Entscheidungsdatum
10.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W208 2197963-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX , geboren XXXX , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch ARGE RECHTSBERATUNG DIAKONIE UND VOLKSHILFE, gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL vom 04.05.2018, Zl. 1100322204-152058806 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird diese hinsichtlich Spruchpunkt III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe :
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach schlepperunterstützter und unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 25.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG) gestellt.
2. Am 26.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Befragung statt, bei der er in der Sprache Paschtu zum Fluchtweg und Fluchtgrund (Angabe des BF: versuchte Zwangsrekrutierung durch die Taliban) befragt wurde. Verständigungsprobleme lagen nicht vor.
3. Bei der Einvernahme am 13.04.2018 gab der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu an, dass die bisherigen Angaben im Verfahren der Wahrheit entsprächen und machte nähere Ausführungen zu Herkunft und zu den Gründen seiner Flucht.
Der BF legte folgende Unterlagen vor:
? Zeugnis über Pflichtschulabschluss,
? Volkshochschule OÖ „Plus.Mehrsprachigkeit“,
? Prüfungszeugnis Deutschtest für Österreich,
? Prüfungszeugnis Deutsch A1,
? Anmeldung A2 Deutschkurs,
? 2 Bestätigungen für gemeinnützige Beschäftigung,
? Bestätigung für ehrenamtlichen Deutschkurs,
? Empfehlungsschreiben,
? Bestätigung über ehrenamtliche Arbeit beim Roten Kreuz,
? Bestätigung über Teilnahme Medien und Kulturhaus,
? Konvolut an medizinischen Befunden,
? Schnuppertage STRABAG,
? Bewerbung SPAR.
Verständigungsprobleme lagen laut Niederschrift auch bei dieser Befragung nicht vor.
4. Das BFA hat mit dem im Spruch angeführten Bescheid den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status Asylberechtigter gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für eine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
5. Gegen den am 09.05.2018 zugestellten Bescheid wurde von der gemäß § 52 Abs 1 BFA-VG dem BF zur Seite gestellten und im Spruch genannten Rechtsberatungsorganisation (Vollmacht und Zustellvollmacht vom 04.05.2018) am 06.06.2018 beim BFA Beschwerde eingebracht.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 08.06.2018 vom BFA vorgelegt.
7. Mit Ladungen vom 12.03.2019 wurde vom BVwG eine Verhandlung in der Sache anberaumt und der BF darauf hingewiesen, welche aktuellen Länderinformationen in das Verfahren eingebracht und falls nicht bekannt angefordert werden oder Akteneinsicht genommen und eine Stellungnahme abgegeben werden kann.
8. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 10.04.2019 eine erste öffentliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu und seiner bevollmächtigten Vertretung persönlich teilnahm und ausführlich zu den Fluchtgründen und zur Person befragt wurde, sowie Stellung nehmen konnte. Eine von ihm beantragte Zeugin Fr. XXXX (sie hat mit ihm Theaterprojekte gemacht) wurde ebenfalls einvernommen.
Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden folgende weitere Unterlagen vorgelegt bzw. eingebracht:
? Empfehlungsschreiben vom Unterkunftgeber vom 04.04.2019, wonach sich der BF als hilfsbereiter und umgänglicher Bewohner in XXXX engagiert und auf Grund seiner guten Deutsch- und Englischkenntnisse seine Mitbewohner unterstützt. (Beilage ./1),
? Eine Schulbesuchsbestätigung vom 08.04.2019 von der Altenbetreuungsschule des Landes XXXX , wonach dieser diese Schule seit 07.01.2019 besucht und die Ausbildung am 31.03.2021 endet. (Beilage ./2) ,
? Stellungnahme vom 09.04.2019 der Lehrgangsleiterin, in der ausgeführt wird, dass der BF im Herbst letzten Jahres ein mehrmonatiges Aufnahmemodul absolviert hat, unter anderem auch zwei 40-stündige Praktika in einem Seniorenheim. Er sei auf Grund der sehr positiven Rückmeldungen und seiner guten Deutschkenntnisse in den zweijährigen Lehrgang aufgenommen worden, den er mit Ernsthaftigkeit und Engagement absolviere. (Beilage ./3) Rückmeldebogen des Praktikums (Beilage ./3a) ,
? Eine Bestätigung des AMS vom 04.06.2018, wonach der BF von 11.06. – 15.06. ein Volontariat bei einer Dachdeckerei mit dem Ziel dort eine Lehrstelle zu erhalten absolviert hat (Beilage ./4),
? Empfehlungsschreiben des Lehrgangs der Pflegeschule, wonach dieser von seinen Kollegen wegen seiner hohen sozialen Kompetenz und seinem außergewöhnlichen Engagement und seiner Kommunikationsfähigkeit als Klassensprecher gewählt wurde. Unterschrieben von 22 Mitschülern. Der BF gibt dazu an, dass der Lehrgang 24 Mitglieder habe, aber einige nicht da gewesen seien. (Beilage ./5)
9. Mit am 10.04.2019 nach dem Ende der Verhandlung mündlich verkündeten und am 02.08.2019 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (W208 2197963-1/14E) wurde die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. gemäß §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen [Spruchpunkte A) I. und II.]. Die Fluchtgeschichte (versuchte Zwangsrekrutierung durch die Taliban) wurde als nicht glaubhaft erachtet und eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative festgestellt.
Hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. wurde der Beschwerde stattgegeben und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer für unzulässig erklärt sowie dem BF gemäß § 55 Abs 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt Spruchpunkte A) III. und IV.). Die Revision wurde gemäß Art 133 Abs 4 B-VG für unzulässig erklärt.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass im Hinblick auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung, es zu Gunsten des BF zu berücksichtigen sei, dass er während seines Aufenthaltes in Österreich in außerordentlichem Ausmaß um Integration bemüht gewesen sei: Insbesondere mit der erfolgreichen Absolvierung der Praktika im Pflegebereich, der Entscheidung sich beruflich in diesem Bereich zu engagieren, der gelungenen Aufnahme in der Pflegeschule und dem dortigen Engagement habe der BF eindrucksvoll gezeigt, dass er unabhängig von seiner der Privatsphäre zuzurechnenden Religion und seiner kulturell und gesellschaftlich geprägten Stellung als muslimischer Mann andere Menschen unabhängig von deren Religion oder Parteizugehörigkeit, ihrer Nationalität, Rasse oder persönlichen Situation unter Inkaufnahme hoher körperlicher und psychischer Belastungen pflegen und damit einen wertvollen sowie dringend gebrauchten Beitrag für die österreichische Gesellschaft leisten würde. Dazu komme die Unbescholtenheit, das erfolgreiche Bemühen die deutsche Sprache zu erlernen, die Teilnahme am Gemeinde- und Kulturleben, die freiwillige Arbeit sowie weiters, dass er sich nicht auf staatliche Hilfsmaßnahmen verlassen habe und verlasse, sondern sich um eine Ausbildung erfolgreich bemüht habe. Die in Aussicht genommene Tätigkeit als Altenpfleger indiziere eine besondere Verbundenheit zu den in diesem Land lebenden Menschen und sei ein Garant - angesichts des Mangels an Pflegefachkräften - für die zukünftige Selbsterhaltungsfähigkeit des BF. Fallbezogen liege bei Betrachtung der Gesamtumstände einer jener seltenen Fälle und damit eine außergewöhnliche Konstellation vor. Es sei daher auszusprechen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem BF gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
10. Gegen die Spruchpunkte A) III. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung) und IV. (Erteilung eines Aufenthaltstitels) brachte die belangte Behörde am 21.08.2019 eine außerordentliche Amtsrevision ein.
Zur Zulässigkeit führt die Amtsrevision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) aus, das BVwG sei von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, da es die Frage, ob das Privatleben in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Fremde des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, nicht entsprechend berücksichtigt habe. Die Integration des BF sei in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt worden. Das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen werde nur in Ausnahmefällen überwogen. Die Aufenthaltsdauer spiele eine zentrale Rolle. Auch wenn nicht von einem Automatismus bei weniger als fünf Jahren auszugehen sei, liege im Revisionsfall aber keine derart außergewöhnliche Konstellation vor. Es liege vielmehr ein typisches Privatleben vor, wie es im Rahmen einer Berufstätigkeit entstehe. Im Revisionsfall liege keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen des BF vor, dass von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden könne, aufgrund derer ihm ein Verbleib nach Art. 8 EMRK ermöglicht werden müsste.
11. Mit Erkenntnis vom 31.03.2020, Ra 2019/14/0417-5, sprach der VwGH aus, das Erkenntnis des BVwG im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich der Spruchpunkte A) III. und A) IV. betreffend Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Begründend wurde darin unter Anführung einschlägiger Judikatur im Wesentlichen ausgeführt, dass die vorliegende Amtsrevision zutreffend aufzeige, dass im gegenständlichen Fall eine derart außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation – entgegen der Ansicht des BVwG – nicht vorliege. Der BF halte sich seit rund dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet auf und werde nicht verkannt, dass der unbescholtene BF besondere Bemühungen bei der Erlangung von Deutschkenntnissen und der Erlernung des Berufes des Altenpflegers gezeigt habe, er keine Leistungen aus der Grundversorgung beziehe und auch Anstrengungen zur sozialen Integration in seiner Heimatgemeinde unternommen habe. Allerdings bestehe allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ gesprochen werden könne und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.
12. Mit Ladungen vom 19.06.2020 wurde vom BVwG eine weitere Verhandlung in der Sache anberaumt und der BF darauf hingewiesen, welche aktuellen Länderinformationen in das Verfahren eingebracht und falls nicht bekannt angefordert werden oder Akteneinsicht genommen und eine Stellungnahme abgegeben werden kann.
13. Mit Eingabe vom 26.05.2020, teilte der Rechtsvertreter des BF mit, dass dieser die A2-Prüfung/Modul 1 erfolgreich absolviert habe und legte eine Beschäftigungsbewilligung des AMS vom 09.07.2020 für eine Lehre als Platten- und Fliesenleger in der Zeit von 09.04.2020 bis 08.07.2023 mit einem Bruttobezug von € 623,62 vor (ON 21).
14. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 30.07.2020 eine öffentliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu, seiner bevollmächtigten Vertretung und eines Vertreters des BFA persönlich teilnahm und ausführlich zu seinen persönlichen Verhältnissen (Privatleben iSd Art 8 EMRK) befragt wurde, sowie die Möglichkeit hatte ein Vorbringen zu erstatten bzw Beweismittel für eine „außergewöhnliche Integration“ geltend zu machen, die allenfalls das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung bzw an einem geordneten Fremdenwesen überwiegen würden.
Im Rahmen dieser Verhandlung wurden folgende weitere Unterlagen vorgelegt bzw. eingebracht:
- Lehrvertrag über den Lehrberuf Platten- und Fliesenleger vom 24.06.2020. Das voraussichtliche Ende der Lehrzeit ist der 10.05.2023 (Beilage ./1),
- Dienstzeugnis der Firma Fliesen XXXX vom 29.07.2020, wo vom Lehrherrn ausgeführt wird, dass der BF zur größten Zufriedenheit arbeitet und bei Kunden und Kollegen durch sein sympathischen Wesen beliebt sei (Beilage ./2), (Anmerkung BVwG: In der Verhandlung hat sich herausgestellt, dass der BF nur einen einzigen Kollegen hat, nämlich seinen Chef / VHS2, 4).
- Zeugnis zur Integrationsprüfung ÖIF vom 14.02.2020 Sprachniveau A2 (Beilage ./3),
- Prüfungszeugnis „Deutschtest für Österreich“ datiert bereits vom 13.05.2017, bestanden, Niveau B1 (Beilage ./4),
- Stellungnahme zur CoVid-19-Situation in Afghanistan vom 30.07.2020.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen
1.1. Zur Person und ihrem Netzwerk
Der BF führt den im Spruch angeführten Namen, wurde am XXXX im Dorf XXXX im Distrikt XXXX , der Provinz KUNDUZ geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan; weiters Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, außerdem spricht er Dari und Englisch und verfügt über gute Deutschkenntnisse, sodass die Verhandlung vom 30.07.2020 auch auf Deutsch mit ihm geführt werden konnte.
Der BF hat in Afghanistan keine Schule besucht, sondern hat fünf Jahre lang bei einem Nachbarn zu Hause gelernt. Danach hat er dann ca. drei Monate einen Englischkurs gemacht.
Der BF ist arbeitsfähig und hat seinem Bruder und seiner Mutter im familieneigenen Lebensmittelgeschäft geholfen und war auch in der familieneigenen Landwirtschaft beschäftigt. Dort hielten sie auch Nutztiere, um die er sich gekümmert hat (VHS1, 6).
In Österreich hat der BF einen Pflichtschulabschluss erlangt und weitere Berufserfahrung gesammelt (siehe ausführlich dazu 1.2.).
Der BF hat folgende Angehörige in AFGHANISTAN:
Mutter, zwei Schwestern, Onkel väterlicherseits. Diese bestreiten ihren Lebensunterhalt durch ihre eigene Landwirtschaft und dem Lebensmittelgeschäft. Der Vater des BF ist an Krebs verstorben, als der BF ca. 3 oder 4 Jahre alt war (VHS1, 6).
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF keine weiteren Angehörigen, Bekannte oder Freunde mehr in AFGHANISTAN hat.
Der BF ist gemeinsam mit seinem Bruder aus AFGHANISTAN geflüchtet, hat ihn aber an der pakistanisch-iranischen Grenze verloren (VHS1, 8).
Er kann auf das soziale Netzwerk seines Clans vor Ort zurückgreifen und auf die Unterstützung der Großfamilie (Mutter/Schwestern/Onkel und deren Nachkommen) in der Heimatprovinz.
Der BF ist gesund und hat in den Verhandlungen einen wachen und orientierten Eindruck gemacht. Im Jahr 2016 wurde der BF im Klinikum XXXX wegen psychischer Probleme behandelt (Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion) (AS 75 – 85). Er steht deshalb aber nicht mehr in ärztlicher Behandlung (VHS1, 7).
Der BF gehört im Hinblick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe hinsichtlich COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Er ist in Afghanistan nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Heimatland.
1.2. Zum Privatleben und zur Integration in Österreich
Der BF hält sich seit 25.12.2015 in Österreich auf und lebt zur Miete in XXXX (VHS2, 4).
Er besuchte Deutschkurse und hat sich bereits so gute Deutschkenntnisse angeeignet, dass er sich in fließendem Deutsch mit dem Richter und mit seinen Mitschülern unterhalten kann.
Er hat den Pflichtschulabschluss erlangt und im Juni 2018 ein Angebot und bereits die Genehmigung des AMS gehabt eine Lehre als Dachdecker zu beginnen (Beilage ./4 VHS1). Der Lehrherr hat ihn dann aufgrund der veränderten Rechtslage nicht angestellt.
Er war stets bemüht und hat sich sowohl bei der Gemeinde als auch beim Roten Kreuz und bei der Caritas/Volkshilfe engagiert (AS 95 – 97), Schnuppertage bei der STRABAG (AS 73) absolviert und sich um eine Lehrstelle bei SPAR (AS 71) beworben.
Bei einem Praktikum (bei dem er mit alten Leuten auch Duschen und auf das WC gehen sowie deren Einlagen wechseln musste) wurde er für geeignet zur Altenpflege gehalten und in der Altenbetreuungsschule des Landes XXXX aufgenommen (Beilage ./2. VHS1), welche er am 07.01.2019 begonnen und zur vollen Zufriedenheit seiner Klassenvorständin und seiner Mitschüler (die ihn aufgrund seines Auftretens und seiner Deutschkenntnisse sogar zum Klassensprecher gewählt haben - Beilage ./5 VHS1) besucht hat. Er hat zwei weitere Praktika im Pflegedienst (80 Stunden und 120 Stunden) und schon sechs Prüfungen gemacht, drei fehlen noch (VHS2, 4).
Er musste diese Ausbildung sodann jedoch abbrechen, da er nicht erforderlichen Aufenthaltstitel (plus) bekam und sich die Ausbildung dann nicht mehr leisten konnte (VHS2,3).
Danach hat er versucht sich bei mehreren (15 bis 16) Firmen zu bewerben und Schnuppertage gemacht. Zwischenzeitlich war der BF in einer Firma als Eisenbieger auf einer Baustelle tätig (VHS2, 5).
Nach ca. drei Monaten hat er bei der Firma XXXX (einem Einpersonenunternehmen) einen Lehrvertrag bekommen. Dort arbeitet er gemeinsam mit seinem Chef. Der Kontakt mit seinem Chef setzt sich auch auf privater Ebene fort und ist der BF bei seinem Chef ab und zu essen und grillen eingeladen (VHS2, 4).
Er nimmt am kulturellen und sozialen Leben teil und ist nach wie vor Mitglied in der Theatergruppe in seiner neuen Heimatgemeinde.
Er pflegt private Beziehungen zu Österreichern und Afghanen, die in seinem Gebäude wohnen. Er geht mit ihnen Schwimmen oder in die Shishabar. Manchmal trifft er seine ehemaligen Schulkollegen am Wochenende (VHS2, 4). Neben Freundschaften (zB mit der in Verhandlung vom 10.04.2020 als geführten Zeugin XXXX im Zusammenhang mit dem jährlichen Theaterprojekt) und einer Beziehung zu einer namentlich vom BF nicht genannten Österreicherin mit albanischen Wurzeln, die er seit 5 Monaten kennt, jedes Wochenende sieht und bei der er auch übernachtet (VHS2, 4) konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden.
Der BF ist in Österreich nicht verheiratet, nicht verlobt, lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft und hat keine Kinder. Er hat keine Familienangehörigen oder Verwandten im Bundesgebiet. Er lebt mit keiner ihm nahestehenden Person zusammen.
Er ist kein Mitglied von politischen Parteien und war bisher auch sonst politisch nicht aktiv.
Der BF ist bereit die gesellschaftlichen Regeln und österreichischen Gesetze zu akzeptieren und einzuhalten.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland
Der BF wäre im Fall einer Rückführung in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch nach den aktualisierten Länderfeststellungen keinem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.
Dem BF droht aufgrund der Tatsache, dass er mehrere Jahre in Europa aufhältig war sowie in Österreich teilweise eine „westliche Werthaltung“ angenommen hat, keine psychische oder physische Gewalt.
Der BF wäre im Falle einer allfälligen Rückkehr nach HERAT oder MAZAR-E SHARIF – Städte die er sicher erreichen kann - im Stande, für ein ausreichendes Auskommen im Sinne der Sicherung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen und wäre er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht der Gefahr ausgesetzt in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.
Der BF wurde über die vorhandenen Möglichkeiten von Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.
Zudem ist es möglich, dass die Familie des BF ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan beim Aufbau einer Existenzgrundlage unterstützt.
Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut.
Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen (USDOS 20.4.2018). Nichtsdestotrotz versucht die afghanische Regierung die gebildete Jugend, die aus Pakistan zurückkehrt, aufzunehmen (BTI 2018). Von den 2.1 Millionen Personen, die in informellen Siedlungen leben, sind 44% Rückkehrer/innen. In den informellen Siedlungen von Nangarhar lebt eine Million Menschen, wovon 69% Rückkehrer/innen sind. Die Zustände in diesen Siedlungen sind unterdurchschnittlich und sind besonders wegen der Gesundheits- und Sicherheitsverhältnisse besorgniserregend. 81% der Menschen in informellen Siedlungen sind Ernährungsunsicherheit ausgesetzt, 26% haben keinen Zugang zu adäquatem Trinkwasser und 24% leben in überfüllten Haushalten (UN OCHA 12.2017).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Im Jangalak Aufnahmezentrum befanden sich 24 Zimmer, mit jeweils 2-3 Betten. Jedes Zimmer war mit einem Kühlschrank, Fernseher, einer Klimaanlage und einem Kleiderschrank ausgestattet. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Unterschiedliche Organisationen sind für Rückkehrer/innen unterstützend tätig:
IOM (internationale Organisation für Migration) bietet ein Programm zur unterstützten, freiwilligen Rückkehr und Reintegration in Afghanistan an (Assisted Voluntary Return and Reintegration – AVRR). In Österreich wird das Projekt Restart II seit 1.1.2017 vom österreichischen IOM-Landesbüro implementiert, welches vom österreichischen Bundesministerium für Inneres und AMIF (dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU) mitfinanziert wird. Im Zuge dieses Projektes können freiwillige Rückkehrer/innen nach Afghanistan und in den Iran, nachhaltig bei der Reintegration in ihr Herkunftsland unterstützt werden. Das Projekt läuft mit 31.12.2019 aus und sieht eine Teilnahme von 490 Personen vor. IOM setzt im Zuge von Restart II unterschiedliche Maßnahmen um, darunter Rückkehr – und Reintegrationsunterstützung. In Kooperation mit Partnerninstitutionen des European Reintegration Network (ERIN) wird im Rahmen des ERIN Specific Action Program, nachhaltige Rückkehr und Reintegration freiwillig bzw. zwangsweise rückgeführter Drittstaatangehöriger in ihr Herkunftsland implementiert. IRARA (International Returns & Reintegration Assistance) eine gemeinnützige Organisation bietet durch Reintegrationsdienste nachhaltige Rückkehr an. ACE (Afghanistan Centre for Excellence) ist eine afghanische Organisation, die Schulungen und Arbeitsplatzvermittlung anbietet. AKAH (Aga Khan Agency for Habitat) ist in mehreren Bereichen tätig, zu denen auch die Unterstützung von Rückkehrer/innen zählt. Sowohl ACE als auch AKAH sind Organisationen, die im Rahmen von ERIN Specific Action Program in Afghanistan tätig sind. AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation) bietet zwangsweise zurückgekehrten Personen aus Europa und Australien Beratung und Unterstützung an. Unter anderem betreibt AMASO ein Schutzhaus, welches von privaten Spendern finanziert wird (BFA Staatendokumentation 4.2018).
NRC (Norwegian Refugee Council) bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an. Auch hilft NRC Rückkehrer/innen bei Grundstücksstreitigkeiten. Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrer/innen aus Pakistan sollen auch die Möglichkeit haben die Schule zu besuchen. NRC arbeitet mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern. IDPs werden im Rahmen von Notfallprogrammen von NRC mit Sachleistungen, Nahrungsmitteln und Unterkunft versorgt; nach etwa zwei Monaten soll eine permanente Lösung für IDPs gefunden sein. Auch wird IDPs finanzielle Unterstützung geboten: pro Familie werden zwischen 5.000 und 14.000 Afghani Förderung ausbezahlt. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (BFA Staatendokumentation 4.2018).
UNHCR ist bei der Ankunft von Rückkehrer/innen anwesend, begleitet die Ankunft und verweist Personen welche einen Rechtsbeistand benötigen an die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission). UNHCR und die Weltbank haben im November 2017 ein Abkommen zur gemeinsamen Datennutzung unterzeichnet, um die Reintegration afghanischer Rückkehrer/innen zu stärken. UNHCR leitet Initiativen, um nachhaltige Lösungen in den Provinzen Herat und Nangarhar zu erzielen, indem mit nationalen Behörden/Ministerien und internationalen Organisationen (UNICEF, WHO, IOM, UNDP, UN Habitat, WFP und FAO) zusammengearbeitet wird. Diese Initiativen setzen nationale Pläne in gemeinsame Programme in jenen Regionen um, die eine hohe Anzahl an Rückkehrer/innen und Binnenvertriebenen vorzuweisen haben (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung
Hilfeleistungen für Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft (wenngleich sich das Jangalak-Aufnahmezentrum bis September 2017 direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand, wurde dieses dennoch von IOM betrieben und finanziert). Seit 2016 erhalten die Rückkehr/innen nur Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft (siehe Jangalak-Aufnahmezentrum). Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben – und zu welchen Bedingungen – sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Ausführliche Informationen zu den Programmen und Maßnahmen der erwähnten Organisationen sowie weitere Unterstützungsmaßnahmen können dem FFM-Bericht Afghanistan 4.2018 entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.
Die Rolle unterschiedlicher Netzwerke für Rückkehrer/innen
Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile „universell“ geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen „professionellen“ Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (Punkt 21 und 22 des LIB)
Auch die Voraussetzungen der „EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019“ für länger im Ausland aufhältige Rückkehrer sind erfüllt. Auf den Seiten 136 und 139 des Berichtes wird Folgendes ausgeführt:
"Local knowledge: Having lived in Afghanistan and/or being familiar with the societal norms is an important factor to take into account when assessing the reasonableness of IPA. […]"
"Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsis-tence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations.
For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence."
Der BF hat selbst zumindest bis zu seinem 10 Lebensjahr in AFGHANISTAN gelebt und damit die Gelegenheit die lokalen Sitten und Gebräuche kennenzulernen und beherrscht Paschtu und Dari. Er hat auch in Österreich mit Afghanen verkehrt und eine große Kernfamilie (Mutter, zwei Schwestern, Onkel väterlicherseits) in Afghanistan. Da diese ihren Lebensunterhalt durch ihre eigene Landwirtschaft und dem Lebensmittelgeschäft bestreiten, kann er deren Netzwerk nutzen und Unterstützung bei der Versorgung seiner Grundbedürfnisse erwarten. Er wird in der Lage sein, selbst, wenn diese nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen sollten, durch die Fähigkeiten, die er sich in Österreich angeeignet hat, eine Arbeit zu finden. Auch wenn er dort keinen Abschluss vorweisen kann, verfügt er für afghanische Verhältnisse über brauchbare Bildung, kann moderne Kommunikationsmittel bedienen und beherrscht die beiden Landessprachen, sodass der Wissenstransfer gesichert ist.
Zur COVID-19 Situation in AFGHANISTAN ist der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 29.06.2020 zu entnehmen, dass sich die Epidemie dort ausbreitet, mehr als 30.000 Menschen erkrankt sind, eine hohe Dunkelziffer besteht und aufgrund der Armut und des darniederliegenden Gesundheitssystems praktisch keine wirksamen Maßnahmen getroffen werden können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf Maßnahmen wie Mund-Nasenschutz, stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner um ihre Existenz. Tagelöhner können aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten, das Gesundheitssystem ist fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Lt den Informationen der österr. Gesundheitsbehörden (://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html; https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/) gehört der BF als junger und gesunder Mann nicht zur Risikogruppe.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der BF ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat
Das BVwG trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
1.4.1. Auszug bzw. Zusammenfassung aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019.
Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19:
Stand 21.7.2020
Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan
Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).
Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).
Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe
Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).
Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).
Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).
Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).
Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).
Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).
Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans
Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).
In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).
In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).
In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).
[…]
Wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).
Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).
Einreise und Bewegungsfreiheit
Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).
Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).
Das LIB der Staatendokumentation führt zur SICHERHEITSLAGE im Punkt 2 im Wesentlichen aus:
„Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen derafghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).
Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).
[…]