Entscheidungsdatum
11.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I403 2234854-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörige Marokkos, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH (ARGE Rechtsberatung), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2020, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin stellte am 20.06.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdwesen und Asyl vom 07.08.2020 abgewiesen wurde. Der Beschwerdeführerin wurde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG wies die belangte Behörde auch den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Marokko ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde der Beschwerdeführerin nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Marokko gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG besteht keine Frist für eine Ausreise (Spruchpunkt VI.) Die belangte Behörde erkannte einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.). Dagegen wurde fristgerecht am 07.09.2020 Beschwerde erhoben und diese am 09.09.2020 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Marokko. Ihre Identität steht fest. Sie ist gesund und arbeitsfähig. Die Beschwerdeführerin ist muslimischen Glaubens.
Die Familie, von der die Beschwerdeführerin unmittelbar nach ihrer Geburt adoptiert wurde, lebt in Rabat; die Beschwerdeführerin steht mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, zu denen sie ein gutes Verhältnis hat, in Kontakt. Der Vater ist ein pensionierter Soldat, die Mutter Hausfrau. Der Bruder absolviert eine Ausbildung zum Mechaniker. Die Beschwerdeführerin selbst hat in Rabat im Alter von 25 Jahren ein Studium der Informatik abgeschlossen. Ihr gelang es aber nicht, eine passende Anstellung als Informatikerin zu finden.
Die Beschwerdeführerin reiste – mit einer Aufenthaltsbewilligung der österreichischen Botschaft in Rabat vom 02.06.2019 bis 24.03.2020 - am 02.06.2019 in das Bundesgebiet ein und war zunächst als Au-Pair Mädchen bei einer österreichischen Familie beschäftigt. Im August 2019 verließ sie unangekündigt in der Nacht die Gastfamilie. Auch bei der nächsten Familie blieb die Beschwerdeführerin nur drei Monate, obwohl ihre entsprechende Aufenthaltsbewilligung für die Tätigkeit als Au Pair bis März 2020 gültig war. Sie reiste im Dezember 2019 nach Deutschland, um eine Anstellung zu finden, kehrte aber wieder nach Österreich zurück, ehe sie sich im Februar 2020 wieder nach Deutschland begab, wo sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen wollte. Aufgrund des Aufkommens der Covid-19-Pandemie konnte sie die Stelle aber nicht antreten. Sie kehrte im April 2020 nach Österreich zurück und wohnte bei Freunden. Am 19.06.2020 wurde ihr die Einreise nach Deutschland verweigert. Sie wurde nach Österreich zurückgeschoben und stellte am folgenden Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Die Beschwerdeführerin befindet sich erst seit etwas über einem Jahr in Österreich und führt hier kein Familienleben. Sie spricht gut Deutsch. Sie hat sich unentschuldigt aus der Einrichtung der Grundversorgung entfernt und wurde am 29.08.2020 abgemeldet. Sie verfügt aktuell über keinen Wohnsitz in Österreich und ist unbekannten Aufenthalts.
Der Beschwerdeführerin droht in Marokko keine Verfolgung und keine existentielle Bedrohung. Sie wird auch nicht von ihrem Cousin bedroht und hat sie auch mit keinen Sanktionen durch ihre Familie zu rechnen, wenn sie nach Rabat zurückkehrt.
1.2. Zur Situation in Marokko:
Marokko ist ein sicherer Herkunftsstaat.
Die folgenden – unwidersprochen gebliebenen - Feststellungen wurden dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Marokko (Stand: 09.07.2020) entnommen:
1.2.1. Zur Sicherheitslage
Marokko kann grundsätzlich als stabiles Land betrachtet werden (EDA 9.7.2020). Das französische Außenministerium rät bis auf einige Regionen zu normaler Aufmerksamkeit im Land, dem einzigen in Nordafrika, das auf diese Weise bewertet wird (FD 9.7.2020). In den Grenzregionen zu Algerien wird zu erhöhter Aufmerksamkeit geraten (FD 9.7.2020), bzw. wird von Reisen abgeraten (AA 9.7.2020).
Die Westsahara darf nur nach Genehmigung durch die marokkanischen Behörden und nur auf genehmigten Strecken bereist werden (FD 9.7.2020). Zusätzlich besteht für die Grenzregionen zu Mauretanien in der Westsahara eine Reisewarnung (AA 9.7.2020; vgl. FD 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020).
Im Jahr 2019 konnte Marokko sein Terrorismusrisiko weitgehend eindämmen und die Zahl der Verhaftungen im Vergleich zu 2018 verdoppelt. Das Land sah sich jedoch weiterhin sporadischen Bedrohungen ausgesetzt, die hauptsächlich von kleinen, unabhängigen Terrorzellen ausgingen, von denen die meisten angeben, sie seien vom Islamischen Staat (IS) inspiriert oder mit ihm verbunden. Im März 2019 repatriierte Marokko acht Kämpfer aus Syrien. Im Jahr 2019 wurden in Marokko keine terroristischen Vorfälle gemeldet (USDOS 25.6.2020).
Demonstrationen und Protestaktionen sind jederzeit im ganzen Land möglich (EDA 9.7.2020; vgl. IT-MAE 9.7.2020). Auch nicht genehmigte Demonstrationen verlaufen meist friedlich, es kommt jedoch vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Proteste entzünden sich meist an wirtschaftlichen und sozialen Missständen (IT-MAE 9.7.2020; vgl. AA 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020, EDA 9.7.2020). In der Region Rif kann es zu Übergriffen durch Kriminelle kommen, die in Drogenproduktion und -handel involviert sind (FD 9.7.2020; vgl. EDA 9.7.2020).
In großen Teilen der Sahara sind bewaffnete Banden und islamistische Terroristen aktiv, die vom Schmuggel und von Entführungen leben. Das Entführungsrisiko ist in einigen Gebieten der Sahara und der Sahelzone hoch und nimmt noch zu. Die Grenze zu Algerien ist geschlossen (AA 9.7.2020; vgl. EDA 9.7.2020, BMEIA 9.7.2020).
Das völkerrechtlich umstrittene Gebiet der Westsahara erstreckt sich südlich der marokkanischen Stadt Tarfaya bis zur mauretanischen Grenze. Es wird sowohl von Marokko als auch von der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario beansprucht. Die United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara MINURSO überwacht den Waffenstillstand zwischen den beiden Parteien. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie (Sandwall) sind diverse Minenfelder vorhanden (EDA 9.7.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (9.7.2020): Marokko - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/marokko-node/marokkosicherheit/224080, Zugriff 9.7.2020
- BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.7.2020): Reiseinformation Marokko, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/marokko/, Zugriff 9.7.2020
- EDA - Eidgenössisches Departemenet für auswärtige Angelegenheiten (9.7.2020): Reisehinweise für Marokko, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/marokko/reisehinweise-marokko.html, Zugriff 9.7.2020
- FD - France Diplomatie (9.7.2020): Conseils aux Voyageurs - Maroc - Sécurité, https://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays-destination/maroc/#derniere_nopush, Zugriff 9.7.2020
- IT-MAE - Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale (9.7.2020): Viaggiare Sicuri – Marocco, http://www.viaggiaresicuri.it/country/MAR, Zugriff 9.7.2020
- USDOS - United States Department of State (24.6.2020): Country Reports on Terrorism 2019 – Chapter 1 - Morocco, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032530.html, Zugriff 9.7.2020
1.2.2. Zur Lage von Frauen
Die Lage der Frauen in Marokko ist gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Status und der Lebenswirklichkeit. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge aufgrund traditioneller Einstellung fort. Zwar garantiert die Verfassung von 2011 in Art. 19, dass „Männer und Frauen gleichberechtigt die Rechte und Freiheiten ziviler, politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ökologischer Natur“ genießen, schränkt diese Rechte durch Bezugnahme auf den Islam als Staatsreligion aber wieder ein. In internationalen Abkommen hat sich Marokko zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen verpflichtet, aber auch hier den Vorrang des Islams geltend gemacht (AA 14.2.2018). So sehen sich Frauen auf gesellschaftlicher Ebene nach wie vor mit erheblicher Diskriminierung konfrontiert und sind in der Erwerbsbevölkerung unterrepräsentiert (FH 4.3.2020; vgl. AI 18.2.2020).
Obwohl die Änderung des Familienrechts zugunsten der Frauen vom 6.2.2004 („Moudawana“) mit den Grundsätzen
- Abschaffung der Gehorsamspflicht der Ehefrau“ (AA 14.2.2018; vgl. GIZ 5.2020b),
- Anhebung des grundsätzlichen Ehefähigkeitsalters der Frau auf 18 Jahre (AA 14.2.2018; vgl. HRW 14.1.2020). Allerdings erlaubt das Gesetz Richtern, auf Antrag der Familie "Ausnahmen" für die Eheschließung minderjähriger Mädchen im Alter von 15 bis 18 Jahren zu gewähren. Im Jahr 2018 wurden 40.000 solcher Ausnahmen gewährt, was fast 20 % der im Laufe des Jahres registrierten Eheschließungen entspricht, was Justizminister Mohamed Aujjar als "einen alarmierenden Anstieg" bezeichnete (HRW 14.1.2020).
- Abschaffung der Hinzuziehung eines Vormunds zur Eheschließung für volljährige Frauen (AA 14.2.2018; vgl. GIZ 5.2020b),
- Einführung der gerichtlichen Ehescheidung (GIZ 5.2020b),
- Abschaffung der einseitigen Verstoßung für den Ehemann, Einführung des Zerrüttungsprinzips, relativ weitgehende Gleichstellung von Männern und Frauen im Scheidungsrecht (GIZ 5.2020b),
- Polygamie nur noch in genehmigten Ausnahmefällen (AA 14.2.2018),
und mit der Einrichtung von Familiengerichten eine deutliche Verbesserung der Rolle der Frau geschaffen hat, gibt es weiter Defizite in der Gleichberechtigung, wie z. B. die ungleiche Behandlung im Erb- und Familienrecht. Der Menschenrechtsrat CNDH kritisiert Gesetzentwurf das Fehlen von Definitionen von Gleichstellung und Diskriminierung und fordert Reformen (AA 14.2.2018).
Von einer wirklichen rechtlichen und sozialen Gleichstellung sind Frauen und Männer in Marokko noch weit entfernt. In der marokkanischen Gesellschaft dominieren weiterhin patriarchale Einstellungen und diskriminierende Verhaltensweisen. Viele der ehrgeizigen Gesetzesreformen werden bislang nur partiell umgesetzt (GIZ 5.2020b).
Das Familiengesetzbuch von 2004 räumte Frauen mehr Rechte in den Bereichen Ehe, Scheidung und Sorgerecht für Kinder ein, obwohl es nach wie vor eine Reihe von Ungerechtigkeiten und Einschränkungen gibt und die Umsetzung des Gesetzes uneinheitlich erfolgt (FH 4.3.2020). Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist illegal und strafbar (FH 4.3.2020; vgl. AA 14.2.2019) und hält Vergewaltigungsopfer davon ab Anzeige zu erstatten (FH 4.3.2020). Alle ledigen Mütter sind damit von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. Tatsächlich wird außerehelicher Geschlechtsverkehr nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt. Meist geschieht dies auf Anzeige von Familienangehörigen und nur in Ausnahmefällen auch direkt durch den Staat (AA 14.2.2018).
Seit Mitte der 1980er Jahre sind in Marokko immer mehr NGOs entstanden, die sich gleichzeitig für Demokratie und für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzen. Die politisch einflussreichsten dieser NGOs sind die Association Démocratique des Femmes Marocaines (ADFM), die Fédération de la Ligue Démocratique pour la Défense des Droits des Femmes (FLDDF), die Association Marocaine des Droits des Femmes (AMDF) und die Union de L'Action Féminine (UAF) (GIZ 5.2020b).
Ein Gesetz von 2018 kriminalisiert häusliche Gewalt und Zwangsheirat und verhängt strengere Strafen für Vergewaltigung. Obwohl das Gesetz als Fortschritt angesehen wurde, äußerten sich Kritiker dahingehend, dass das Gesetz Vergewaltigung in der Ehe nicht verbietet, keine klare Definition von häuslicher Gewalt enthält und die Regierung nicht verpflichtet, die Opfer stärker zu unterstützen (FH 4.3.2020). Vergewaltigung steht unter Strafe. Das Strafmaß beträgt fünf bis zehn Jahre; wenn das Opfer minderjährig ist, zehn bis zwanzig Jahre (USDOS 11.3.2020). Es kommt häufig zu Gewalt gegen Frauen. Die Straftaten Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe sind nicht gesondert kodifiziert. Diese Fälle werden von den betroffenen Frauen in aller Regel nicht zur Anzeige gebracht. Kommt es zu einer Anzeige, gestaltet sich der Nachweis der Straftat schwierig (AA 14.2.2018; USDOS 11.3.2020). Am 12.9.2018 trat ein neues Gesetz in Kraft (GIZ 5.2020b; vgl. USDOS 11.3.2020), das einen stärkeren Rechtsrahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, sexueller Belästigung und Missbrauch schafft (GIZ 5.2020b). Häusliche Gewalt wird aufgrund der sozialen Stigmatisierung selten angezeigt oder bestraft (FH 4.3.2020; vgl. AI 18.2.2020). Mit dem Gesetz über Gewalt gegen Frauen werden einige Formen häuslicher Gewalt kriminalisiert und Präventivmaßnahmen eingeführt, aber es legt weder die Pflichten von Polizei, Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern in Fällen häuslicher Gewalt fest noch finanziert es Frauenhäuser (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020).
Die Zahl der Frauen, die sich trauen, Vergewaltigungen und Übergriffe bei der Polizei anzuzeigen, ist rapide gestiegen (GIZ 5.2020b). Nach dem neuen Gesetz kann eine Verurteilung wegen sexueller Gewalt zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren und einer Geldstrafe von 2.000 bis 10.000 Dirhams (210 bis 1.050 $) führen. Allgemeine Beleidigungs- und Verleumdungsklagen bleiben im Strafgesetzbuch. Einige NGOs für Frauenrechte kritisierten die mangelnde Klarheit der Verfahren und des Schutzes für die Meldung von Missbrauch nach dem neuen Gesetz (USDOS 11.3.2020.
Viele Richter sind voreingenommen und urteilen zugunsten des Mannes. Neben gesellschaftlichen Ursachen (Gewalt gegen Frauen, insbesondere in der Familie, wird von den meisten Männern als legitim betrachtet) gibt es auch staatliche und rechtliche Defizite. Die Anzahl von Frauenhäusern und Zufluchtsorten für Frauen ist begrenzt (AA 14.2.2019). Nach Angaben von lokalen NGOs meldeten Opfer die überwiegende Mehrheit der sexuellen Übergriffe nicht an die Polizei, da sie unter sozialem Druck standen und befürchteten, dass die Gesellschaft die Opfer höchstwahrscheinlich zur Verantwortung ziehen würde. Die Polizei untersucht Fälle selektiv; von der geringen Zahl, die vor Gericht gestellt werden, bleiben erfolgreiche Strafverfolgungen selten (USDOS 11.3.2020). Missbrauch von Kindern und Kinderprostitution ist ein verbreitetes Problem, Statistiken hierzu sind nicht erhältlich. In der Mehrzahl der Fälle von Kinderprostitution handelt es sich um Kinder aus ländlichen Gegenden, die zum Geldverdienen in Städte geschickt werden. Das Strafgesetz sieht eine Strafe für die sexuelle Ausbeutung von Jugendlichen vor. Strafverschärfende Maßnahmen gelten bei minderjährigen Opfern (Art 497, 498 Strafgesetzbuch). Verurteilte Vergewaltiger und Pädophile sind von einer möglichen Amnestie ausgeschlossen. In der Praxis kommt es selten zur Strafverfolgung dieser Tatbestände (AA 14.2.2018).
Das Gesetz verlangt gleichen Lohn für gleiche Arbeit, obwohl dies in der Praxis nicht der Fall ist. Die Regierung leitete einige Anstrengungen zur Verbesserung der Stellung von Frauen am Arbeitsplatz, insbesondere das vom Parlament im August 2017 errichtete Verfassungsmandat für die Schaffung einer Behörde für Geschlechterparität und die Bekämpfung aller Formen der Diskriminierung. Die Gender Parity Authority ist jedoch noch nicht funktionsfähig (USDOS 11.3.2020). Auch im Berufsleben bleibt die Lage der Frauen schwierig, insbesondere auf dem Land, wo patriarchale Strukturen dominant sind. In höheren Ämtern nimmt der weibliche Anteil im Vergleich mit männlichen Amtsinhabern rasch ab, auch wenn Frauen vereinzelt besonders exponierte Führungspositionen einnehmen. Bei den Parlamentswahlen wurden lediglich 10 von 305 direkt gewählten Parlamentsmandaten von Frauen gewonnen. 90 weitere Sitze sind über eine spezielle Liste für Frauen und junge Menschen reserviert (AA 14.2.2018; vgl. FH 4.3.2020).
Beim Gender-Ranking des Weltwirtschaftsforums von Davos bildet Marokko regelmäßig das Schlusslicht (aktuell Platz 143 von 149). Maßgeblich für die schlechte Platzierung sind die rechtliche Diskriminierung marokkanischer Mädchen und Frauen sowie die geringe Partizipation am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft. Im Landesdurchschnitt sind nur 22% der Frauen im erwerbstätigen Alter berufstätig: In den Städten sind es noch weniger (GIZ 5.2020b).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (14.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/1424844/4598_1519120123_auswaertiges-amt-bericht-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-im-koenigreich-marokko-stand-november-2017-14-02-2018.pdf, Zugriff 5.9.2019
- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Morocco and Western Sahara, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025837.html, Zugriff 7.7.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Morocco, https://www.ecoi.net/de/dokument/2030898.html, Zugriff 2.7.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (5.2020a), LIPortal - Marokko - Gesellschaft, https://www.liportal.de/marokko/gesellschaft/, Zugriff 2.7.2020
- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Morocco, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022718.html, Zugriff 7.7.2020
- USDOS - United States Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Morocco, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/MOROCCO-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.4.2020
1.3. Anfragebeantwortung zu Marokko: Lage von alleinstehenden Frauen ohne familiäre Unterstützung: Schutz durch den Staat, insbesondere vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, Aufbau eines eigenständigen Lebens [a-11184], 3. Februar 2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2029985.html
Gesellschaftliche Situation alleinstehender Frauen
In einem Bericht zu Gewalt gegen Frauen vom März 2018 beruft sich EuroMed Rights (EMHRN), ein Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, Menschenrechte und demokratische Reformen in Europa und dem Mittelmeerraum zu stärken, auf einen im Juli 2016 veröffentlichten Jahresbericht zu 2015 des Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes (ONVEF), das 2014 im marokkanischen Ministerium für Soziale Entwicklung, Familien und Solidarität eingerichtet wurde. Demnach seien unverheiratete Frauen in der marokkanischen Gesellschaft stigmatisiert und es bestehe für sie ein erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Da die Arbeitslosigkeit unter Frauen hoch sei, und die Zahl der Frauen mit Bildungsabschluss, die in den Arbeitsmarkt eintreten würden, sinke, seien sie außerdem anfälliger für Armut:
„Unmarried women are stigmatised in Moroccan society and run a higher risk of suffering sexual violence according to the ONVEF’s report. They are more vulnerable to poverty, given that unemployment is high among women and the number of female graduates entering employment is in decline.” (EMHRN, März 2018, S. 4-5)
Der oben von EMHRN erwähnte Bericht von ONVEF aus dem Jahr 2016 konnte nicht gefunden werden.
Der Jahresbericht von ONVEF aus dem Jahr 2015, vergleicht Daten von Klägerinnen, welche Fälle von (sexueller Gewalt) vor Gericht gebracht haben, aus den Jahren 2013 und 2014. Demnach betrafen 2014 mehr als die Hälfte aller sexuellen Übergriffe alleinstehende Frauen (781 Fälle, 53,6%), im Vergleich zu 20,19% verheirateten und 22,9% geschiedenen Frauen. 2013 wurden 862 der Klagen von unverheirateten, 242 von verheirateten und 319 von geschiedenen Frauen eingebracht:
„Réparties par l’état matrimonial, les agressions sexuelles touchent essentiellement les femmes célibataires. 781 (53,6%) femmes célibataires ont subi des violences sexuelles contre 293 (20,1%) femmes mariées et 333 (22,9%) femmes divorcées en 2014 (en 2013, 862 célibataires, 242 mariées et 319 divorcées).“ (ONVEF 2015, S. 22)
In einem Interview mit dem marokkanischen Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, das im Jänner 2018 auf der Webseite der Universitat Oberta de Catalunya (UOC) veröffentlicht wurde, äußert sich der Soziologe zu gesellschaftlichen Verhältnissen in Marokko. Während die Ehe in der westlichen Welt schwierige Zeiten durchmache, sei sie in Marokko nach wie vor sehr bedeutend, sie sei die Norm. Um sozial integriert und anerkannt zu werden, müsse man heiraten. Blieben sie unverheiratet, machten sich Männer verdächtig, für Frauen sei es unehrenhaft. Nach der Volkszählung von 2014 sei das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen 26 Jahre und für Männer 31:
“Marriage is experiencing difficult times in the Western world and yet in Morocco it continues to be very important. It is the norm. To be socially integrated and recognized, you need to marry. Staying single is suspicious for men and dishonourable for women. According to the 2014 national census, the average age for marriage is 26 for women and 31 for men.” (UOC, 9. Jänner 2018)
In einem Artikel über Frauengesundheit in Marokkos soziokulturellem Kontext der englischen Online-Zeitung The Maghreb Times vom August 2019 wird über Schwierigkeiten der Ausübung von Sexualität von unverheirateten Frauen berichtet. Frauen, die sich dazu entschließen würden unverheiratet Geschlechtsverkehr zu haben, stünden einem Dilemma gegenüber. Wenn sie schwanger würden, wäre das der Beweis für ihr unakzeptables sexuelles Verhalten. Dieser Skandal könne zu familiären und sozialen Problemen führen. Eine Frau könne dazu gedrängt werden einen Mann zu heiraten, den sie nicht wolle oder es riskieren wegen eines unehelichen Kindes stigmatisiert zu werden. Der logische Schritt für eine sexuell aktive Frau, in dieser außerehelichen Sex stigmatisierenden Atmosphäre, sei, alle Schritte zu unternehmen, dass es nicht zu einer Schwangerschaft außerhalb einer ehelichen Beziehung komme. An dieser Stelle würden Dinge allerdings kompliziert, da eine unverheiratete Frau, die Verhütungsmittel verwende, dadurch offensichtlich mache, dass sie ein verbotenes Sexualleben habe. Die Angst, dass ihre Freunde, Familie oder die Gemeinschaft (community) es herausfinden könnten, würde es für eine Frau fast unmöglich machen, an Verhütungsmittel zu kommen. Das starke kulturelle Ideal, welches verneine, dass Frauen unabhängig von ihrem Beziehungsstatus ein Recht auf Sexualität hätten, schafft eine Situation in welcher der beides stigmatisiert sei, Schwangerschaft außerhalb der Ehe sowie Maßnahmen um eine solche zu verhindern:
„Women who choose to have sex outside of the realm of marriage face a dilemma. If they become pregnant, they will have proof that they have engaged in unacceptable sexual behavior. This scandal could lead to family and social problems. A woman may be pressured into marrying a man she does not want to or risk being stigmatized for having a child outside of marriage. The logical step for a sexually active woman to take, in this atmosphere stigmatizing extramarital sex, would be taking all steps to prevent pregnancy outside of marriage. This is where things get difficult, however. An unmarried woman using contraception would make it obvious that she is having a forbidden sexual life. Anxiety around her friends, family, or community finding out that she has been procuring contraceptives may make it nearly impossible for a woman to access these items. The strong cultural ideal against women having a free right to sex regardless of their relationship status creates a situation in which both extramarital pregnancy and methods taken to prevent pregnancy are stigmatized.” (The Maghreb Times, 24. August 2019)
Situation und Stellung der Frau in der marokkanischen Gesellschaft
Auf dem Länder-Informations-Portal der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), eine staatliche Entwicklungszusammenarbeitsorganisation der Bundesrepublik Deutschland, finden sich auf der Länderseite zu Marokko unter der Überschrift Geschlechterverhältnisse folgende Informationen:
„In Sachen Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen hat Marokko im weltweiten Vergleich Nachholbedarf. Beim Gender-Ranking des Weltwirtschaftsforums von Davos bildet Marokko regelmäßig das Schlusslicht (aktuell Platz 143 von 149). Maßgeblich für die schlechte Platzierung sind die rechtliche Diskriminierung marokkanischer Mädchen und Frauen sowie die geringe Partizipation am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft. Im Landesdurchschnitt sind nur 22 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter berufstätig: In den Städten sind es noch weniger.“ (GIZ, Dezember 2019)
Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schildert in einem Länderreport vom Juni 2019 die gesellschaftliche Stellung von Frauen in der marokkanischen Gesellschaft wie folgt:
„Marokko ist eine eher männlich dominierte Gesellschaft. Trotz der in der neuen Verfassung von 2011 festgeschriebenen Gleichberechtigung von Männern und Frauen und Verbesserungen im Familienrecht im Jahr 2004 (z.B. gerichtliche Scheidung und weitgehende Gleichstellung im Scheidungsrecht, Abschaffung der Gehorsamspflicht und der einseitigen Verstoßung, Festlegung der Ehefähigkeit der Frau auf 18 Jahre und Polygamie nur im Ausnahmefall) sind Frauen rechtlich und sozial nicht gleichgestellt. Defizite gibt es weiterhin insbesondere in erbrechtlichen Angelegenheiten. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist nach wie vor verbreitet. Frauen können Opfer von Belästigung, Handgreiflichkeiten und Vergewaltigung in und außerhalb der Familie, Zwangsverheiratung oder Menschenhandel werden. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge und traditionelle Einstellungen fort. Der rechtliche Rahmen zum Schutz von Frauen wurde in den letzten Jahren zwar immer wieder verbessert, jedoch verläuft die Umsetzung im Alltag der patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft zäh.“ (BAMF, 3. Juni 2019, S. 11)
Freedom House, eine Nichtregierungsorganisation mit Hauptsitz in Washington, D.C., die sich mit der Untersuchung und Förderung von Demokratie, politischer Freiheit und Menschenrechten weltweit beschäftigt, schreibt in ihrem Bericht Freedom in the World 2019 zum Thema Gleichberechtigung verschiedener Gruppen in den Bereichen Gesetzgebung, Politik und Umsetzung (laws, policies and practices), dass die Gleichberechtigung der Geschlechter zwar in der Verfassung von 2011 anerkannt ist, auf gesellschaftlicher Ebene Frauen aber nach wie vor signifikanter Diskriminierung ausgesetzt und am Arbeitsmarkt stark unterrepräsentiert seien:
„Gender equality was […] recognized in the 2011 constitution, but women continue to face significant discrimination at the societal level and are seriously underrepresented in the labor force.” (Freedomhouse, 4. Februar 2019, Abschnitt F4)
In dem zuvor erwähnten Interview mit dem Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, antwortet Dialmy auf die Frage wie die Kultur der Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen weitergegeben werde, dass dies in der Familie selber in einer frühen Phase der Sozialisierung passiere. Die Aufgaben würden nach sozialem Geschlecht (gender) bereits in einem frühen Alter verteilt: die Buben gehen hinaus und die Mädchen bleiben zu Hause. Der Mann hat in der Öffentlichkeit Präsenz und eine Stimme, während Frauen dies nur zu Hause zusteht. Die Schule vermittle ebenfalls diese Kultur, dass Frauen minderwertiger wären, dass sie ihren Körper verbergen müssten und sie der Ursprung sozialen Chaos‘ und des Bösen wären:
„ How is this culture of men's superiority over women transmitted?
[Abdessamad Dialmy:] Within the family itself, in the early stages of socialization. The domestic chores are divided according to gender from a very early age: boys go out and girls stay at home. The man has a presence and a voice in the public sphere but women only in the home. The school transmits this culture that women are inferior, that they must conceal their body, that they are the origin of social chaos and evil.” (UOC, 9. Jänner 2018)
Umfassende Informationen zu weiblicher Mobilität in Rabat finden sich in einer älteren Forschungsarbeit der Soziologin Safaa Monqid aus dem Jahr 2011. Sie führte in den Jahren von 2000 bis 2003 eine Studie in Rabat durch, um das Verhältnis von Frauen zu privaten und öffentlichen Räumen der Stadt zu untersuchen. Für die Studie wurden 53 Frauen im Alter von 19 bis 70 interviewt. Unter anderem thematisiert sie Einschränkungen in der Mobilität von Frauen durch sexistische soziale Normen (Vorbehalt öffentlicher Räume für Männer), die Erhöhung dieser Mobilität und Zugang zum öffentlichen Raum durch ökonomische Besserstellung, dass weibliche Präsenz in der Stadt in der Nacht sozial kaum toleriert werde, die Angst vor sexuellen Übergriffen und von Bewältigungsmechanismen (coping mechanisms):
· Monqid, Safaa: Heavy wings: women’s urban lives in deprived neighbourhoods of Rabat, Morocco, 2011, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01722414/document
Sexuelle und (andere) gewalttätige Übergriffe auf Frauen und staatlicher Schutz
Ein Artikel der deutschsprachigen Online-Nachrichtenseite Maghreb-Post berichtet in einem Artikel vom Mai 2019, dass die Ministerin für Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, im Mai 2019 eine Studie über die Verbreitung von Gewalt gegen Frauen vorgestellt habe, bei der insgesamt 8.000 Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt worden seien. Die Studie ergebe, dass Gewalt gegen sowie Belästigung von Frauen weit verbreitet seien:
„54,4% der befragten marokkanischen Frauen gaben an, dass sie in ihrem Leben schon einmal eine Form von Gewalt erlebt haben. […] Anzügliche Bemerkungen, Pfeifen, Beleidigungen, körperliche Annäherungen, Gewalt sowie Schikanen auf offener Straße sind einige der am häufigsten hervorgehobenen Formen, wenn es darum geht, dieses gesellschaftliche Problem anzugehen. Laut der Studie des Ministeriums von Bassima Hakkaoui haben 12,4% der marokkanischen Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren bereits in der Vergangenheit Gewalt an öffentlichen Orten erlitten. Ein Prozentsatz, der sich im Vergleich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten unterscheidet, in dem Sinne, dass Frauen in ländlichen Gebieten, insbesondere im Eheleben, mit 19,6% stärker der Gewalt ausgesetzt sind, gegenüber 16,9% für Frauen in städtischen Gebieten. Eine Erkenntnis, die sich auch in der Studentengemeinde bemerkbar macht. Die Umfrage zeigt, dass 25,5% der Studentinnen in ländlichen Gebieten Gewalt ausgesetzt sind, verglichen mit 21,5% in städtischen Gebieten. Insgesamt gaben 54,4% der befragten Frauen an, dass sie mindestens eine Form von Gewalt erlebt haben und etwa ein Drittel (32,8%) von ihnen sogar in mehreren Formen. […]
Opfer wagen sich selten an die Öffentlichkeit
Das Schweigen zu brechen ist weiterhin ein schwieriger Schritt.
Nur 6,6% der misshandelten Frauen reichen eine Anzeige oder Beschwerde gegen ihren Täter ein. Ein sehr niedriger Wert, der in ländlichen Gebieten noch geringer ist (4,2% gegenüber 7,7% in städtischen Gebieten). Die Ministerin für Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, erklärte, dass Schweigen einer der erschwerenden Faktoren für die ‚Tragödie misshandelter Frauen‘ sei, berichtete die marokkanische – staatliche Nachrichtenagentur MAP. Nur 28,2% der Frauen wagten es, über die Gewalt zu sprechen, die ihnen durch eine Person oder Institution widerfahren war. In ländlichen Gebieten haben weniger als 21% von ihnen sich einer dritten Person anvertraut.“ (Maghreb-Post, 17. Mai 2019)
Am 5. Juli 2018 wurde im Amtsblatt des Königreichs Marokko das Dekret Nr. 1-18-19 (Dahir n° 1-18-19) betreffend das Gesetz Nummer 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen veröffentlicht (Dahir n° 1-18-19, 5. Juli 2018). Laut dem US-Außenministerium (USDOS) und der Maghreb-Post ist das Gesetz im September 2018 in Kraft getreten (Maghreb-Post, 17. Mai 2019; USDOS, 13. März 2019, Section 6). USDOS schreibt in seinem Country Report on Human Rights Practices vom März 2019, dass es einen stärkeren rechtlichen Rahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, sexueller Belästigung und Misshandlung biete. Laut dem neuen Gesetz könne die Verurteilung aufgrund eines sexuellen Übergriffs zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren und einer Strafe von 2.000 bis 10.000 Dirham (ca. 190 bis 940 Euro) führen. Für Beleidigung und Diffamierung aufgrund des Geschlechts könne eine Strafe von 60.000 bis 20.000 Dirham (ca. 5650 bis 11.300 Euro) verhängt werden:
„On September 12, a new law came into effect that provides a stronger legal framework to protect women from violence, sexual harassment, and abuse. Under the new law, a sexual assault conviction may result in a prison sentence of six months to five years and a fine of 2,000 to 10,000 dirhams ($210 to $1,050). For insults and defamation based on gender, an individual may be fined up to 60,000 dirhams for insults and up to 120,000 dirhams for defamation ($6,300 to $12,600).” (USDOS, 13. März 2019, Section 6)
Gemäß USDOS haben Nichtregierungsorganisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen, kritisiert, dass es an Klarheit in Verfahren und an Schutzmechanismen im Falle des Meldens von Übergriffen fehle. In der Vergangenheit hätten Behörden Gesetze gegen sexuelle Belästigung nicht wirksam verfolgt, die Auswirkungen des neuen Gesetzes seien zum Ende des Jahres 2018 noch nicht klar gewesen. Gemäß lokalen Nichtregierungsorganisationen würde die große Mehrheit von Fällen sexueller Belästigung aufgrund sozialen Drucks und der Sorge, dass die Gesellschaft höchstwahrscheinlich die Opfer dafür verantwortlich mache, nicht der Polizei gemeldet werden. Die Polizei würde selektiv Fälle untersuchen, unter den wenigen die zu Gericht gebracht würden, seien die erfolgreichen Verurteilungen selten:
„Some women’s rights NGOs criticized the lack of clarity in procedures and protections for reporting abuse under the new law. In the past, authorities did not effectively enforce laws against sexual harassment; the impact of the new law was not yet clear by year’s end. According to local NGOs, survivors did not report the vast majority of sexual assaults to police due to social pressure and the concern that society would most likely hold the victims responsible. Police selectively investigated cases; among the minority brought to trial, successful prosecutions remained rare.” (USDOS, 13. März 2019, Section 6)
In einem Artikel vom September 2018 schreibt die Maghreb-Post in einem Artikel zum neu verabschiedeten Gesetz 103-13:
„Neben der positiven Bewertung gibt es auch Kritik. Für einige Frauenverbände ist die Anwendung in der Praxis nicht klar genug geregelt. Daher befürchten sie, dass vor allem die Sicherheitsbehörden nicht in die Lage versetzt wurden, mit Beschwerden und Anzeigen von Frauen umzugehen. Administrative Defizite drohen Gesetz auszuhöhlen. Nur ein Gesetz zu erlassen, wird nicht reichen. Die Gewalt gegen Frauen, vor allem die sexuelle Gewalt, ist meist ein Ausdruck der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft und ein Instrument der Unterdrückung sowie Demütigung. Daher wird viel davon abhängen, dass über die Gesetzeslage breit informiert wird. Genau dies wird kritisiert. Viele Frauen sehen sich zu wenig über die neue Gesetzeslage aufgeklärt und haben kaum Kenntnis darüber, an wen sie sich ggf. wenden können. Zu befürchten ist, dass es viel Zeit bedarf, bis sich die Einstellung gegenüber Anzeigen von Frauen in Behörden und im öffentlichen Raum ändert. […] Die deutlichste Kritik an der Gesetzesnovelle ist die fehlende Ausarbeitung von Handlungsvorgaben für Polizei und Staatsanwaltschaft. Beobachter kritisieren, dass es zwar deutliche Strafanhebungen und die Schaffung neuer Straftatbestände gibt, aber die Beweisführung hat sich nicht geändert. Die betroffene Frau muss im konkreten Falle die Belästigung oder die Gewalt gegen sich nachweisen. So muss das Opfer z.B. aus eigenem Antrieb ein medizinisches Attest über die Gewalt und ihre Verletzungen beibringen, bevor die Staatsanwaltschaft ermitteln darf. Solange ist die Frau zunächst auf sich gestellt.“ (Maghreb-Post, 13. September 2018)
Die GIZ stellt auf der Länder-Informationsportalseite zu Marokko einen positiven Trend in der Meldung von Übergriffen fest:
„Doch es gibt auch positive Entwicklungen. 2018 wurde ein Gesetz zum Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt und Belästigung verabschiedet. Die Zahl der Frauen, die sich trauen, Vergewaltigungen und Übergriffe bei der Polizei anzuzeigen, ist rapide gestiegen.“ (GIZ, Dezember 2019)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 3. Februar 2020)
· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Rückkehr für unverheiratete alleinstehende Frauen mit Kindern [a-11154-1], 19. Dezember 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023859.html
· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Verurteilungen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr; Nennung von konkreten Fällen [a-11154-2 (11155)], 19. Dezember 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023860.html
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland): Länderreport 11 - Algerien, Marokko, Tunesien - Menschenrechtslage - Im Fokus: Vulnerable Personen, 3. Juni 2019, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2019/laenderreport-11-algerien-marokko-tunesien.pdf?__blob=publicationFile&v=5
· Dahir n° 1-18-19 du 5 joumada II 1439 (22 février 2018) portant promulgation de la loi n° 103-13 relative à la lutte contre les violences faites aux femmes [Dekret Nr. 1-18-19 vom 22. Februar 2018 betreffend die Verkündung des Gesetzes 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen], veröffentlicht im Bulletin Officiel Nr. 6688, 5. Juli 2018, http://www.sgg.gov.ma/BO/FR/2018/BO_6688_Fr.pdf?ver=2018-07-11-124300-213
· EMHRN – EuroMed Rights: Situation report on violence against women, März 2018, https://euromedrights.org/wp-content/uploads/2018/03/Factsheet-VAW-Morocco-EN-Mar-2018.pdf
· Freedom House: Freedom in the World 2019 - Morocco, 4. Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2006451.html
· GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit: LIPortal, Marokko, Dezember 2019, https://www.liportal.de/marokko/gesellschaft/
· Maghreb-Post: Marokko – Mehr als jede zweite marokkanische Frau Opfer von Gewalt, 17. Mai 2019, https://www.maghreb-post.de/politik/marokko-mehr-als-jede-zweite-marokkanische-frau-opfer-von-gewalt/
Maghreb-Post: Marokko – Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt und sexueller Belästigung tritt in Kraft, 13. September 2018, https://www.maghreb-post.de/gesellschaft/marokko-gesetz-zum-schutz-von-frauen-vor-gewalt-und-sexueller-belaestigung-tritt-in-kraft/
· Monqid, Safaa: Heavy wings: women’s urban lives in deprived neighbourhoods of Rabat, Morocco, 2011, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01722414/document
· ONVEF - Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes, Premier Rapport Annuel sur la Violence à l’Ègard des Femmes, 2015, http://www.social.gov.ma/sites/default/files/e%D8%AA%D9%82%D8%B1%D9%8A%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B1%D8%B5%D8%AF%20%D8%A7%D9%84%D9%88%D8%B7%D9%86%D9%8A%20%D9%84%D9%84%D8%B9%D9%86%D9%81%20%D9%8DFR%20OK.pdf
· The Maghreb Times: Women Health Concerns in the Sociocultural Context of Morocco, 24. August 2019, https://themaghrebtimes.com/08/24/women-health-concerns-in-the-sociocultural-context-of-morocco/
· UOC – Universitat Oberta de Catalunya: “Arab men are told they are superior to women from a very early age”, 9. Jänner 2018, https://www.uoc.edu/portal/en/news/entrevistes/2018/001-abdessamad-dialmy.html
· USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2018 - Morocco, 13. März 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004244.html
1.4. Zur Covid-19-Pandemie
Marokko hatte rasch nach dem Bekanntwerden der ersten Infektionsfälle einen „Gesundheitsnotstand“ ausgerufen und das öffentliche Leben massiv eingeschränkt. Nachdem die Covid-19-Pandemie damit zunächst gut beherrscht werden und die Ausbreitung eingedämmt werden konnte, stiegen die Ansteckungen zuletzt – wie in vielen anderen Ländern auch - aber stark an. Größtes Problem ist der schwach ausgeprägte Gesundheitssektor und dessen eingeschränkte Kapazitäten (Qantara). Bislang gibt es in Marokko 77.878 Infizierte, wobei 59.723 Personen wieder genesen und 1.453 Personen gestorben sind (Wordometer)
Quellen:
Qantara.de, Das Gespenst des Lockdowns ist wieder da, abrufbar unter https://de.qantara.de/inhalt/corona-krise-in-marokko-das-gespenst-des-lockdowns-ist-wieder-da
Worldometer, abrufbar unter https://www.worldometers.info/coronavirus/country/morocco/
2. Beweiswürdigung:
Die erkennende Einzelrichterin des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.
2.2. Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin steht aufgrund ihres dem BFA vorgelegten Reisepasses fest.
Die Feststellungen betreffend die Familie der Beschwerdeführerin in Marokko, ihrer Ausbildung und ihren Reisebewegungen nach Österreich bzw. Deutschland beruhen auf den Aussagen der Beschwerdeführerin bei ihren zwei Einvernahmen vor dem BFA und im Rahmen der Erstbefragung. Dass sie ihre Gastfamilie im August 2019 unangekündigt verlassen hatte, ergibt sich aus dem angefochtenen Bescheid, der sich diesbezüglich auf eine Email der Bezirkshauptmannschaft Perg vom 26.08.2019 stützt.
2.3. Zum Vorbringen der Beschwerdeführerin:
Der Beschwerdeführerin brachte im gegenständlichen Verfahren als Fluchtgrund vor, dass ihr Cousin sie seit Jahren sexuell belästigt und ihr gedroht habe, sie bei ihrer Rückkehr nach Marokko zu töten. Bei der Einvernahme durch die belangte Behörde am 09.07.2020, die durch eine weibliche Referentin in Anwesenheit einer weiblichen Dolmetscherin durchgeführt wurde, war die Beschwerdeführerin allerdings nicht in der Lage dieses Vorbringen glaubhaft zu machen. So gab sie einmal an, dass ihr Cousin sie vor zwei Jahren, dann wieder, dass er sie vor eineinhalb Jahren habe vergewaltigen wollen. Nach dem Monat oder dem Jahr gefragt, erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie dies nicht mehr wisse. Sie zog sich darauf zurück, dass sie traumatisiert gewesen sei und verdrängt habe, wann die versuchte Vergewaltigung stattgefunden habe. Nach Durchsicht des Protokolls entsteht allerdings vielmehr der Eindruck, dass die Beschwerdeführerin bewusst bei allen Fragen nach Daten oder Fakten konkrete Antworten vermied.
Die Beschwerdeführerin führte dann weiter aus, dass ihr Cousin bereits 2016 begonnen habe, sie sexuell zu belästigen. Auch hier war sie trotz mehrmaligen Nachfragens nicht in der Lage konkret zu schildern, wie sie durch ihren Cousin sexuell belästigt und berührt worden sei. Zudem gab die Beschwerdeführerin an, dass sie ihm seit 2016 fast täglich begegnet sei und er es „bei jeder Gelegenheit“ versucht habe. Insbesondere ist es nicht plausibel, dass ihr Cousin sie ständig in der Wohnung ihrer Eltern, in der die Beschwerdeführerin ebenfalls lebte, belästigte und unsittlich berührte, da die Gefahr einer Entdeckung wohl zu groß gewesen wäre, zumal die Beschwerdeführerin meinte, dass ihre Eltern teilweise im Nebenzimmer gewesen seien. Vollkommen unlogisch aber ist es, dass die Beschwerdeführerin angibt, dass während der drei Jahre, in denen sie von ihrem Cousin belästigt worden sei, nur ihre Mutter Bescheid gewusst habe und dies auch nur, weil die Beschwerdeführerin ihr davon erzählt hatte, dass die Beschwerdeführerin aber zugleich angibt, sich immer wieder gewehrt und geschrien zu haben und zu anderen Personen gelaufen zu sein („Ich stieß ihn weg, schrie und rannte in Richtung anderer Personen (…) Zu den Nachbarn. Oder zum Balkon, wenn dort jemand saß.“) – wenn dies tatsächlich der Fall gewesen wäre, dann wäre das Verhalten des Cousins nicht jahrelang unentdeckt geblieben.
Auch die behauptete Bedrohung durch den Cousin erscheint nicht glaubhaft: Die Beschwerdeführerin erklärte, er habe ihr das gleiche Schicksal angedroht, dass zwei europäische Touristinnen erlitten hatten, die Anfang 2019 von Islamisten in Marokko enthauptet wurden. Zugleich konnte sie die Drohung aber nicht schlüssig zeitlich einordnen. So gab sie an, dass er ihr gedroht habe, weil sie im Jahr 2016 die Eheschließung mit ihm abgelehnt habe. Dann wieder meinte sie, die erste Drohung sei Anfang 2019 erfolgt. Gerade bei diesem zentralen Punkt widerspricht sich die Beschwerdeführerin. Das Gericht geht daher davon aus, dass die behauptete sexuelle Belästigung durch ihren Cousin ebenso wie die Drohung durch diesen erfunden ist.
Gegen ein tatsächliches Schutzbedürfnis spricht auch, dass die Beschwerdeführerin trotz der Drohung, dass er sie enthaupten werde, noch ein halbes Jahr in der elterlichen Wohnung und damit im Einflussbereich des Cousins verblieben sein will. Wenn sie tatsächlich mit einer von ihr ernst verstandenen Bedrohung ihres Lebens konfrontiert gewesen wäre, wäre zu erwarten, dass sie sich noch jemand anderem als der angeblich untätigen Mutter anvertraut oder in eine andere Stadt in Marokko zieht. Dass die Beschwerdeführerin stattdessen den monatelangen Weg einer Anstellung als Au-Pair-Mädchen und des Erhalts einer Aufenthaltsbewilligung beschritten hat, zeigt, dass sie tatsächlich keine Angst um ihr Leben hatte. Dass sie zudem erst nach mehrfachem Wechsel zwischen dem deutschen und dem österreichischen Bundesgebiet und erst nachdem sie von den Behörden aufgegriffen wurde, einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, spricht ebenso gegen ein bestehendes Schutzbedürfnis. Auch wenn sie, wie sie in der zweiten Einvernahme erklärte, nicht gewusst habe, dass es ein solches Verfahren gibt, wäre doch zu erwarten gewesen, dass sie – etwa bei einer der zwei Familien, bei denen sie in Österreich als Au-Pair arbeitete oder bei ihren Freunden aus dem Deutschkurs – Unterstützung und Hilfe gesucht hätte, wenn ihr Leben bedroht wäre. Zudem handelt es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Frau mit einem Universitätsabschluss, der der Zugang zu rechtlichen Möglichkeiten leichter fallen sollte als anderen.
Die Beschwerdeführerin behauptete, wegen der Verfolgung durch ihren Cousin Depressionen und Panikattacken bekommen zu haben. Auch wenn verständlich sein mag, dass sie in Marokko deswegen keine ärztliche Unterstützung aufsuchte, so wäre doch bei einem tatsächlichen und ernsthaften Krankheitsbild zu erwarten gewesen, dass sie in Österreich medizinische, psychotherapeutische oder psychiatrische Unterstützung gesucht hätte. Dass alleine der Umzug nach Österreich dazu geführt haben soll, eine schwere psychische Störung („Ich war in meiner Freiheit eingeschränkt. Lebte in Angst. Und habe kaum die Wohnung verlassen. Ich wurde depressiv und hatte Schlafstörungen. Das dauerte ein Jahr lang. Die letzten drei Monate vor der Ausreise habe ich kaum noch geschlafen. Ich hatte Panikattacken und bekam in der Nacht keine Luft.“) zu heilen, erscheint der erkennenden Richterin doch sehr ungewöhnlich. In einer Zusammenschau mit den oben dargelegten Unstimmigkeiten geht das Bundesverwaltungsgericht, auch mangels vorgelegter ärztlicher Befunde, davon aus, dass auch die behauptete psychische Erkrankung nicht der Wahrheit entspricht und die Beschwerdeführerin tatsächlich gesund ist.
Die belangte Behörde kam daher zu Recht zum Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin in Marokko nicht von ihrem Cousin verfolgt oder bedroht wird.
In einer zweiten Einvernahme durch die belangte Behörde steigerte die Beschwerdeführerin dann ihr Fluchtvorbringen: sie werde nicht nur von ihrem Cousin verfolgt, sondern würde sie bei einer Rückkehr auch von ihrer Familie und der marokkanischen Gesellschaft verstoßen werden, weil sie als Mädchen alleine ausgereist sei und damit die Ehre ihrer Familie in den Schmutz gezogen habe. Gegen dieses Vorbringen spricht aber, dass sie in regelmäßigem Kontakt zu ihrem Bruder und ihrer Mutter steht und selbst angegeben hatte, zu beiden ein gutes Verhältnis zu haben. Zudem hatte sie weder in der Erstbefragung noch in der ersten Einvernahme durch die belangte Behörde irgendeine Gefährdung durch irgendjemanden anderen als ihren Cousin erwähnt. Der belangten Behörde ist auch zuzustimmen, wenn sie im angefochtenen Bescheid argumentiert, dass eine Familie, die ihre Tochter Informatik studieren lässt, nicht dem typischen Bild einer traditionell eingestellten Familie entspricht. Auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin, als sie Marokko im Jahr 2019 verließ, bereits 28 Jahre alt und dennoch unverheiratet war, spricht dagegen, dass sie aus einem streng religiösen bzw. traditionellen Umfeld stammt.
2.4. Zu den Länderfeststellungen
Nach Ansicht der erkennenden Richterin handelt es sich bei den Feststellungen im angefochtenen Bescheid um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material (vgl. VwGH, 07.06.2000, Zl. 99/01/0210). Die vom BFA zu Marokko getroffenen Feststellungen entsprechen dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichts, diese werden daher der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt (siehe dazu Punkt 1.2). Die Feststellungen sind dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen. Den Feststellungen wurde auch von Seiten der Beschwerdeführerin nicht widersprochen, vielmehr wurden sie auch im Bescheid zitiert. Die darüber hinaus in der Beschwerde zitierte Anfragebeantwortung wird unter Punkt 1.3. wiedergegeben; sie steht in Einklang mit den bereits im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur Lage von Frauen in Marokko.
Die Feststellung, dass Marokko als sicherer Herkunftsstaat gilt, beruht auf § 1 Z 9 der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Im gegenständlichen Fall sind die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund, nicht gegeben. Die Beschwerdeführerin vermochte nicht glaubhaft zu machen, dass sie in Marokko verfolgt wird. Weder ist glaubhaft, dass sie bei einer Rückkehr von ihrem Cousin getötet wird noch, dass sie von ihrer Familie verstoßen wird.
Soweit in der Beschwerde behauptet wird, der Beschwerdeführerin sei Asyl zuzuerkennen, da sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „unverheirateten Frauen, die alleine im Ausland lebten und danach nach Marokko zurückkehrten“ in Marokko verfolgt werde, hegt das erkennende Gericht Zweifel daran, dass dies den Kriterien einer sozialen Gruppe entspricht. Eine bestimmte soziale Gruppe wird in Artikel 10 Absatz 1 litera d der Statusrichtlinie nach zwei Kriterien definiert: Die Mitglieder der Gruppe müssen Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund teilen, die angeboren oder so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten. Weiters muss die Gruppe in dem betreffenden Land von der Gesellschaft als andersartig betrachtet werden und deshalb eine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen. Diese Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein (EuGH, 07.11.2013, Rechtssache C-199/12, C-200/12 und C-201/12[X, Y und Z]). Abgesehen davon, dass die deutlich abgegrenzte Identität bei Frauen, die aus dem Ausland nach Marokko zurückkehren, wohl nicht vorliegen würde, kann die abschließende Beurteilung dieser rechtlichen Fragestellung unterbleiben, da jedenfalls unterlassen wurde aufzuzeigen, dass der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zeit in Europa mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Wie bereits ausgeführt wurde, ist nicht glaubhaft, dass sie aus einer traditionell eingestellten Familie kommt, welche sie bei einer Rückkehr schlecht behandeln würde. Sie stammt aus der Hauptstadt des Landes, in der es für Frauen leichter ist als am Land, ein eigenständiges Leben zu führen. Letztlich wurde eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „unverheirateten Frauen, die alleine im Ausland lebten und danach nach Marokko zurückkehrten“ nicht substantiiert behauptet.
Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat Marokko keine Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war abzuweisen.
3.2. Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß § 8 Abs. 1 Ziffer 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Es ist der Beschwerdeführerin zumutbar, sich in Marokko wieder eine eigene Existenz aufzubauen. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es, wie die Beschwerdeführerin gegenüber der belangten Behörde erklärte, schwierig sein mag, als Frau eine Anstellung als Informatikerin zu finden. Der Beschwerdeführerin wäre es aber zumutbar, auch eine andere berufliche Tätigkeit anzunehmen, so hatte sie etwa in Österreich als Au-Pair gearbeitet und wollte sie in Deutschland eine Ausbildung zur Altenpflegerin absolvieren. Die Beschwerdeführerin ist zudem jung, gesund und erwerbsfähig, so dass nicht davon auszugehen ist, dass sie bei einer Rückkehr in eine Notlage geraten würde. Sie gehört auch keiner Risikogruppe in Bezug auf die Covid-19-Pandemie an. Außerdem geht das Gericht davon aus, dass die Beschwerdeführerin wieder bei ihren Eltern einziehen könnte; dass sie von diesen wegen ihres Aufenthaltes in Europa keine Unterstützung mehr bekommen sollte, ist nicht glaubhaft.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging bereits 2014 davon aus, dass sich die Lage für Frauen in Marokko in den letzten Jahren verbessert hatte und es Frauen inzwischen auch möglich ist, alleine zu leben (vgl. EGMR, 24.06.2014, Application no. 17200/11, S.B. against Finland, Rz 36). Die Situation hat sich weiter dadurch verbessert, dass 2018 ein Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Nichtsdestotrotz ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor verbreitet und wagen es viele Frauen nicht, gegen sie begangene Straftaten anzuzeigen. Im Fall der Beschwerdeführerin ist aber, wie bereits ausgeführt, eben nicht glaubhaft, dass sie Opfer sexueller Gewalt durch ihren Cousin geworden war. Ihre Situation als gebildete, erwachsene Frau aus der Hauptstadt des Landes verringert das Risiko für sie, Opfer sexueller Gewalt zu werden und kann nicht automatisch von einer realen Gefahr für alle unverheirateten Frauen ausgegangen werden.
Das Gericht verkennt auch nicht, dass die Covid-19-Pandemie aktuell in Marokko (wie im Übrigen auch in Österreich) sich wieder stärker auszubreiten beginnt und dass die erneute Verhängung strikter Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit („Lockdown“) denkbar ist. Eine konkrete Gefahr für die junge und gesunde Beschwerdeführerin ergibt sich aus der Pandemie aber nicht, gehört sie doch zu keiner der Risikogruppen (vgl. dazu Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe - COVID-19-Risikogruppe-Verordnung). Es mag in der Zeit eines möglichen „Lockdowns“ auch kaum möglich sein, eine Anstellung zu finden, doch kann es sich dabei nur um einen vorübergehenden Zustand handeln und ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in dieser Zeit bei ihrer Familie leben kann.
Bei der Beschwerdeführerin liegen keine besonderen Vulnerabilitäten vor; sie ist gesund und erwerbsfähig, hat eine gute Ausbildung und verfügt über ein familiäres Netzwerk in Marokko.
Die Beschwerdeführerin legte daher nicht stichhaltig dar, dass in Marokko die reale Gefahr b