Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners S***** R*****, geboren am ***** 1952, *****, vertreten durch VertretungsNetz Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 1050 Wien, Ziegelofengasse 33/1/3, (Bewohnervertreterin M***** M*****), diese vertreten durch Dr. Alexandra Schachermayer und Dr. Gerlinde Füssel, Rechtsanwältinnen in Linz, Einrichtungsleiter Dr. H***** M*****, vertreten durch Dr. Andreas Joklik, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, Erwachsenenvertreter Dr. R***** T*****, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung gemäß § 11 HeimAufG über den Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. Juli 2020, GZ 44 R 234/20t-32, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 10. Juni 2020, GZ 36 HA 1/20y-23, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof gemäß § 71 Abs 1 AußStrG nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig. Die Zurückweisung des Revisionsrekurses kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Rechtliche Beurteilung
1.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Ist ein Medikament ein (reines) Sedativum, mit dem also unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs erreicht werden soll, kann von einer bewegungsdämpfenden Nebenwirkung keine Rede sein (RS0121227 [T1]). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875). Dient der primäre Zweck des Medikamenteneinsatzes hingegen der Unterbindung von Unruhezuständen, des Bewegungsdrangs und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Unruhe, etc) dann ist die medikamentöse Therapie als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren (7 Ob 59/20g mwN).
1.2 In dritter Instanz nicht mehr angreifbar steht fest: Sowohl die Dauer- als auch die Einzelfallmedikation mit Risperdal/Risperidon erfolgte, um den Bewohner
– insbesondere zur Erleichterung der (Körper-)Pflege – zu sedieren. Auch das Anxyolytikum Aprazolam wurde dem Bewohner als Dauermedikation – im Zeitraum vom 3. 4. 2020 bis 28. 4. 2020 – eine Stunde vor der Pflege mit dem Zweck verabreicht, eine Beruhigung und eine Beschränkung des Bewegungsdrangs während der Pflegehandlungen zu erzielen. Da der Bewohner beim Aufstehen aufgrund einer noch nicht verheilten Schenkelfraktur Schmerzen verspürte, wurde ihm das Medikament Temesta verabreicht. Mit der Verabreichung des Medikaments wurde bezweckt, den Bewohner, der ständig aufstehen wollte, zum Sitzenbleiben zu veranlassen, die Bewegungseinschränkung wurde auch bewirkt. Die Kombination der Medikamente führte zu einer gegenüber der isolierten Verabreichung noch gesteigerten sedierenden Wirkung und beeinträchtigte den Bewegungsdrang des Bewohners in vermehrtem Maße.
1.3 Nach diesen Feststellungen wurde mit der Verabreichung der eben genannten Medikamente also eine sedierende Wirkung – einzeln und in Kombination – bezweckt und auch erzielt. Vor diesem Hintergrund hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen, dass eine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG vorliege im Rahmen der bereits bestehenden oberstgerichtlichen Judikatur.
2. Die Dauermedikation Alprazolam ist schon aus formellen Gründen unzulässig, weil sie dem Verein nicht gemeldet wurde (vgl RS0121228).
3.1 § 4 HeimAufG regelt die materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung in einem Heim oder in einer ähnlichen Einrichtung. Eine Freiheitsbeschränkung des Bewohners darf ohne oder gegen dessen Willen nur vorgenommen werden, wenn er an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist. Neben den psychischen Beeinträchtigungen wird gefordert, dass der Bewohner wegen dieser Krankheit sich oder andere gefährdet (§ 4 Z 1 HeimAufG). § 4 Z 2 HeimAufG setzt voraus, dass die Freiheitsbeschränkung zur Gefahrenabwehr unerlässlich und geeignet ist. Sie muss zudem in ihrer Dauer und in ihrer Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen sein. § 4 Z 3 HeimAufG fordert schließlich, dass die Gefährdung nicht durch andere pflegerische Maßnahmen, die nicht (oder weniger) in die Freiheitsrechte des Betroffenen eingreifen, abgewendet werden kann. Dabei kommt es auf die zeitgemäßen Pflegestandards an. Für die Beschränkung der Bewegungsfreiheit gelten demnach die Prinzipien der Unerlässlichkeit und Verhältnismäßigkeit (RS0105729). Die Beschränkung muss zur Erreichung des angestrebten Ziels unerlässlich und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen; es gilt der Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs (7 Ob 135/14z).
3.2 Bei der beim Bewohner vorliegenden Grunderkrankung einer Lewi-Body-Demenz ist die Verabreichung von Risperdal kontraindiziert, da es einerseits zum Auftreten von schweren, potentiell lebensbedrohlichen Parkinsonkrisen kommen kann und andererseits, weil die Gefahr paradoxer Reaktionen im Sinn einer verstärkten Aggressivität aufgrund der durch das Medikament noch weiter eingeschränkten Beweglichkeit entsteht. Durch die Gabe von Temesta wurde beim Bewohner die vorbestehende Gangstörung und damit die Sturzgefahr erhöht sowie die durch die Grunderkrankung bestehende Gefährdung verstärkt. Bei älteren Personen, wie beim Bewohner, besteht weiters das Risiko des Auftretens paradoxer Wirkungen. Die Medikation ist nicht dienlich, die beim Bewohner aufgrund seiner psychischen Grunderkrankung vorliegende Gefahr der Selbst- und Fremdgefährdung zu mindern.
3.3 Ausgehend von diesen Feststellungen, ist die Dauer- und Einmalmedikation Risperdal/Risperidon, ebenso wie die Einmalmedikation Temesta kontraindiziert, sodass es an der nach § 4 Z 2 HeimAufG geforderten Geeignetheit der Freiheitsbeschränkung zur Gefahrenabwehr fehlt.
4. Zusammengefasst ist schon ausgehend vom konkret festgestellten Sachverhalt die Bejahung der Unzulässigkeit der Freiheitsbeschränkung durch die genannte Medikation nicht zu beanstanden. Es werden insgesamt keine erheblichen Rechtsfragen geltend gemacht, die nicht auf Grundlage der bereits bestehenden oberstgerichtlichen Judikatur gelöst werden könnten.
5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Textnummer
E129983European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00183.20T.1021.000Im RIS seit
07.12.2020Zuletzt aktualisiert am
28.04.2021