TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/4 W182 2170424-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.09.2020
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Entscheidungsdatum

04.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W182 2170424-2/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2019, Zl. 752064205 – 161497531 / BMI-BFA_STM_RD, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 9, 10 Abs. 1 Z 5, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I. Nr. 87/2012 idgF, und §§ 46, 52 Abs. 2 Z 4, 52 Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3, 55 Abs. 1 - 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf sieben Jahre herabgesetzt wird.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe und der muslimischen Glaubensrichtung an, stammt aus XXXX , reiste im November 2005 im Alter von XXXX Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein und wurde für ihn am 27.11.2005 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Im Rahmen des laufenden Asylverfahrens wurden für den (damals noch minderjährigen) BF keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Der Vater des BF gab zu seinen Fluchtgründen an, vom russischen Geheimdienst verfolgt zu werden. Er habe im ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 gekämpft und sich 1999 mit anderen bei der Polizei und dem FSB für verhaftete Personen eingesetzt. Weiters haben zwei Brüder und ein Cousin von 1996 bis 1999 in einem antiterroristischen Zentrum gearbeitet. Ein weiterer Cousin, der XXXX , sei 2001 mitgenommen worden und sei seither verschollen. 2001 oder 2002 sei die Bäckerei des Vaters des BF gesprengt worden, weil man ihm vorgeworfen habe, Brot an Rebellen zu verkaufen. 2003 sei er von maskierten, Russisch sprechenden Personen verschleppt, geschlagen und angehalten worden. Sie hätten ihm vorgeworfen, Waffen versteckt zu haben, und hätten ihn nach diversen Personen – u.a. seinen Brüdern – befragt. Nach 17 Tagen sei er freigelassen worden. Danach habe er sich mit seiner Familie außerhalb Tschetscheniens in XXXX aufgehalten, wo ihm ein befreundeter lokaler Polizeiinspektor mitgeteilt habe, dass er vom FSB gesucht werde. In XXXX hätten sich laut Angaben der Mutter des BF Verwandte aufgehalten. Der Vater des BF habe sich dann in Tschetschenien versteckt und sei 2005 mit seiner Familie ausgereist. Eine Schwester halte sich in XXXX auf, wo sie mit ihrem Gatten eine Landwirtschaft betreibe.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.04.2006, Zl. 05 20.642-BAG, wurde der Asylantrag des BF gemäß § 7 AsylG 1997 (AsylG), BGBl Nr. 76/1997, abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Russland gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig erklärt und er gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Russland ausgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des Vaters des BF sich aufgrund von erheblichen Widersprüchen als unglaubwürdig erwiesen habe.

Die dagegen erhobene Berufung wurde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 26.05.2008, Zl. 300.869-C1/12E-XVIII/58/06, gemäß § 7 AsylG abgewiesen, gemäß § 8 Abs. 1 AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation nicht zulässig sei, sowie weiters eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 AsylG für die Dauer eines Jahres erteilt. Begründend wurde zu Spruchpunkt I. im Wesentlichen ausgeführt, dass für den BF seitens seiner gesetzlichen Vertretung angegeben worden sei, wegen der Gründe seines Vaters ausgereist zu sein. Letztere hätten sich jedoch aufgrund erheblicher Widersprüche als unglaubwürdig erwiesen. Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass im gegenständlichen Fall aufgrund der festgestellten individuellen Lage des BF bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen festzustellen gewesen sei, dass ihm eine Rückkehr ins Herkunftsland vor dem Hintergrund der dort derzeit herrschenden Lage im Lichte des § 8 Abs. 1 AsylG bzw. § 50 FPG gegenwärtig im Sinne des Art. 3 EMRK nicht zumutbar sei, wobei insbesondere auch auf den derzeitigen schlechten psychischen Zustand der Eltern und des BF hingewiesen wurde.

Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof lehnte dieser mit Beschluss vom 28.05.2009, Zlen. 2008/19/0900 bis 0906-6, ab.

Auf entsprechenden Antrag wurde dem BF zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 06.05.2014, Zl. 13-752064205/2893753/BMI-BFA_STM_RD, eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 25.05.2016 erteilt.

1.2. Der BF wurde mit Urteil eines Bezirksgerichtes vom XXXX 2015, Zl. XXXX , wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 4,00 EUR (360,00 EUR) rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX bei einer XXXX eine XXXX Person durch einen Schlag mit den geballten Fäusten gegen den Oberkörper vorsätzlich am Körper verletzte, wodurch diese XXXX erlitt. Als mildernd wurde die gerichtliche Unbescholtenheit des BF, als erschwerend wurde kein Umstand gewertet.

Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2015, Zl. XXXX , wurde der BF wegen der Vergehen der gefährlichen Drohung und der Körperverletzung gemäß §§ 107 Abs. 1, 83 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX einer XXXX Person durch die Äußerung, er werde XXXX , mit zumindest einer Verletzung am Körper gefährlich bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzten, sowie am XXXX eine XXXX Person am Körper verletzte, indem er ihr einen Schlag ins Gesicht versetzte, wodurch diese XXXX erlitt. Als mildernd wurde das teilweise Geständnis, als erschwerend eine einschlägige Vorstrafe sowie das Zusammentreffen zweier Vergehen gewertet.

Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX .2015, Zl. XXXX , wurde der BF nochmals wegen der Vergehen der Körperverletzung und der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 und 84 Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, wovon 6 Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren nachgesehen wurden, rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF in zumindest drei selbstständigen Taten ohne begreiflichen Anlass und unter Anwendung erheblicher Gewalt Personen vorsätzlich am Körper verletzte, und zwar am XXXX eine XXXX Person, indem er diese XXXX , wodurch sie XXXX erlitt; am selben Tag einer XXXX Person, indem er dieser einen Faustschlag gegen den Hals versetzte, wodurch diese XXXX erlitt; sowie am XXXX eine weitere XXXX Person, indem er dieser einen Fußtritt und zwei heftige Stöße gegen den Brustbereich versetzte, wodurch sie XXXX erlitt. Als mildernd wurde dabei das teilweise reumütige Geständnis, als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen, die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall, die mehrfache Deliktsqualifikation sowie die Begehung während offenem Strafverfahren gewertet.

Der BF wurde weiters mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX , Zl. XXXX , wegen der Vergehen der versuchten Körperverletzung, der Körperverletzung und der gefährlichen Drohung gemäß §§ 15 iVm 83 Abs. 1, 83 Abs. 1 und 107 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX eine XXXX gefährlich bedrohte, um diese in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er äußerte: „ XXXX “, des Weiteren eine Person vorsätzlich am Körper verletzte, in dem er am XXXX einer XXXX Person einen Fußtritt gegen die Lendenwirbelsäule versetzte, wodurch diese XXXX erlitt, sowie eine XXXX Person vorsätzlich am Körper zu verletzen versuchte, indem er gezielte Fußtritte in Richtung ihres Körpers setzte, diese jedoch aufgrund ihres Ausweichmanövers nicht traf. Als mildernd wurden dabei das teilweise reumütige Geständnis sowie die herabgesetzte Dispositionsfähigkeit, als erschwerend die beiden einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall während offener Probezeit, das Zusammentreffen mehrerer Vergehen und die Begehung während eines anhängigen Strafverfahrens beurteilt. U.a. wurde unter Verweis auf ein fachärztliches Sachverständigengutachten in der Begründung darauf hingewiesen, dass der BF zwar an einer XXXX leide, aber zu keinem Tatzeitpunkt ein die Zurechnungsfähigkeit ausschließender Zustand beim BF bestanden habe, da er zu sämtlichen Tatzeitpunkten in der Lage gewesen sei, das Unrecht seiner Taten einzusehen und auch seine Fähigkeit zu einsichtsgemäßen Handeln – wenn auch eingeschränkt – nicht jedoch aufgehoben gewesen sei.

Mit Urteil und Beschluss eines Oberlandesgerichtes vom XXXX .2016, Zl. XXXX , wurde einer dagegen erhobenen Berufung und Beschwerde nicht Folge gegeben.

Zuletzt wurde der BF mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2018, Zl. XXXX , wegen des Verbrechens des versuchten Raubes gemäß §§ 15, 142 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX mit Gewalt gegen eine XXXX Person fremde bewegliche Sachen, nämlich Bargeld, mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegzunehmen versuchte, indem er diese zunächst mit den Worten „ XXXX “ aufforderte, ihm Bargeld zu überlassen und ihr in weiterer Folge, als sie sich weigerte, einen Faustschlag in ihr Gesicht versetzte, wobei es lediglich beim Versuch des Raubes blieb, da sie weglief. Als mildernd wurde dabei der Umstand, dass es beim Versuch geblieben ist und keine ernsten Schäden entstanden sind, als erschwerend das Vorliegen von vier einschlägigen Vorstrafen und der äußerst rasche Rückfall gewertet.

Mit Urteil und Beschluss eines Oberlandesgerichtes vom XXXX .2018, Zl. XXXX , wurde einer dagegen erhobenen Berufung und Beschwerde nicht Folge gegeben. Darin wurde u.a. der Forderung des BF, seine psychische Beeinträchtigung als mildernd zu werten, im Wesentlichen entgegnet, dass sich dem Akteninhalt ein abnormer Geisteszustand, der für die Tatbegehung (mit-)bestimmend gewesen sei, nicht zu entnehmen gewesen sei.

1.3. Noch vor den zuletzt genannten Straftaten bzw. dem Urteil vom XXXX 2018 wurde der BF mit Schreiben des Bundesamtes vom 09.11.2016 über ein gegen ihn geführte Aberkennungsverfahren in Kenntnis gesetzt.

Zu der bereits zuvor am 17.01.2017 übermittelten Aufforderung zur Stellungnahme äußerte sich der BF am 06.02.2017 in einem handschriftlich verfassten Schreiben. Darin führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater im Herkunftsland politisch verfolgt werde und er deshalb Angst habe, dass es auch ihn betreffe. Der BF habe keine Verwandten in der Russischen Föderation und auch keine Chance, sich dort niederzulassen, da er politisch verfolgt werde. Sein Vater, seine Brüder und seine Schwester würden in Österreich leben. Der BF könne gut Deutsch und würde gerne in Österreich eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker machen.

Am 20.03.2017 wurde der Vater des BF vor dem Bundesamt als Zeuge einvernommen. Dazu befragt, ob dem BF derzeit im Falle einer Rückkehr noch irgendeine Gefahr in Russland drohen würde, gab dieser an, dass dem BF in Russland nicht, in Tschetschenien aber schon Gefahr drohen würde. Wenn ein Familienmitglied aufgefallen sei, werde die gesamte Familie verfolgt. Dem Zeugen selbst drohe Gefahr und deshalb erstrecke sich diese Gefahr auch auf seinen Sohn. Außerdem sei sein Sohn psychisch beeinträchtigt. Der BF habe auch nicht mehr bei ihm wohnen wollen und habe bei Freunden gelebt. Der Zeuge sei mit dem BF auch bei einem Psychiater gewesen, doch habe sich der BF nicht behandeln lassen wollen und hätten die Ärzte gemeint, sie könnten ihn zu einer Behandlung nicht zwingen. Der BF sei lange Zeit normal gewesen, dann habe er plötzlich einen Ausbruch von Aggressionen. Dazu befragt, von wem der BF in Tschetschenien Gefahr zu befürchten hätte, gab der Zeuge an, dies nicht zu wissen bzw. nichts dazu sagen zu können. Der BF habe dort keine „Bleibe“. Das Haus des Zeugen sei schon im ersten Krieg zerstört und nicht wiederaufgebaut worden. Der BF habe in Tschetschenien niemanden und würde seinen Vater brauchen. Er könne ohne diesen nicht leben, er sei noch wie ein kleines Kind. Zu weiteren Verwandten in Tschetschenien befragt, gab der Zeuge an, dass dort sein Bruder, seine Mutter und seine Schwester leben würden. Seine Mutter sei im Krankenhaus. Der BF lebe seit zwei bis drei Jahren nicht mehr bei ihm zuhause. Das Ergebnis sei, dass er jetzt in Haft sei. In Österreich würden sich ein Cousin sowie die Geschwister des BF aufhalten.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30.08.2017 wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 (AsylG 2005) von Amts wegen aberkannt, die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA- VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

3. In Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.09.2017, Zl. W182 2170424-1, der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt mit der Begründung zurückverwiesen, dass seitens der Behörde die Einvernahme des BF unterlassen worden sei. Weiters sei verabsäumt worden, zu ermitteln, ob - wie vom Vater des BF und in der Beschwerde behauptet - der psychische Gesundheitszustand des BF einer Rückkehr ins Herkunftsland im Hinblick auf Art. 3 EMRK entgegenstehe. Dass der BF psychische Störungen aufweise, ergebe sich bereits aus den zuletzt im Mai bzw. Oktober 2016 ergangenen Urteilen eines Landesgerichtes bzw. Oberlandesgerichtes, wo auf eine XXXX des BF hingewiesen worden sei.

Am 07.03.2019 wurde der BF von einem Organ des Bundesamtes zur Prüfung des Aberkennungsverfahrens einvernommen. Der BF gab dabei an, er leide an Depressionen und nehme dagegen Medikamente. Bis vor etwa zwei, drei Jahren sei er drogensüchtig gewesen, seitdem nehme er keine Suchtmittel mehr. Er sei ledig, habe keine Kinder und befinde sich aktuell in keiner Beziehung. Sein Vater, XXXX Brüder und eine Schwester seien in Österreich aufhältig, seine Mutter sei im Jahr XXXX verstorben. Er stehe in regelmäßigem Kontakt zu seinen Familienangehörigen und habe bis zum Jahr 2016 in einer gemeinsamen Wohnung mit diesen gelebt. Danach habe er in einer eignen Wohnung gewohnt. Eine Großmutter und ein Onkel würden in der Russischen Föderation leben, über eine dort aufhältige Tante habe er keine Informationen. Der BF habe österreichische und tschetschenische Freunde und sei weder in einem Verein noch einer gemeinnützigen Organisation aktiv. Er habe in Russland die Pflichtschule absolviert und spreche Tschetschenisch, sehr gut Russisch und auch Deutsch. In Österreich habe er die Hauptschule abgeschlossen und drei Jahre lang eine Handelsakademie besucht, aber nicht abgeschlossen; er sei arbeitsfähig und habe keine Berufsausbildung. Er habe in Österreich zwei Monate XXXX gearbeitet und ab und zu in einem Lager als Hilfsarbeiter ausgeholfen, seinen Lebensunterhalt habe er durch Sozialleistungen bestritten. Befragt zu seinen Verurteilungen gab der BF an, er habe eine späte Pubertätsphase gehabt und sei kindisch gewesen, mittlerweile sehe er die Welt mit anderen Augen und komme so etwas nicht mehr vor. Den Raub habe er nicht begangen und diesbezüglich die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland befürchte er wegen seines Vaters verfolgt zu werden. Dieser sei damals politisch verfolgt worden und dies beziehe sich im Familienverband auch auf ihn. Er befürchte vom FSB entführt, gefoltert und vielleicht sogar getötet zu werden. Dazu befragt, warum ihn der FSB entführen sollte, gab der BF an: „Keine Ahnung, weil ich eben der Sohn meines Vaters bin.“ Weiters hätte er im Herkunftsland niemanden, würde auf der Straße landen und müsste um Geld betteln.

Ein im Auftrag des Bundesamtes von einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie allgemein beeideten gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für Psychiatrie nach einer Untersuchung des BF am 16.05.2019 erstelltes psychiatrisch-neurologisches Gutachten vom 13.06.2019 enthielt hinsichtlich des BF folgenden Diagnosen: XXXX Der BF sei während seiner Anhaltung in Justizanstalten mit einer kombinierten psychopharmakologischen Medikation, bestehend aus Antidepressiva und Antipsychotika behandelt worden. Die Medikamente habe er bei fehlender Compliance nur zeitweise bzw. nur über kurze Zeiträume eingenommen. Er verweigere die Einnahme der angesetzten Psychopharmaka. Eine längerfristige psychopharmakologische Therapie und Drogenkarenz sei bis zum Erreichen einer Symptomfreiheit indiziert und notwendig. Hinsichtlich der Fragestellung, ob im Fall einer Abschiebung in den Herkunftsstaat eine reale Gefahr bestehe, dass der BF aufgrund der psychischen Störung in einem lebensbedrohlichen Zustand geraten oder sich die Krankheit in lebensbedrohlichem Ausmaß verschlechtern würde, wurde ausgeführt, dass lt. Literatur die Vulnerabilität für autoaggressives und selbstverletzendes Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen hoch sei. Beim BF bestehe aktuell keine akute Suizidgefährdung und habe er bis dato auch keine suizidalen Handlungen gesetzt. Auch haben keiner der näher dargestellten präsuizidalen Symptome während der gutachterlichen Untersuchung festgestellt werden können.

4. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 11.09.2019 erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 26.05.2008, Zl. 300.869-C1/12E-XVIII/58/06, zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 (AsylG) von Amts wegen ab und entzog ihm die gemäß § 9 Abs. 4 AsylG erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA- VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.), gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG idgF wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Darin wurde u.a. festgestellt, dass die Identität des BF feststehe, er russischer Staatsangehöriger muslimischen Glaubens sei und der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre. Er sei ledig, kinderlos und befinde sich in keiner Partnerschaft. In Russland habe der BF sieben Jahre lang die Schule besucht, in Österreich habe er die Hauptschule abgeschlossen und drei Jahre lang die Handelsakademie besucht, aber nicht abgeschlossen. Er habe keine Berufsausbildung absolviert, sei kurzzeitig einigen Beschäftigungen nachgegangen und habe die meiste Zeit von Sozialleistungen gelebt.

Der BF sei in Österreich mehrfach straffällig geworden und habe jahrelang Drogen konsumiert. Es bestehe der Verdacht auf XXXX .

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten hielt das Bundesamt fest, dass die Schutzgewährung auf der schlechten allgemeinen Lage im Herkunftsstaat sowie des damaligen schlechten psychischen Zustandes des BF beruht habe. Diese zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes führenden Umstände bezüglich der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat würden zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr vorliegen. Die psychische Erkrankung des BF sei mittlerweile in der Russischen Föderation behandelbar, weshalb der BF im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation weder in seinem Recht auf Leben gefährdet noch von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung oder der Todesstrafe bedroht sei. Weder sei ihm in der Russischen Föderation die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen noch gerate er in eine existenzgefährdende Notlage. Seine Großmutter, mit welcher der BF regelmäßig telefonischen Kontakt habe, sowie ein Onkel väterlicherseits, würden ihm als familiäres Netzwerk zur Seite stehen.

Zu dem in Österreich lebenden Vater und den Geschwistern bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis und kein derart intensives Familienleben, welches unter den Begriff des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK erfasst sei. Der BF verbüße derzeit eine Haftstrafe in der Justizanstalt und lebe mit den Familienangehörigen nicht im gemeinsamen Haushalt. Der BF halte sich seit XXXX Jahren im Bundesgebiet auf, habe prägende Jahre der Persönlichkeitsentwicklung in Österreich verbracht, spreche die deutsche Sprache gut und habe auch die Schule besucht. Er sei jedoch nie über einen längeren Zeitraum einer geregelten Arbeit nachgegangen, und sei mehrmals straffällig geworden. In einer abwägenden Gesamtbetrachtung sei das öffentliche Interesse an einem Verlassen des Bundesgebietes höher zu werten als das private Interesse des BF am Verblieb im Bundesgebiet. Aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen stelle der BF zudem eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, weshalb ein 10-jähriges Einreiseverbot verhängt wurde.

Mit Verfahrensanordnung vom 12.09.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

5. Gegen den am 16.09.2019 durch persönliche Übernahme zugestellten Bescheid erhob der BF fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass er seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe und die russischen Sicherheitsbehörden nicht gewillt bzw. imstande seien, ihm den notwendigen Schutz zu bieten. Auch könne er nicht nach Russland zurückkehren, da er dort keine familiären Anknüpfungspunkte habe. Die Kernfamilie des BF befinde sich in Österreich und sei laut Angaben des Vaters der BF psychisch sehr krank und auf seine Hilfe angewiesen. Der BF sehe sein Fehlverhalten ein und wolle sich nach seiner Freilassung eine Arbeit bzw. Ausbildung suchen und keine Straftaten mehr begehen. Er sei der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK ausgesetzt und bezog sich der BF dabei auf einen Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe über die Lage von Rückkehrenden. Das 10-jährige Einreiseverbot sei zudem aufgrund der familiären Bindungen des BF in Österreich als rechtswidrig anzusehen.

6. Auf entsprechende Anfrage des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.05.2020 kam die vom Bundesamt für das Gutachten vom 13.06.2019 bestellte Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie in einem Ergänzungsgutachten vom 13.05.2020 zum Ergebnis, dass vor dem Hintergrund des zugrundeliegenden gutachterlichen Untersuchungsergebnisses davon ausgegangen werden könne, dass der BF im Hinblick auf seine rechtliche Dispositionsfähigkeit in der Lage gewesen sei, seine Angelegenheiten in einem Asylaberkennungsverfahren selbstständig zu besorgen. Anhand der gutachterlichen Untersuchung am 16.09.2016, gestützt auf die Aktenlage seien beim BF der XXXX erhoben worden. Es sei davon auszugehen, dass der BF trotz der festgestellten psychiatrischen Gesundheitsschädigungen in der Lage gewesen sei, seine Angelegenheiten im Asylaberkennungsverfahren eigenständig zu besorgen.

7. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.07.2020, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme der BF in Anwesenheit seiner Rechtsvertretung sowie seines Vaters als Zeugen im Beisein eines Dolmetschers der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Dem BF wurden u.a. aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat zu Kenntnis gebracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und Moslem. Der (damals minderjährige, heute volljährige) BF reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im November 2005 im Alter von etwa XXXX Jahren nach Österreich, wo er am 27.11.2005 einen Asylantrag stellte. Für den BF wurden durch seine gesetzlichen Vertreter keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 26.05.2008, Zl. 300.869-C1/12E-XVIII/58/06, wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation nicht zulässig sei, sowie weiters eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 AsylG für die Dauer eines Jahres erteilt. Begründet wurde die Schutzzuerkennung mit der damalig herrschenden Lage im Herkunftsland sowie dem damaligen schlechten psychischen Zustand der Eltern des BF und auch des BF selbst.

Der BF wurde im Bundesgebiet fünfmal u.a. wegen des Verbrechens des Raubes sowie Vergehen der schweren Körperverletzung rechtskräftig verurteilt.

Der BF befand sich von XXXX 2015 bis XXXX .2015 sowie von XXXX .2016 bis XXXX .2017 in der Justizanstalt. Zum Vollzug der zuletzt über ihn verhängten Freiheitsstrafe befindet sich der BF erneut seit XXXX in der Justizanstalt.

Beim BF besteht XXXX Eine akute Suizidgefährdung besteht nicht. Weitere gesundheitliche Probleme sind nicht gegeben. Eine psychiatrische Behandlung des BF ist in der Russischen Föderation möglich und die entsprechenden Psychopharmaka sind in der Russischen Föderation erhältlich.

Die Muttersprache des BF ist Tschetschenisch, er spricht des Weiteren Russisch und verfügt über gute Deutschkenntnisse. Der BF ist arbeitsfähig. Er besuchte sieben Jahre die Schule in der Russischen Föderation, schloss in Österreich die Hauptschule ab und besuchte drei Jahre die Handelsakademie ohne Abschluss. Er verfügt über keine Berufsausbildung und ist seit 2011 in insgesamt vier Beschäftigungsverhältnissen zusammengefasst etwa drei Monate einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Davon abgesehen bestritt der BF seinen Lebensunterhalt durch Sozialleistungen.

Der BF ist ledig, in keiner Partnerschaft und kinderlos.

In Österreich leben der Vater, XXXX Brüder und eine Schwester des BF. Diese sind subsidiär schutzberechtigt.

Der BF lebte bis 2016 mit seinen Familienangehörigen in einer gemeinsamen Wohnung, zuletzt lebte er in einer eigenen Wohnung.

Der BF verfügt über soziale Anknüpfungspunkte in Österreich in Form von Freunden. Er ist weder in einem Verein noch in einer gemeinnützigen Organisation aktiv.

Der BF verfügt in Tschetschenien über ein familiäres Netz. Ein Onkel väterlicherseits lebt in Tschetschenien und besteht Kontakt zu dessen Familie.

1.2. Die Sicherheits- und (auch medizinische) Versorgungslage in der Russischen Föderation hat sich seit offiziellem Ende des Tschetschenien-Krieges wesentlich und nachhaltig geändert.

Es konnte nicht glaubwürdig dargetan werden, dass dem BF im Herkunftsland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgung seitens der Behörden oder privater Personen drohen würde.

Dem BF droht bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat kein reales Risiko einer Verletzung im Sinne der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

1.3. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Dagestan ausgegangen:

Politische Lage

(Letzte Änderung: 27.03.2020)

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

?        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

?        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

?        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

?        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

?        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

?        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

?        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

?        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

?        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

?        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

?        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

?        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

?        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umf

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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