Entscheidungsdatum
08.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z4Spruch
W196 2232762-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ursula SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX diese vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.06.2020, Zl. 770324508/190085741, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und Z 2, Abs. 4, § 8 Abs. 1 Z 2, § 10 Abs. 1 Z 4, § 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG und § 46, § 52 Abs. 2 Z 3, Abs. 9, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5, § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist russischer Staatsbürger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er wurde im österreichischen Bundesgebiet als Sohn einer Asylwerberin geboren.
Der Beschwerde gegen die Abweisung seines Asylerstreckungsantrages vom 07.07.2004 nach seiner Mutter und seine Ausweisung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 27.03.2007 in Bezug auf Asyl keine Folge gegeben, jedoch festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG nicht zulässig ist und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.03.2008 erteilt.
Am 02.04.2007 beantragte die Mutter des Beschwerdeführers neuerlich internationalen Schutz. Dabei gab sie an, dass ihre zwei Brüder und zwei Schwestern sowie eine Halbschwester und ihre Mutter im Herkunftsstaat lebten. In Österreich befänden sich ihre fünf Kinder, ihr Ehemann als Asylwerber sowie ihre Schwester. Als Fluchtgrund brachte sie vor, dass ihr Neffe bei der Widerstandsbewegung gewesen sei, weshalb auch sie und ihr Ehemann Probleme bekommen hätten. Ihr Ehemann sei einmal mitgenommen worden und sie hätten ihn für 12.000.- US Dollar freigekauft. Zuerst sei sie mit ihren Kindern geflüchtet und später auch ihr Ehemann, welchen sie nach 8 Monaten in Österreich wieder getroffen habe. Sie habe Österreich seit ihrem ersten Asylantrag vom 08.03.2004 nicht verlassen.
2. Auf Grund der Zuerkennung von Asyl an den Vater des Beschwerdeführers mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 27.03.2007, Zl. 256.436/0/13E-IV/44/05, zum Antrag vom 02.09.2004 wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.05.2007, AZ. 07 03.245-BAS, und seiner Mutter zum jeweils zweiten Antrag vom 02.04.2007 im Familienverfahren ebenfalls der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3. Am 11.02.2018 soll der damals 13-jährige und unmündige Beschwerdeführer durch Beschädigung einer Hauswand einen Schaden von 500.-€ verursacht haben und es wurde deswegen am 15.05.2018 gegen ihn Anzeige erstattet. Mangels Strafbarkeit des Beschwerdeführers wurde dieses Strafverfahren jedoch gemäß § 4 Abs. 1 JGG am 28.05.2018 eingestellt.
Am 26.06.2018 versuchte der damals bereits 14-jährige Beschwerdeführer gemeinsam mit einem Gleichaltrigen ein Fahrrad durch Aufbrechen des Fahrradschlosses aus einem Fahrradabstellplatz eines Mehrparteienhauses zu entwenden und wurde angezeigt.
Auch am 28.06.2018 bzw 29.06.2018 versuchte der Beschwerdeführer gemeinsam mit drei Gleichaltrigen ein Fahrrad durch Aufschneiden des Fahrradschlosses mit einem Bolzenschneider zu stehlen. Auf Grund eines Pfiffes einer Nachbarin ergriffen sie die Flucht Der Beschwerdeführer konnte anschließend festgenommen werden, wobei bei ihm eine fremde Bankomatkarte vorgefunden und sichergestellt sowie eine Anzeige erstattet wurde.
Nach der Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 17.08.2018 wurde von der Verfolgung wegen §§ 127, 129 (1) StGB (Diebstahl, Einbruchsdiebstahl) –vorläufig- zurückgetreten.
Das Verfahren zum Vorfall vom 20.05.2018 wegen § 83 (1) StGB wurde nach der Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 24.08.2018 wegen Unmündigkeit des Beschwerdeführers eingestellt.
Am 25.08.2018 versuchte ein zunächst unbekannter Täter in 13 Kellerabteile eines Wohnobjektes einzubrechen bzw. wurden aus einem Kellerabteil zwei Koffer gestohlen und ein Schaden in Höhe von 2.500.- bzw. 100.- € angerichtet. Eine DNA-Spur ergab eine Übereinstimmung mit dem Beschwerdeführer.
Die Anträge der Familie des Beschwerdeführers auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft wurden mit Bescheid des Landes XXXX vom 28.08.2018 abgelehnt; dies mit der Begründung, dass seinem Vater wegen einer gerichtlichen Vorstrafe die Staatsbürgerschaft nicht habe erteilt werden können und somit auch keine Ableitung auf seine Kinder bzw. den Beschwerdeführer in Betracht komme.
In der Nacht vom 02.09.2018 auf 03.09.2018 verübte der Beschwerdeführer gemeinsam mit weiteren Beschuldigten 7 Einbruchsdiebstähle.
Am 06.10.2018 beschädigte der Beschwerdeführer ein Glaselement einer Eingangstüre eines Wohnobjektes durch Tritte und verursachte einen Schaden von 300.-€.
Am 22.11.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen Verdachtes auf §§ 27/2 und 2a SMG angezeigt bzw. wurde am 06.12.2018 gegen ihn Anklage erhoben.
Ein Aberkennungsverfahren wurde seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl am 25.01.2019 nicht eingeleitet, weil es sich bei den Straftaten des Beschwerdeführers nicht um besonders schwere Verbrechen im Sinne des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 handelte bzw. ein Endigungsgrund oder sonstige Aberkennungsgründe nicht hervorgekommen waren.
Am 02.06.2019 soll der damals noch 14-jährige Beschwerdeführer zusammen mit anderen Beschuldigten eine Person durch Versetzen eines Faustschlages ins Gesicht sowie durch Tritte in den Rücken zu Boden geschlagen und anschließend deren Geldbörse aus der hinteren Hosentasche weggenommen haben (Raub).
4. Mit rechtskräftigem Urteil eines LG vom 24.06.2019 wurde ua. der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren Raubes gemäß §§ 142 Abs.1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung von §§ 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von 21 Monaten, davon 14 Monate bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer am 13.04.2019 -im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem gesondert Verfolgten durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben- gemeinsam mit zwei Mittätern entsprechend dem zuvor gemeinsam entwickelten Tatplan durch die Äußerung „Überfall“, Repetieren einer Faustfeuerwaffe und Richten dieser Waffe aus etwa 1 m Entfernung auf das Gesicht einer Mitarbeiterin, die Aufforderung das Geld herzugeben und die Wegnahme einer Geldbörse samt Bargeld, Verfügungsbefugten eines Wettlokals fremde bewegliche Sachen, nämlich eine Geldbörse mit ca. 710.- € Bargeld, mit dem Vorsatz abgenötigt, durch deren Zueignung sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie den Raub unter Verwendung einer Waffe verübt haben. Gegen den Beschwerdeführer wurde Bewährungshilfe angeordnet und die Weisungen erlassen, binnen drei Monaten ab seiner Enthaftung einen schriftlichen Nachweis einer Beratung und einer Suchtberatung zu erbringen. Dem Urteil ist ferner zu entnehmen, dass gegen den Beschwerdeführer bereits eine diversionelle Erledigung wegen §§ 127, 129 Abs. 1 Z 3; 241e Abs. 3 StGB (Diebstahl, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel) vom 09.10.2018 existiert sowie mehrere Verfahren im HV- und Voruntersuchungsstadium anhängig waren.
Nach einer Mitteilung der LPD XXXX vom 12.08.2019 wurde eine äußerst brutale Raubserie mit 13 Raubüberfällen, einem Einbruchsdiebstahl und einem Raufhandel in der Zeit vom 26.05.2019 bis zum 09.06.2019 geklärt. Unter den ausgeforschten 11 Beschuldigten befand sich auch der Beschwerdeführer.
5. Am 22.08.2019 wurde der Beschwerdeführer in Anwesenheit seiner Mutter als seine gesetzliche Vertreterin und eines Dolmetschers für Russisch beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Auf Befragen gab der Beschwerdeführer an, Russisch gar nicht und Tschetschenisch nur mündlich zu beherrschen. Er sei physisch und psychisch in der Lage, die Einvernahme zu absolvieren. Er sei gesund und nehme keine Medikamente. In Österreich lebe seine Familie (Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern, Cousins). Er habe seit etwa einem halben Jahr eine Beziehung mit einer 16-jährigen österreichischen Staatsbürgerin. Kinder habe er nicht. Er sei zuletzt Schüler gewesen und habe die Neue Mittelschule besucht. Er hole jetzt seinen Schulabschluss nach und werde eine Lehre beginnen (Karosseriebautechnik oder Tischlerei). Er habe in Österreich die Volks- und Hauptschule besucht. Er sei 15 Jahre alt. Es wurde ihm aufgetragen, seine Schulzeugnisse dem Bundesamt vorzulegen. Er sei drei oder vier Monate in einem Verein (Ringen) gewesen, danach sei er öfter mit seinem Bruder ins Fitnesscenter gegangen, sei mit Freunden unterwegs gewesen, habe am Computer gespielt, und sei viel in Parks und im Jugendzentrum gewesen. Er habe unbescholtene Freunde in Österreich, aber auch solche, von denen er sich trennen sollte (Türken, Kurden). Nach den Angaben seiner Mutter gebe es in Tschetschenien schon Verwandte (ihre Geschwister), diese kenne der Beschwerdeführer aber nicht. Seine Großmutter sei vor ein, zwei Jahren verstorben. Nach den Angaben seiner Mutter seien ihre Geschwister beschäftigt; ihr Bruder lebe im Elternhaus, ihre Schwestern seien verheiratet und würden bei ihren Ehemännern leben. Die Verwandten würden in Tschetschenien leben. Der Beschwerdeführer sei nie in Russland gewesen und verfüge auch über keine russischen Dokumente. Nach seiner Rückkehrbefürchtung befragt, brachte er vor, womöglich dort keine Arbeit zu finden. Auch dürfe man im Herkunftsstaat keine Kritik äußern. Die Probleme seiner Eltern in Tschetschenien kenne er nicht. Zur Verurteilung wegen schweren Raubes gab er an, genötigt und gezwungen worden zu sein. Er habe Mitleid mit der ausgeraubten Person gehabt und 200 € zurückgegeben, es sei nicht seine Absicht gewesen. Zum Vorhalt aller sonst aktenkundigen Straftaten gab der Beschwerdeführer an, dass ein namentlich genannter Freund versuche, alles auf ihn zu schieben. Er sei auch nicht drogensüchtig. Als er jünger gewesen sei, habe er schon versucht, Fahrräder wegzunehmen, weil er keines gehabt habe. Er habe auch keine Bilder verschickt, das sei auch sein Freund gewesen. Auf die Frage, was darauf hinweise, dass er künftig nicht mehr straffällig werde, brachte er im Wesentlichen vor, er wisse, dass der Raub nicht richtig gewesen sei, und dass er es ohne die anderen nicht gemacht hätte. Er wolle eine Lehre machen, das sei das Beste. Er sei im Gefängnis auch einmal in den Bunker (Keller) gebracht worden, weil er jemanden beschimpft habe. Zu seiner Integration in Österreich brachte er vor, hier geboren zu sein und sich hier auszukennen. Er habe hier den Kindergarten und die Schule besucht und es sei das einzige Land, wo er eine Chance habe, etwas zu schaffen. Im Herkunftsstaat könnte er sich auch nicht richtig ausdrücken. In Österreich wolle er in weiterer Zukunft fünf Kinder und eine Frau haben. Seine Mutter brachte vor, dass der Beschwerdeführer bei solchen Straftaten im Herkunftsstaat schon längst getötet worden wäre. Dort könne man kein einziges Wort sagen. Zur Mitteilung über die beabsichtigte Aberkennung von Asyl und Erlassung eines Einreiseverbotes brachte der Beschwerdeführer vor, dass dies schon kritisch für ihn wäre. Er habe keine Ahnung, wie er sich in anderen Ländern ausdrücken solle und glaube, es nur hier schaffen zu können. Er könne sich zwar mit seiner Mutter auf Tschetschenisch unterhalten, andere Tschetschenen würden ihn aber nicht verstehen, weil er einen Akzent habe. Seine Mutter brachte vor, dass der Beschwerdeführer diese Straftat (Raub) finanziell nicht nötig gehabt habe.
6. Mit Schreiben vom 22.08.2019 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Mutter des Beschwerdeführers das aktuelle Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation und räumte ihr eine Frist von vier Wochen zur Stellungnahme dazu ein.
Mit Stellungnahme vom 10.09.2019 teilte die Mutter des Beschwerdeführers mit, dass dieser in Österreich geboren und zur Schule gegangen sei und daher in Österreich sozial integriert sei, weshalb er sich in der Russischen Föderation wie ein Fremder fühlen würde, der weder Russisch noch Tschetschenisch spreche. Seine tschetschenischen Sprachkenntnisse seien schlecht und entsprächen etwa A2. Er habe seine Freizeit früher mit Computerspielen und Sport verbracht, habe sich jedoch dann durch den negativen Einfluss seiner nunmehrigen „Freunde“ geändert. Er sei der jüngste in der Gruppe und habe als junges Kind vieles auf sich genommen, weil er dazugehören habe wollen. Er sei aber nicht auf Geld angewiesen gewesen, weil beide Elternteile seit 11 Jahren erwerbstätig seien und ihm auch hätten kaufen können, was er wolle. Leider sei eines ihrer fünf Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Den vorgelegten Zeugnissen (insbesondere dem Jahreszeugnis einer Neuen Mittelschule vom 06.07.2018 für das Schuljahr 2017/2018) ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer nicht genügende Deutschkenntnisse, nicht genügende Kenntnisse in Mathematik und genügende Kenntnisse in Englisch erworben hat und berechtigt war, die siebente Schulstufe zu wiederholen. Sein Verhalten in der Schule wurde als nicht zufriedenstellend bewertet. Aus den übrigen Schulzeugnissen ergibt sich ferner, dass der Beschwerdeführer bereits seit dem Schuljahr 2015/2016 (Neue Mittelschule) Schwierigkeiten in Deutsch und Mathematik hatte.
7. Mit Schreiben vom 27.09.2019 teilte das Bundesamt dem Beschwerdeführer mit, dass die Angaben seines Onkels XXXX in dessen Aberkennungsverfahren als Beweismittel zu verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat zum Akt genommen worden sei, wonach der Onkel des Beschwerdeführers väterlicherseits angab, dass seine Mutter Lehrerin und sein Bruder Zahnarzt in Tschetschenien seien. Sein Vater sei an Krebs verstorben. Seine Mutter und Geschwister (Bruder und Schwester) hätten jeweils eigene Häuser.
Infolge der neuerlichen Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen § 142 (1) f StGB (Raub) am 26.09.2019 wurde das Aberkennungsverfahren beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 02.10.2019 erneut unterbrochen.
8. Am 22.10.2019 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verständigt, dass der Beschwerdeführer mit rechtskräftigem Urteil eines LG vom 20.09.2019 wegen § 27(1) Z1 1.Fall und 2.Fall SMG; § 27(2a) SMG; § 15 StGB §§ 127,129 (1) Z1 StGB; § 125 StGB; §§ 127, 129 (1) Z1 StGB; § 229 (1) StGB; § 241e (1) StGB; § 148a (1) StGB freigesprochen wurde. Dies betrifft die Vorfälle vom, 25.-26.08.2018, 02.09.2018, 24.09.2018 und vom 06.10.2018.
Wegen versuchter Falschaussage im Gerichtsverfahren am 21.08.2019 wurde der damals 15-jährige Beschwerdeführer am 08.01.2020 erneut angezeigt.
9. Mit seit 11.02.2020 rechtskräftigem Urteil eines LG vom 06.02.2020 wurde ua. der Beschwerdeführer als Jugendlicher zum Vorfall am 26.05.2019 (Faustschlag ins Gesicht, wodurch das Opfer einen Nasenbeinbruch und den (teilweisen) Verlust von zwei Zähnen erlitt samt Wegnahme der Geldbörse aus dessen Hosentasche), und den Vorfällen vom 01.06.2019 und 02.06.2019 (Faustschläge ins Gesicht bzw. Fußtritte gegen fünf Personen und [Versuch der] Wegnahme von Suchtgift, Geldtaschen, Umhängetasche) wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs 1 und 143 Abs 2 erster Fall StGB und der Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB -unter Bedachtnahme auf das Urteil des LG XXXX vom 24.06.2019- zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Bei der Strafbemessung wurde als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, das teilweise Geständnis und der Umstand, dass es zum Teil beim Versuch geblieben ist, und als erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens (im Bedachtnahmeurteil) mit sechs weiteren Verbrechen (im gegenständlichen Urteil), die (leichten) Verletzungen von fünf Raubopfern, die Tatbegehung während Anhängigkeit eines Verfahrens. Unter Berücksichtigung der besonderen Strafzumessungsgründe und der allgemeinen Strafzumessungsvorschrift des § 32 StGB erachtete das Gericht die Verhängung einer Gesamtstrafe von vier Jahren als tat- und schuldangemessen sowie der Persönlichkeit des Täters entsprechend. Die Anzahl und das Gewicht der strafbaren Handlungen begründeten das Ausschöpfen des Strafrahmens um mehr als die Hälfte. Abzüglich der bereits am 24.06.2019 bereits verhängten Freiheitsstrafe von 21 Monaten errechnete sich die zusätzliche Freiheitsstrafe mit zwei Jahren und drei Monaten (im zweiten Verfahren). Angesichts der Höhe der ausgesprochenen Freiheitsstrafe in Verbindung mit Art und Anzahl der strafbaren Handlungen sowie der Schwere der Schuld verbietet sich nach Ansicht des Gerichtes die Gewährung einer auch nur zum Teil bedingten Strafnachsicht, auch wenn eine solche theoretisch möglich wäre. Die gesetzlich jedenfalls verlangte hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Rechtsbrecher keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werde, liege angesichts der massiven Delinquenz des Beschwerdeführers nicht vor. Dieser sei bisher nicht bereit und/oder nicht in der Lage gewesen, Unterstützungsmaßnahmen welcher Art auch immer zu nutzen. Zudem habe er sein auffälliges Verhalten in der Untersuchungshaft fortgesetzt und habe aus diesem Grund in eine andere Justizanstalt verlegt werden müssen.
Der Beschwerdeführer wurde darüber hinaus vom ihm vorgeworfenen Vorfall am 26.05.2019 und den (weiteren) Vorfällen vom 01.06.2019 und 02.06.2019 freigesprochen.
Am 28.04.2020 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen falscher Zeugenaussage vor Gericht am 21.08.2019 und dem Versuch, dadurch eine wegen schwerer Körperverletzung angeklagte Person einer Verfolgung nach dem StGB gänzlich zu entziehen, gemäß § 15, §§ 228 (1), 299 (1) StGB erneut Anklage erhoben.
10. Mit Parteiengehör vom 11.05.2020 wurden dem Beschwerdeführer seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl das aktuelle Länderinformationsblatt sowie seine weitere Verurteilung mit Urteil vom 06.02.2020 wegen schweren Raubes nach seiner niederschriftlichen Einvernahme sowie die erneute Anklage wegen falscher Zeugenaussage zur Kenntnis gebracht und ihm eine Frist von zwei Wochen zur Stellungnahme eingeräumt.
11. Nach weiteren Ermittlungen beging der Beschwerdeführer in der Untersuchungshaft am 08.06.2019, 05.09.2019 und 24.10.2019 Ordnungswidrigkeiten und am 25.10.2019 einen Fluchtversuch. Weitere Ordnungswidrigkeiten beging er am 20.11.2019, 08.01.2020 und 14.01.2020.
12. Dem Verwaltungsstrafregister ist zu entnehmen, dass gegen den Beschwerdeführer mit Strafverfügung vom 05.07.2018 eine Geldstrafe von 30.-€ wegen einer Übertretung von § 40 Abs. 1 u.2 iVm § 24 Abs 1 lit.c u. Abs.2 Sbg. Jugendgesetz 1999 (unbeaufsichtigter nächtlicher Aufenthalt als unter 16-Jähriger) verhängt wurde sowie am 17.06.2019 eine Geldstrafe von 110.-€ wegen Übertretung des § 9 Abs.1 bis 6 iVm § 24 Abs. 1 und 4 Schulpflichtgesetz 1985 (unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht).
13. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 05.06.2020 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 09.05.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005 aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG gegen ihn ein neunjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sich die Lage im Herkunftsstaat seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Jahr 2007 insofern geändert habe, als eine pauschale Verfolgung von Teilnehmer der Tschetschenienkriege bzw. deren Angehörigen nicht stattfinde und der Fokus der Sicherheitskräfte auf der Bekämpfung von Rebellen und IS-Sympathisanten bzw. –Rückkehrern liege. Zwar sei es in jüngerer Vergangenheit vereinzelt zu Übergriffen gegen Veteranen der Tschetschenienkriege bzw. Kritikern, die der Tradition der Republik Itschkeria zurechenbar seien, gekommen, jedoch handle es sich hierbei offenkundig um Einzelfälle, von welchen er bzw. seine Bezugsperson bei lebensnaher Betrachtung der Gesamtumstände nicht betroffen sein würden. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer bisher zwei Mal wegen des Verbrechens des (schweren) Raubes verurteilt worden. Nach der Judikatur handle es sich dabei um ein objektiv besonderes schweres Verbrechen, welches auch subjektiv als besonders schwer einzustufen sei. Infolge dessen sei die Aberkennung des Status des Asylberechtigten auch nach Ablauf von mehr als fünf Jahren möglich (§ 7 Abs. 3 AsylG 2005). Der jugendliche BF leide an keinen (akut) lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankungen. Er sei mit den Gepflogenheiten der russischen bzw. tschetschenischen Gesellschaft vertraut und verfüge über zumindest rudimentäre Kenntnisse der tschetschenischen Sprache, welche er zur Reintegration auch verbessern könne. Weiters verfüge er über ausgezeichnete Kenntnisse der deutschen Sprache. Er habe Angehörige in der Russischen Föderation, zu denen seine Mutter den Kontakt herstellen könne. Auch sein namentlich genannter Onkel (väterlicherseits) sei rechtskräftig zur Ausreise verpflichtet und könne dem Beschwerdeführer daher im Fall seiner Rückkehr bei der gesellschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Integration und bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt helfen. Auch einen Cousin betreffend sei ein Aberkennungsverfahren beim BVwG anhängig, sodass er auch in diesem Rückkehrfall eine ihm vertraute Bezugsperson hätte. Es drohe ihm im Fall der Rückkehr in die russische Föderation im gesamten Staatsgebiet weder eine aussichtslose Lage oder eine Verletzung seines Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Er sei keinen Verfolgungshandlungen seitens der russischen Behörden oder Dritter ausgesetzt und sei eine Wiedereinreise in die Russische Föderation gefahrlos möglich. Von der derzeit herrschenden Covid 19-Pandemie, welche auch in der Russischen Föderation herrsche, seien va. Alte und immungeschwächte Personen betroffen. Der Beschwerdeführer sei in Österreich geboren. Gegen seine Eltern und zwei Geschwister seien ebenfalls Aberkennungsverfahren gemäß § 7 Abs. 1 Z 2AsylG 2005 anhängig, jedoch sei gemäß § 7 Abs. 3 AsylG die Verleihung von Aufenthaltstiteln angeregt worden. Weiter Geschwister seien im Bundesgebiet nicht aufhältig. Dem im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern gemeldeten Onkel väterlicherseits sei Asyl mit 29.11.2019 rechtskräftig aberkannt und eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot erlassen worden. Dieser sei zur Ausreise verpflichtet. Gegen die Aberkennung des Asylstatus seines Cousins samt Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot sei derzeit noch ein Verfahren beim BVwG anhängig. Der Beschwerdeführer verfüge über ein aufrechtes, jedoch nicht schützenswertes Familienleben in Österreich. Er sei ledig und habe keine Kinder. Eine noch aufrechte Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin habe nicht festgestellt werden können. Er habe verschiedene Schulen in Österreich besucht und befinde sich derzeit in Haft. Er sei arbeitslos und sei von 29.12.2018 bis 15.03.2019 kurzfristig einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen. Er sei in Österreich bereits zwei Mal gerichtlich vorbestraft und habe auch verwaltungsbehördliche Strafen erhalten. Er verfüge über keinen maßgeblichen Freundeskreis, sei nicht in Vereinen aktiv und engagiere sich auch nicht ehrenamtlich. Trotz einer gewissen gesellschaftlichen Integration in Österreich müssten seine familiären bzw. privaten Interessen (am Verbleib in Österreich) hinter den öffentlichen (an der Beendigung seines Aufenthalts) zurückzutreten. Abgesehen von seiner gerichtlichen Bestrafung wegen besonders schwerer Verbrechen sei er oft polizeilich angezeigt worden, sodass die Fortsetzung seines Aufenthalts in Österreich eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, der ausschließlich mit Verhängung eines mehrjährigen Einreiseverbots wirksam begegnet werden könne.
Rechtlich wurde gefolgert, dass der Beschwerdeführer wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden sei, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen sei. Eine refoulementschutz relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr nach Russland sei nicht gegeben. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der Straftat und der nicht besonders ausgeprägten Integration des Beschwerdeführers in Österreich nicht entgegen. Angesichts der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Russland. Da der Beschwerdeführer aufgrund seiner Verurteilungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sei zudem die Verhängung eines Einreiseverbotes geboten gewesen. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der Beschwerdeführer bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben worden seien.
14. Mit Schriftsatz vom 02.06.2020 erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter das Rechtsmittel der Beschwerde. Beantragt wurde ua. die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Bisher sei keine ordnungsgemäße Bescheid Zustellung an die Mutter als gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers erfolgt. Die Behörde habe sich nicht ausreichend mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers und seinem Privat- und Familienleben in Österreich auseinandergesetzt und bedeute eine Abschiebung nach Russland für ihn die Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens und seiner Unversehrtheit und in eine aussichtlose Lage zu geraten. Seine Abschiebung sei wegen seines ausgeprägten Privatlebens in Österreich auf Dauer unzulässig. Das verhängte Einreiseverbot erscheine unverhältnismäßig schwer und bedeute einen Eingriff in sein Privatleben.
15. Die Beschwerde wurde am 07.07.2020 mitsamt den Bezug habenden Verwaltungsakten dem BVwG vorgelegt.
16. Am 10.07.2020 legte das Bundesamt eine gerichtliche Verständigung über eine für 25.08.2020 anberaumte Hauptverhandlung wegen §§ 15, 84 (4) StGB gegen den Beschwerdeführer beim BVwG ein.
17. Mit Schreiben vom 16.07.2020 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem BVwG mit, dass auch dem Cousin des Beschwerdeführers mit Erkenntnis des BVwG vom 14.07.2020, W196 2231241-1/4E, rechtskräftig der Status des Asylberechtigten aberkannt und gegen diesen eine Rückkehrentscheidung samt unbefristetem Einreiseverbot erlassen wurde, sodass der BF im Rückkehrfall über eine weitere ihm nahestehende Person im Herkunftsstaat verfüge.
18. In der Beschwerdeergänzung des bevollmächtigten Vertreters vom 22.07.2020 wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Russische Föderation eine Verfolgung im Sinne der GFK nicht auszuschließen sei, da er anlässlich seiner Einvernahme am 22.08.2019 vorgebracht habe, er glaube, im Fall der Rückkehr getötet zu werden, man sollte in Tschetschenien keine Kritik äußern, woraus erkennbar sei, dass er über die Situation dort Bescheid wisse. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Gründe für die Zuerkennung von Asyl an seinen Vater nicht mehr gegeben seien. Die Behörde hätte die individuelle Situation des Beschwerdeführers berücksichtigen und erkennen müssen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr von den russischen bzw. tschetschenischen Behörden auf Grund des (unterstellten) Naheverhältnisses seines Vaters zum tschetschenischen Separatismus Gefahr laufe, identifiziert zu werden. Es sei nicht richtig, dass der Beschwerdeführer wegen der Fluchtgründe seiner Familie nicht mit einer asylrelevanten Verfolgung konfrontiert werden könne. Ebenso sei nicht richtig, dass Veteranen der Tschetschenienkriege bzw. deren Angehörige keine Verfolgungshandlungen durch die Behörden mehr drohen würde. Dies werde auch im Länderinformationsblatt bestätigt, wonach in Tschetschenien gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige aber auch gegen politische Gegner rigoros vorgegangen werde, Kadyrov zum Erhalt der Kontrolle unterschiedliche Formen der Gewalt anwende, welche manchmal auch außerhalb Russlands stattfinde. Zu den Ausführungen des Bundesamtes belege die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 31.05.2016 das Gegenteil. Danach stünden Familienangehörige von Aufständischen generellunter strkem Verdacht, Unterstützende der Aufständischen z sein und seien in ernster Gefahr, verfolgt zu werden, auch wenn die Verbindung Jahre zurückliege, sei es möglich, dass Familienmitglieder unter Beobachtung stünden und riskierten, verfolgt zu werden. Weiter wurde aus einer Anfragebeantwortung vom 15.12.2015 aus Berichten von April/Mai 2014 zitiert. Zahlreiche Berichte lange nach 2011 würden belegen, dass frühere Widerstandskämpfer sowie deren Angehörige nach wie vor mit Bedrohung bzw. Verfolgung zu rechnen hätten. Die befürchtete und bei einer Rückkehr mögliche Verfolgung des BF knüpfe an die (zumindest unterstellte) politische Gesinnung des BF vor dem Hintergrund der „Tätigkeit“ seines Vaters an. Aus den aktuellen Länderberichten ergebe sich auf S 29, dass Aufständische und Kritiker des bestehenden Systems sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten weiterhin repressiven Maßnahmen bis hin zum Tod ausgesetzt seien. Dazu seine auch die Kapitel zu den Menschenrechten zu berücksichtigen. Jedenfalls drohe dem BF im Fall der Rückkehr unmenschliche Behandlung und wären sein Leben sowie seine körperliche Unversehrtheit in Gefahr und sollte ihm in eventu subsidiärer Schutz zuerkannt werden. Er habe beim Bundesamt am 22.08.2019 auch angegeben, dass er in Tschetschenien niemanden habe, zumal er sich nie in Russland aufgehalten habe. Er besitze auch keine russischen Dokumente und befürchte, in Russland keine Arbeit zu finden. Erschwerend sei, dass ihm soziale Kontakte, welche ihm bei der Rückkehr Unterstützung bieten könnten, fehlen würden bzw. sei wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation eine Unterstützung auch nicht oder nur sehr erschwert möglich. Die Argumentation, dass der Kontakt zu Verwandten mütterlicherseits durch seine Mutter hergestellt werden könne, sei nicht nachvollziehbar. Da der Beschwerdeführer seine Verwandten nicht kenne, könne nicht einfach angenommen werden, dass sich diese im Fall der Rückkehr um ihn kümmern würden. Ebenso sei die Annahme der Behörde, dass die ebenfalls zur Ausreise verpflichteten Verwandten (Onkel und Cousin) ihm bei einer Rückkehr die erforderliche Unterstützung bieten könnten. Es wäre für den BF daher nicht möglich, sich in der Russischen Föderation eine Existenz aufzubauen. Er wäre auf sich alleine gestellt, wobei die wirtschaftliche Situation in Russland nach den Länderberichten schlecht sei und er sich noch nie dort aufgehalten habe und davon auszugehen sei, dass er keine staatlichen Unterstützungen erhalten werde. Auch verfüge er nur über schlechte Tschetschenisch-Kenntnisse, Russisch spreche er gar nicht. Er habe zu seinem Heimatland absolut keinen Bezug und stehe ihm auch eine innerstaatliche Fluchtalternative aus diesen Gründen nicht zur Verfügung. Auch könne sich nur registrieren lassen, wer einen Inlandspass vorlegen und Wohnraum nachweisen könne. Personen aus dem Kaukasus könnten problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen; die tschetschenische Diaspora sei in allen russischen Großstädten stark angewachsen, etwa in Moskau. Eine Rückkehrentscheidung sei daher gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig. Sein in Österreich entstandenes Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK sei nicht ausreichend berücksichtigt worden. Er sei in Österreich geboren und aufgewachsen und lebe nach österreichischen sozialen und kulturellen Normen bzw. Verhaltensregeln. Schon allein deswegen sei von einer tiefgehenden Integration des BF in Österreich auszugehen. Selbst wenn er mit den Werten und Traditionen der russischen bzw. tschetschenischen Gesellschaft vertraut sei, dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass er in Österreich sozialisiert worden sei. Auch in Bezug auf sein als getrübt und nicht schutzwürdig angesehenes Familienleben sei auf seine Minderjährigkeit Bedacht zu nehmen. Es liege eine erhöhte Schutzwürdigkeit des BF vor. Seine Kernfamilie halte sich in Österreich auf und es liege zweifelsohne ein schützenswertes Familienleben mit seinen Eltern und vier Geschwister in Österreich vor und sei ein Eingriff in dieses Recht keinesfalls zu rechtfertigen. Zwei der vier Geschwister seien Kinder aus der ersten Ehe seiner Mutter und würden bereits die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Der Beschwerdeführer habe in der Haft die Neue Mittelschule abgeschlossen und würden der Beschwerde alle Zeugnisse inklusive Abschlusszeugnis vom 10.07.2020 beigelegt. Er habe sein Vorhaben daher positiv erledigt. Das Bundesamt habe nicht positiv berüchtigt, dass der Beschwerdeführer Überlegungen zur Wahl einer Lehre angestellt habe, bereits geringfügig beschäftigt gewesen sei und auch seinem Vater in der Arbeit ausgeholfen habe. Der Beschwerdeführer habe in Österreich viele Freunde und soziale Kontakte und er könne diese auch während der Haft durch Besuche von 12 verschiedenen Personen aufrechterhalten. Ihm jegliche Integration bzw. Aufenthaltsverfestigung in Österreich abzusprechen sei daher nicht plausibel. Die Behörde habe dem BF in der angefochtenen Entscheidung hauptsächlich seine Straftaten vorgeworfen und ihm jegliche Integration bzw. Schutzwürdigkeit abgesprochen, ohne auf seinen ordentlichen Lebenswandel bis zu seinen Verurteilungen einzugehen. Dem Beschwerdeführer sei klar geworden, dass seine Taten nicht richtig gewesen seien, er wolle einen Lehrabschluss erlangen und ein normales Leben führen sowie eine Familie gründen. Er sei in einen falschen Freundeskreis geraten und habe sich beeinflussen lassen. Die vorliegende Entscheidung greife daher massiv in das ausgeprägte Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers ein. Die Behörde habe dies nicht ausreichend gewürdigt. Eine Rückkehrentscheidung würde § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG verletzen. Eine Rückkehrentscheidung sei auf Dauer unzulässig. Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb des Familienverbandes nicht möglich, da er auf Grund der aktuellen Sicherheitssituation nicht in der Lage wäre, seine Grundbedürfnisse zu decken. Er würde in eine existenzbedrohende Lage geraten und sei ihm eine Rückkehr in den Herkunftsstaat daher nicht zumutbar. Die Behörde habe sich offensichtlich zu wenig und zu oberflächlich mit den Länderberichten und der persönlichen Lage des BF befasst. Auch erscheine das Einreiseverbot in der Dauer von 9 Jahren als unverhältnismäßig schwer. Beantragt werde daher auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Beigelegt wurden erneut die Schulzeugnisse des Beschwerdeführers, darunter auch das Jahres- und Abschlusszeugnis vom 10.07.2020, wonach er in den Fächern Deutsch und Mathematik jeweils mit der Note „genügend“ abschließen konnte und in den übrigen Fächern einen überwiegend „befriedigenden“ Erfolg hatte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an. Er ist 16 Jahre alt und minderjährig, befindet sich jedoch bereits im erwerbsfähigen Alter. Er spricht Deutsch, Englisch und Tschetschenisch.
Der Beschwerdeführer wurde in Österreich geboren. Gegen seine in Österreich asylberechtigten Eltern und zwei Geschwister wurde jeweils ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet. Zwei Halbgeschwister des Beschwerdeführers sind bereits österreichische Staatsbürger.
Dem in Österreich asylberechtigt gewesenen Onkel XXXX (väterlicherseits) sowie dem asylberechtigten Cousin des BF namens XXXX (mütterlicherseits) wurde vor Kurzem jeweils rechtskräftig Asyl aberkannt sowie gegen sie eine Rückkehrentscheidung in die Russische Föderation samt (unbefristetem) Einreiseverbot erlassen.
Im Herkunftsstaat leben noch ein Onkel (Zahnarzt) und eine Tante des Beschwerdeführers väterlicherseits in Tschetschenien und besitzen jeweils ein Haus. Die Großmutter väterlicherseits unterrichtet noch Russisch und Literatur im Herkunftsstaat. Der Großvater väterlicherseits ist bereits verstorben. Ein Onkel seines Vaters lebt und arbeitet in Moskau. Außerdem leben noch ein Onkel und mehrere Tanten mütterlicherseits in Tschetschenien, welche der Beschwerdeführer bisher nicht persönlich kennt. Die Großmutter (mütterlicherseits) ist bereits verstorben.
Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich den Kindergarten und die Schule (Volksschule, Neue Mittelschule), welche er im Juli 2020 erfolgreich abgeschlossen hat. Er lebte mit seinen berufstätigen Eltern und seinen Geschwistern im gemeinsamen Haushalt. Auch sein Onkel XXXX war dort gemeldet. Derzeit befindet sich der Beschwerdeführer in Strafhaft und möchte eine Lehre absolvieren. Er hat Bekannte und viele Freunde in Österreich, die aber zum Gutteil dem kriminellen Milieu verhaftet sind. Er hat kurze Zeit vereinsmäßig Sport betrieben (Ringen), mit seinem Bruder auch ein Fitnesscenter besucht und seine Freizeit mit Computerspielen oder im Jugendzentrum bzw. Park verbracht. Aktuell ist er nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und gesund sowie arbeitsfähig. Er hat eine etwa gleichaltrige österreichische Freundin, mit welcher er aber bisher nicht im gemeinsamen Haushalt gelebt hat.
1.2. Zu den Gründen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten
Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des BAA vom 09.05.2007, AZ. 07 03.245-BAS, im Familienverfahren ebenso wie seiner Mutter abgeleitet von seinem Vater Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Seinem Vater wurde in Österreich Asyl gewährt, da er während einer 6-monatigen Anhaltung (2003/2004) durch russische Sicherheitskräfte über ein unterstelltes Naheverhältnis zur Gruppierung von tschetschenischen Kämpfern befragt wurde und dabei Unterschriften auf Dokumenten geleistet hat, sodass von ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden weiteren Verfolgungshandlungen ausgegangen wurde (Bescheid des UBAS vom 27.03.2007, Zl. 256.436/0/13E-IV/44/05).
1.3. Zur Straffälligkeit des Beschwerdeführers:
1.3.1. Der BF hat bereits als Strafunmündiger Straftaten begangen, wobei es aber infolge seines Alters zu keiner Verurteilung kam.
1.3.2. Mit rechtskräftigem Urteil eines LG vom 24.06.2019 wurde ua. der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des schweren Raubes gemäß §§ 142 Abs.1, 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB unter Anwendung von §§ 5 Z 4 JGG (erstmals) zu einer Freiheitsstrafe von 21 Monaten, davon 14 Monate bedingt auf eine Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer am 13.04.2019 -im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem gesondert Verfolgten durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben- gemeinsam mit zwei Mittätern entsprechend dem zuvor gemeinsam entwickelten Tatplan durch die Äußerung „Überfall“, Repetieren einer Faustfeuerwaffe und Richten dieser Waffe aus etwa 1 m Entfernung auf das Gesicht einer Mitarbeiterin, die Aufforderung das Geld herzugeben und die Wegnahme einer Geldbörse samt Bargeld, Verfügungsbefugten eines Wettlokals fremde bewegliche Sachen, nämlich eine Geldbörse mit ca. 710.- € Bargeld, mit dem Vorsatz abgenötigt hat, um durch deren Zueignung sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, wobei sie den Raub unter Verwendung einer Waffe verübt haben. Gegen den Beschwerdeführer wurde Bewährungshilfe angeordnet und die Weisungen erlassen, binnen drei Monaten ab seiner Enthaftung einen schriftlichen Nachweis einer Beratung und einer Suchtberatung zu erbringen.
Diesem Urteil ist ferner zu entnehmen, dass gegen den Beschwerdeführer bereits eine diversionelle Erledigung wegen §§ 127, 129 Abs. 1 Z 3; 241e Abs. 3 StGB (Diebstahl, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel) vom 09.10.2018 existiert sowie mehrere Verfahren im HV- und Voruntersuchungsstadium anhängig waren.
1.3.3. Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil eines LG vom 20.09.2019 wegen § 27(1) Z1 1.Fall und 2.Fall SMG; § 27(2a) SMG; § 15 StGB §§ 127,129 (1) Z1 StGB; § 125 StGB; §§ 127, 129 (1) Z1 StGB; § 229 (1) StGB; § 241e (1) StGB; § 148a (1) StGB freigesprochen.
1.3.4. Mit seit 11.02.2020 rechtskräftigem Urteil eines LG vom 06.02.2020 wurde ua. der Beschwerdeführer als Jugendlicher zum Vorfall am 26.05.2019 (Faustschlag ins Gesicht, wodurch das Opfer einen Nasenbeinbruch und den (teilweisen) Verlust von zwei Zähnen erlitt samt Wegnahme der Geldbörse aus dessen Hosentasche), und den Vorfällen vom 01.06.2019 und 02.06.2019 (Faustschläge ins Gesicht bzw. Fußtritte gegen fünf Personen und [Versuch der] Wegnahme von Suchtgift, Geldtaschen, Umhängetasche) erneut wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs 1 und 143 Abs 2 erster Fall StGB und der Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB -unter Bedachtnahme auf das Urteil des LG XXXX vom 24.06.2019- zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Bei der Strafbemessung wurde als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel, das teilweise Geständnis und der Umstand, dass es zum Teil beim Versuch geblieben ist, und als erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens (im Bedachtnahme Urteil) mit sechs weiteren Verbrechen (im gegenständlichen Urteil), die (leichten) Verletzungen von fünf Raubopfern, die Tatbegehung während Anhängigkeit eines Verfahrens. Unter Berücksichtigung der besonderen Strafzumessungsgründe und der allgemeinen Strafzumessungsvorschrift des § 32 StGB erachtete das Gericht die Verhängung einer Gesamtstrafe von vier Jahren als tat- und schuldangemessen sowie der Persönlichkeit des Täters entsprechend. Die Anzahl und das Gewicht der strafbaren Handlungen begründeten das Ausschöpfen des Strafrahmens um mehr als die Hälfte. Abzüglich der bereits am 24.06.2019 bereits verhängten Freiheitsstrafe von 21 Monaten errechnete sich die zusätzliche Freiheitsstrafe mit zwei Jahren und drei Monaten (im zweiten Verfahren). Angesichts der Höhe der ausgesprochenen Freiheitsstrafe in Verbindung mit Art und Anzahl der strafbaren Handlungen sowie der Schwere der Schuld verbietet sich nach Ansicht des Gerichtes die Gewährung einer auch nur zum Teil bedingten Strafnachsicht, auch wenn eine solche theoretisch möglich wäre. Die gesetzlich jedenfalls verlangte hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Rechtsbrecher keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werde, liege angesichts der massiven Delinquenz des Beschwerdeführers nicht vor. Dieser sei bisher nicht bereit und/oder nicht in der Lage gewesen, Unterstützungsmaßnahmen welcher Art auch immer zu nutzen. Zudem habe er sein auffälliges Verhalten in der Untersuchungshaft fortgesetzt und habe aus diesem Grund in eine andere Justizanstalt verlegt werden müssen.
Der Beschwerdeführer wurde darüber hinaus vom ihm vorgeworfenen Vorfall am 26.05.2019 und den (weiteren) Vorfällen vom 01.06.2019 und 02.06.2019 freigesprochen.
1.3.5. Am 28.04.2020 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen falscher Zeugenaussage vor Gericht am 21.08.2019 und dem Versuch, dadurch eine wegen schwerer Körperverletzung angeklagte Person einer Verfolgung nach dem StGB gänzlich zu entziehen, gemäß § 15, §§ 228 (1), 299 (1) StGB erneut Anklage erhoben.
1.3.6. Weiters beging der Beschwerdeführer in der Untersuchungshaft am 08.06.2019, 05.09.2019 und 24.10.2019 Ordnungswidrigkeiten und am 25.10.2019 einen Fluchtversuch. Weitere Ordnungswidrigkeiten beging er am 20.11.2019, 08.01.2020 und 14.01.2020.
1.3.7. Dem Verwaltungsstrafregister ist zu entnehmen, dass gegen den Beschwerdeführer mit Strafverfügung vom 05.07.2018 eine Geldstrafe von 30.-€ wegen einer Übertretung von § 40 Abs. 1 u.2 iVm § 24 Abs 1 lit.c u. Abs.2 Sbg. Jugendgesetz 1999 (unbeaufsichtigter nächtlicher Aufenthalt als unter 16-Jähriger) verhängt wurde sowie am 17.06.2019 eine Geldstrafe von 110.-€ wegen Übertretung des § 9 Abs.1 bis 6 iVm § 24 Abs. 1 und 4 Schulpflichtgesetz 1985 (unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht).
1.3.8. Nach einer gerichtlichen Verständigung war für den 25.08.2020 eine weitere Hauptverhandlung wegen §§ 15, 84 (4) StGB gegen den Beschwerdeführer anberaumt.
1.4. Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten
Der Beschwerdeführer wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und bedeutet wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft.
Der Beschwerdeführer unterliegt zudem in der Russischen Föderation keiner aktuellen Bedrohung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation
Aus den vom BFA bereits ins Verfahren eingeführten, im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 27.03.2020 (in der Folge: LIB 2020) zitierten Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation ergibt sich Folgendes:
1.5.1.
1. Politische Lage
Letzte Änderung: 21.07.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
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- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020
- Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
- MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020
- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020
- RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020
- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020
- Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020
1.1. Tschetschenien
Letzte Änderung: 27.03.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow g