO 2.4.2018). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (BFA 4.2018). Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000) (BFA 4.2018; vgl. CSO 2018).
Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. (BFA 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (BFA 13.6.2019).
1.3.6. Rückkehr
Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019. Seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan (Anm.: 23.4.-24.5.2020) hat sich die Anzahl der Rückkehr/innen (undokumentierter, aber auch unterstützter Rückkehr/innen) reduziert. Im gleichen Zeitraum kehrten 1.833 undokumentierte und 1.662 von IOM unterstütze Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurück (IOM 11.3.2020). Pakistan hat temporär und aufgrund der COVID-19-Krise seine Grenze nach Afghanistan geschlossen (VoA 4.4.2020; vgl. IOM 11.5.2020; TN 18.3.2020; TiN 13.3.2020). Durch das sogenannte „Friendship Gate“ in Chaman (Anm.: in Balochistan/ Spin Boldak, Kandahar) wurden im April 37.000 afghanische Familien auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung von Pakistan nach Afghanistan gelassen. An einem weiteren Tag im Mai 2020 kehrten insgesamt 2.977 afghanische Staatsbürger/innen nach Afghanistan zurück, die zuvor in unterschiedlichen Regionen Balochistans gestrandet waren (DA 10.5.2020).
Im Zeitraum 1.1.2019 – 4.1.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan (IOM 4.1.2020). Im Jahr 2018 kehrten aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 aus dem Iran und 32.725 aus Pakistan (IOM 5.1.2019). Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan (AA 2.9.2019).
Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019). Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (BFA 4.2018). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung (AA 2.9.2019).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (BFA 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (BFA 4.2018).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 2.9.2019). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (BFA 13.6.2019).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 2.9.2019). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (BFA 13.6.2019).
Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 2.9.2019).
Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 6.2008). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017).
IOM unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrer/innen nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden (IOM KBL 26.11.2018; vgl. IOM AUT 23.1.2020; BFA 13.6.2019; BFA 4.2018). Im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden (IOM AUT 23.12.020).
Mit 1.1.2020 startete das durch den AMIF der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierten Reintegrationsprojekt, RESTART III, das auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet ist und über eine Kapazität von 400 Personen verfügt. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant (IOM AUT 23.1.2020).
Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessent/innen an einer unterstützen freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas bzw. in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des BMI, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die AntragsstellerInnen erfüllt werden. Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den/die Interessenten/in beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr an das BFA. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des BMI wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert (IOM AUT 23.1.2020).
Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen (IOM 26.11.2018). Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Security Controle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal (BMI Stand 23.1.2020).
IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt. (IOM 5.11.2019). Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.) (IOM AUT 23.1.2020).
1.3.7. Länderspezifische Anmerkungen zur COVID-19-Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
1.3.7.1. Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
1.3.7.2. Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
[…]
1.3.7.3. Allgemeine Informationen zu Covid-19
COVID-19 ist eine durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Infektionskrankheit. Sie wurde erstmals 2019 in der Metropole Wuhan (Provinz Hubei) festgestellt, entwickelte sich im Januar 2020 in der Volksrepublik China zur Epidemie und breitete sich schließlich zur weltweiten COVID-19-Pandemie aus. Die genaue Ausbruchsquelle ist derzeit noch unbekannt. Es wird angenommen, dass sich das Virus wie andere Erreger von Atemwegserkrankungen hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion verbreitet.
In Österreich gibt es mit Stand 08.07.2020, 1.086 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen, 16.721 genesene Personen 681 Todesfälle nach dem Epidemiegesetz. In Afghanistan wurden zu diesem Zeitpunkt 33.594 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 936 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden.
Nach aktuellem Stand verlaufen in etwa 80 Prozent der offiziell bekannten Infektionsfälle milde und diese Personen werden wieder gesund, ohne medizinische Versorgung in Form eines Krankenhausaufenthaltes zu benötigen. Ungefähr eine aus fünf Personen, die mit Covid-19 infiziert ist, hat einen schwereren Krankheitsverlauf und muss eventuell im Krankenhaus aufgenommen werden. Diese Fälle treten zumeist in den Risikogruppen der älteren Personen über 60 Jahre und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.
Diese Risikogruppen sind bis heute für die Mehrheit der schweren Erkrankungen und Todesfälle verantwortlich. Nach der Infektion gibt es aktuell keine spezifische Behandlung für Covid-19, jedoch kann eine frühzeitige unterstützende Therapie, sofern die Gesundheitsfürsorge dazu in der Lage ist, die Ergebnisse verbessern. Zusammenfassend la?sst sich sagen, dass der Krankheitsverlauf des Covid-19, sofern es durch das Coronavirus ausgelöst wurde, für die Allgemeinbevölkerung als mild bis moderat, für ältere Menschen mit definierten Risikofaktoren jedoch als gravierend bis tödlich eingeschätzt wird.
Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 betreffend Risikogruppen:
Risikogruppen
Laut UNHCR können folgende Asylsuchende aus Afghanistan, abhängig von den im Einzelfall besonderen Umständen, internationalen Schutz benötigen. Diese Risikoprofile sind weder zwangsläufig erschöpfend, noch werden sie der Rangfolge nach angeführt:
(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;
(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;
(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;
(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;
(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen;
(6) Personen, die vermeintlich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) verstoßen;
(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben;
(8) Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen;
(9) Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, und Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden
(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder Kinder, die unter bestimmten Bedingungen leben;
(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;
(12) Personen mit unterschiedlichen sexueller Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten;
(13) Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen;
(14) An Blutfehden verwickelte Personen, und
(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen sowie deren Familienangehörige.
2. Beweiswürdigung
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers und den Fluchtgründen:
Die Feststellungen zum Namen, zum Alter, zur Volksgruppen- sowie Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers beruhen auf seinen im gesamten Verfahren und auch in der mündlichen Verhandlung gleichlautenden und daher glaubwürdigen Aussagen.
Die Identität des Beschwerdeführers steht - mangels Vorlage unbedenklicher, die Identität nachweisender Dokumente - ausschließlich für die Identifizierung seiner Person im Asylverfahren fest
Die Feststellung zur Muttersprache des Beschwerdeführers konnte getroffen werden, da der Beschwerdeführer im behördlichen Verfahren und bei der Verhandlung am 04.12.2017 seine Aussagen hauptsächlich auf Dari tätigte und dafür ein Dolmetscher für die Sprache bestellt war.
Dass der Beschwerdeführer hervorragende Deutschkenntnisse hat, beruht auf dem persönlichen Eindruck der erkennenden Richterin, die die mündliche Beschwerdeverhandlung vom 17.06.2020 mit dem Beschwerdeführer zur Gänze auf Deutsch abhalten konnte. Der Beschwerdeführer verstand die Fragen ohne jegliche Probleme und konnte seine Fluchtgeschichte auf Deutsch verständlich darlegen sowie die Fragen der Richterin beantworten. Der Beschwerdeführer hat zudem bereits ein Sprachzertifikat des Sprachniveaus B1 vom 01.03.2017 für die Sprache Deutsch vorgelegt.
Die Feststellungen zur Herkunft und Familie des Beschwerdeführers gründen auf seinen diesbezüglichen Aussagen im Verfahren, die er erstmals in der Erstbefragung im Jahr 2015 und letztmals in der mündlichen Verhandlung vom 17.06.2020 jeweils gleichlautend äußerte. Für die erkennende Richterin bestehen diesbezüglich keine Zweifel an seiner Herkunft und an den Angaben zu seiner Familie.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan eine Schule besuchte, beruht auf seinen im gesamten Verfahren und in der mündlichen Verhandlung getätigten Aussagen, dass er für zehn Jahre in Mazar-e-Sharif zur Schule ging, die im Zusammenhang mit dem Umstand, dass er in relativ kurzer Zeit die deutsche Sprache sehr gut erlernte (B1 Prüfung im Frühjahr 2017) und