TE Bvwg Beschluss 2020/6/3 W259 2211272-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.06.2020
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Entscheidungsdatum

03.06.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs3

Spruch

W259 2128483-1/14E

W259 2128467-1/15E

W259 2211272-1/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Ulrike RUPRECHT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX und 3.) XXXX , geb. XXXX , 1.) und 3.) Staatsangehörigkeit Afghanistan und 2.) Staatsangehörigkeit Iran, 3.) gesetzlich vertreten durch XXXX , geb. XXXX , alle vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2016 und XXXX 2018, Zahlen 1.) XXXX und 3.) XXXX :

A) In Erledigung der Beschwerden werden die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die leiblichen Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers.

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am XXXX 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer stellte für seinen minderjährigen Sohn ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde am XXXX 2016 im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl von einem männlichen Referenten in Anwesenheit eines männlichen Dolmetschers niederschriftlich befragt. Die Zweitbeschwerdeführerin führte im Wesentlichen aus, dass sie den Iran verlassen habe, weil ihr Vater gesagt habe, dass sie verlobt sei und den Cousin heiraten solle. Sie liebe jedoch den Erstbeschwerdeführer und wolle selber entscheiden, wenn sie heiraten dürfe (AS 45 und 51, BF2).

3. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2016 und XXXX 2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten jeweils abgewiesen (jeweils Spruchpunkte I und II). Den Beschwerdeführern wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan bzw. in den Iran gemäß § 46 FPG zulässig sei (jeweils Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (jeweils Spruchpunkt IV).

4. Gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhoben die Beschwerdeführer gemeinsam fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens.

5. Nach Unzuständigkeitseinreden wurden die gegenständlichen Verfahrensakte am 12.03.2020 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die leiblichen Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am XXXX 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer stellte für seinen minderjährigen Sohn ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am XXXX 2016 brachte die Zweitbeschwerdeführerin eine versuchte Zwangsverheiratung durch ihren Vater sowie im Falle einer Rückkehr in den Iran eine neuerliche Verfolgung durch ihren Vater vor. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde von einem männlichen Referenten in Anwesenheit eines männlichen Dolmetschers befragt. Sie wurde im Rahmen ihrer Einvernahme nicht über den Inhalt und die Rechtsfolgen des § 20 AsylG 2005 belehrt. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zu keinem Zeitpunkt die Einvernahme durch einen männlichen Referenten verlangt.

2. Beweiswürdigung

Beweise wurde erhoben durch Einsicht in die Verwaltungsakte der belangten Behörde, insbesondere in die Niederschrift der Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin vom XXXX 2016 sowie in die gegenständlichen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2016.

Die Feststellungen hinsichtlich der Antragstellung und des Fluchtvorbringens gründen sich auf den unstrittigen Akteninhalt (AS 39 ff).

Die Feststellungen, dass die Zweitbeschwerdeführerin nicht über den Inhalt des § 20 AsylG 2005 in Kenntnis gesetzt wurde und sie auch nicht explizit nach einem männlichen Referenten verlangt hat, ergeben sich daraus, dass ein solches Vorgehen dem Akteninhalt nicht entnommen werden kann.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Da die Zweitbeschwerdeführerin die Mutter des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und der Erstbeschwerdeführer ebenfalls Elternteil des minderjährigen Drittbeschwerdeführers ist, sind die gegenständlichen Verfahren als Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 zu führen.

Zu Spruchpunkt A) Aufhebung und Zurückverweisung

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2.Satz VwGVG. (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013) § 28 VwGVG Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet:

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt. Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist. Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m. w. N., 14.421/1996, 15.743/2000).

Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 10.04.2013 zu Zl. 2011/08/0169 sowie dazu Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren Band I2, E 84 zu § 39 AVG).

Der angefochtene Bescheid der Zweitbeschwerdeführerin erweist sich in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt aus folgenden Gründen als mangelhaft:

§ 20 Abs. 1 AsylG 2005 normiert bei Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung, dass wenn ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen ist, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

Zur Vorgängerbestimmung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 (ex-§ 27 Abs. 3 letzter Satz AsylG) sprach der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 3. Dezember 2003, Zl 2001/01/0402, ua Folgendes aus:

"Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf einschlägige Beschlüsse des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR zu verweisen, insbesondere auf den Beschluss Nr. 64 (XLI) aus 1990 über Flüchtlingsfrauen und internationalen Rechtsschutz, gemäß dessen lit. a Abschnitt iii die Staaten aufgefordert werden, wo immer dies notwendig ist, ausgebildete weibliche Anhörer in den Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus zur Verfügung zu stellen, und den entsprechenden Zugang der weiblichen Asylsuchenden zu diesen Verfahren, auch wenn die Frauen von männlichen Familienmitgliedern begleitet werden, zu sichern. Vergleichbares ist in Punkt 28 der Entschließung des Rates vom 20. Juni 1995 über Mindestgarantien für Asylverfahren festgehalten, wo es heißt, dass es die Mitgliedstaaten anstreben, erforderlichenfalls in Asylverfahren qualifizierte weibliche Bedienstete und weibliche Dolmetscher zu beteiligen, insbesondere wenn Asylbewerberinnen auf Grund der erlebten Ereignisse oder ihrer kulturellen Herkunft Schwierigkeiten haben, ihre Antragsgründe umfassend darzulegen. Den erwähnten internationalen Dokumenten soll § 27 Abs. 3 letzter Satz AsylG Rechnung tragen, der bestimmt, dass Asylwerber, die ihre Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung gründen, von Organwaltern desselben Geschlechts einzuvernehmen sind (vgl. die ausdrückliche Bezugnahme auf den oben erwähnten EXCOM-Beschluss in den ErläutRV zu § 27, 686 BlgNR 20. GP 27)."

In seinem Erkenntnis vom 19. Dezember 2007, Zl 2005/20/0321, legte der Verwaltungsgerichtshof diesbezüglich ergänzend Folgendes dar:

Nach dem im (zur Vorgängerbestimmung des § 27 Abs. 3 AsylG 1997 ergangenen) Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 03.12.2003, 2001/01/0402, dargelegten Zweck dieser - internationalen Beschlüssen Rechnung tragenden - Bestimmung soll die Einvernahme durch eine (im vorliegenden Fall) weibliche Organwalterin den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Da davon auszugehen ist, dass erst dadurch eine gegenüber einem männlichen Organwalter bestehende Hemmung, über das Erlebte näher zu berichten, abgebaut wird, ist ab dem Zeitpunkt, in dem sexuelle Übergriffe als Fluchtgrund geltend gemacht werden, die Notwendigkeit gegeben, die Asylwerberin durch eine Person weiblichen Geschlechts einzuvernehmen. Eine in einem solchen Fall durch einen männlichen Organwalter vorgenommene Beweiswürdigung - auch wenn sie nur die Frage beträfe, ob dem diesbezüglichen Vorbringen zumindest ein "glaubhafter Kern" zukomme - ist mit dem in § 27 Abs. 3 letzter Satz AsylG aufgestellten Erfordernis daher nicht in Einklang zu bringen (vgl. dazu auch VfGH vom 27.09.2012 zu U 688-690/12-19 mit Verweis auf die Erläuterungen zur RV 952 BlgNR XXII. GP, 45).

Im vorliegenden Fall hat die Zweitbeschwerdeführerin bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor einem männlichen Referenten sowie im Beisein eines männlichen Dolmetschers ausdrücklich angegeben, dass sie den Iran verlassen habe, weil sie ihren Cousin habe heiraten sollen. Nun habe sie den Erstbeschwerdeführer geheiratet und mit ihm Geschlechtsverkehr gehabt, weshalb sie im Falle eine Rückkehr befürchte, von ihrem Vater getötet zu werden.

Bei der von der Zweitbeschwerdeführerin vorgebrachten Befürchtung vor einer drohenden Zwangsverheiratung handelt es sich um die Furcht vor einem Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, K7 zu § 20 AsylG 2005 sowie VfGH vom 18.9.2015 zu GZ E1003/2014).

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung VfSlg 19739/2013 - vor dem Hintergrund eines Falles, in dem der Asylwerber als Fluchtgrund drohenden sexuellen Missbrauch geltend gemacht hatte - ausgesprochen, dass nach der Absicht des Gesetzgebers die Einvernahme bzw. gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auch die Verhandlungsführung vor dem AsylGH schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde. In seinem Erkenntnis vom 12.06.2015, U1099/2013 ua, hat der VfGH dies auf Fälle eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung durch drohende Zwangsverheiratung übertragen. (vgl. VfGH vom 18.9.2015 zu GZ E1003/2014)

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Zweitbeschwerdeführerin in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Furcht vor einer drohenden Zwangsverheiratung als Fluchtgrund vorgebracht hat und die Einvernahme von einem männlichen Referenten sowie im Beisein eines männlichen Dolmetschers durchgeführt wurde.

Dabei missachtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl § 20 Abs. 1 AsylG 2005, wonach ein Asylwerber, der seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung gründet, von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen ist, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber gemäß § 20 leg. cit. nachweislich in Kenntnis zu setzen.

Da weder dem Inhalt der Niederschrift noch aus dem restlichen Akt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl entnommen werden kann, dass die Zweitbeschwerdeführerin eine Einvernahme durch einen männlichen Referenten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (ausdrücklich) verlangt hätte - vielmehr wurde sie dazu gar nicht befragt bzw. wurde sie auch nicht im Sinne des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 belehrt - hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Zweitbeschwerdeführerin von einer weiblichen Referentin - ebenfalls unter Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin - zu befragen gehabt.

Ab dem Zeitpunkt der Geltendmachung des Vorbringens in Bezug auf die drohende Zwangsverheiratung, hätte sich die Notwendigkeit ergeben, die Zweitbeschwerdeführerin durch eine Person des weiblichen Geschlechtes einzuvernehmen bzw. diese auf die Existenz und den Inhalt des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 ausdrücklich hinzuweisen. Gegenständlich sind eine Einvernahme durch eine weibliche Organwalterin sowie die Übersetzung durch eine weibliche Dolmetscherin unterblieben.

Durch die Nichtbeachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 vereitelt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl daher die oben dargestellte Intention dieser Norm, nämlich allfällige Hemmschwellen bei der Schilderung von Engriffen in die sexuelle Selbstbestimmung im Rahmen behördlicher bzw. gerichtlicher Vernehmungssituationen abzubauen. Die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgenommene Beweiswürdigung fußt auf einem mangelhaften Ermittlungsverfahren.

Es ist somit nicht zweifelsfrei festzustellen, ob die Zweitbeschwerdeführerin ausreichend Gelegenheit zur Darstellung der Gründe für ihren Aufenthalt außerhalb ihres Herkunftsstaates hatte. Die dargelegten Umstände müssen insgesamt jedenfalls als maßgeblicher Mangel angesehen werden, welcher eine weitere Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin unter Beachtung des § 20 Abs. 1 AsylG 2005 unentbehrlich macht. Für das Bundesverwaltungsgericht erweist sich der vorliegende Sachverhalt daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen diesbezüglich unerlässlich sind.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wird im Lichte der getroffenen Erwägungen im fortgesetzten Verfahren die Zweitbeschwerdeführerin daher nochmals genau im Sinne des § 20 Abs. 1 AsylG durch eine weibliche Referentin in Anwesenheit einer weiblichen Dolmetscherin einzuvernehmen bzw. von der Möglichkeit in Kenntnis zu setzen haben, auch einen männlichen Referenten für die Einvernahme zu verlangen. Dabei wird insbesondere die individuelle Betroffenheit der Zweitbeschwerdeführerin zu prüfen sein. In weiterer Folge wird das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter Zugrundelegung konkreter und individueller Länderfeststellungen zum Fluchtvorbringen der Zweitbeschwerdeführerin, die konkreten Ermittlungsergebnisse mit der Zweitbeschwerdeführerin zu erörtern haben, um beurteilen zu können, ob das erstattete Vorbringen tatsächlich Asylrelevanz aufweist.

Damit hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt.

Die Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann im Lichte der oben angeführten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG nicht im Sinne des Gesetzes liegen, vor allem unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation gemäß § 5 BFA-Einrichtungsgesetz für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Diese Entscheidung schlägt sich im Wege des Familienverfahrens auch auf den mj. Drittbeschwerdeführer und damit auch auf den Erstbeschwerdeführer durch:

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

Abs. 5 leg.cit. normiert, dass die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht gelten.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, waren in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheiten zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass die angefochtenen Bescheide zu beheben waren.

Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchpunkt A wiedergegeben. (vgl. die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere VwGH vom 26.6.2014 zu Zl. 2014/03/0063).

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Familienverfahren individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Organwalter

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W259.2211272.1.00

Im RIS seit

04.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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