TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/11 W250 2227065-8

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Veröffentlicht am 11.09.2020
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Entscheidungsdatum

11.09.2020

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76
FPG §77

Spruch

W250 2227065-8/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter im amtswegig eingeleiteten Verfahren zur Zahl 751554909-190550754 über die weitere Anhaltung von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, in Schubhaft zu Recht:

A)

Gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft im Zeitpunkt der Entscheidung verhältnismäßig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge als BF bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste im Jahr 2005 mit seinen Eltern in das Bundesgebiet ein. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt bezeichnet) vom 25.01.2018 wurde dem BF der 2009 verliehene Status des Asylberechtigten aberkannt und mit einer Rückkehrentscheidung in den Herkunftsstaat verbunden. Eine dagegen eingebrachte Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.05.2018 als verspätet zurückgewiesen.

2. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 14.02.2018 wurde der (bereits mehrfach vorbestrafte) BF gemäß §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 1. Fall Strafgesetzbuch – StGB, §§ 15, 83 Abs. 1 StGB sowie § 50 Abs. 1 Z 3 Waffengesetz 1996 – WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten rechtskräftig verurteilt. Mit Urteil eines Bezirksgerichtes vom 02.05.2018 wurde der BF gemäß § 50 Abs. 1 Z 3 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Wochen rechtskräftig verurteilt.

3. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 07.03.2018 wurde dem BF gemäß § 94 Abs. 5 iVm § 93 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG sein Konventionsreisepass entzogen und ihm aufgetragen, das Dokument gemäß § 93 Abs. 2 FPG unverzüglich dem Bundesamt vorzulegen. Am 10.09.2018 wurde dem BF während seiner Anhaltung in Strafhaft der Konventionsreisepass abgenommen.

4. Während sich der BF in Strafhaft befand, wurde vom Bundesamt bei der Vertretungsbehörde der Russischen Föderation ein Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates für den BF eingeleitet. Zu diesem Zweck wurde der BF am 14.11.2018 während seiner Anhaltung in Strafhaft vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Er verweigerte jedoch die Beantwortung der an ihn gestellten Fragen, sodass die Einvernahme ergebnislos abgebrochen werden musste.

5. Am 03.06.2019 kehrte der BF von einem Haftausgang nicht mehr in die Justizanstalt zurück und wurde daraufhin zur Fahndung ausgeschrieben. Nach seiner erneuten Festnahme befand sich der BF bis 06.12.2019 in Strafhaft.

6. Am XXXX richtete das Bundesamt im Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates ein Schreiben an die Vertretungsbehörde der Russischen Föderation zwecks Vorführung des BF zur Identitätsfeststellung.

7. Mit Bescheid vom 26.11.2019 ordnete das Bundesamt gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG über den BF die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung an. Dieser Bescheid wurde nach der Entlassung des BF aus der Strafhaft am 06.12.2019 in Vollzug gesetzt und der BF wird seither in Schubhaft angehalten. Die vom BF gegen diesen Schubhaftbescheid vom 26.11.2019 erhobene Beschwerde wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.01.2020 als unbegründet abgewiesen und festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlagen.

Begründend wurde dabei insbesondere auf das Entziehen aus der Strafhaft (im Zuge eines Freiganges) und das besondere Interesse des Staates an der Sicherstellung einer Überstellung verwiesen.

8. Das Bundesverwaltungsgericht stellte mit Erkenntnissen vom 31.03.2020, 28.04.2020, 26.05.2020, 23.06.2020, 20.07.2020 und XXXX fest, dass zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung verhältnismäßig ist.

9. Das Bundesamt legte dem Bundesverwaltungsgericht am 04.09.2020 die Akten gemäß §22a BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG zur neuerlichen Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1. Zum Verfahrensgang (I.1. – I.9.)

Der unter Punkt I.1. – I.9. geschilderte Verfahrensgang wird zur Feststellung erhoben.

2. Zur Person des BF und den Voraussetzungen der Schubhaft

2.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt er nicht. Er verfügt über keine Dokumente zum Nachweis seiner Identität, insbesondere über kein Reisedokument. Der BF ist volljährig und weder Asylberechtigter noch subsidiär Schutzberechtigter.

2.2. Der BF wird seit 06.12.2019 in Schubhaft angehalten.

2.3. Beim BF wurde SARKOIDOSE Stadium II diagnostiziert, er erhält eine Cortisontherapie. Seine nächste klinische Kontrolluntersuchung ist im November 2020 geplant. Der BF ist haftfähig und hat in Schubhaft Zugang zu benötigter medizinischer Versorgung.

3. Zur Fluchtgefahr und zum Sicherungsbedarf

3.1. Es besteht auf Grund des Bescheides des Bundesamtes vom 25.01.2018 gegen den BF eine rechtskräftige aufenthaltsbeendende Maßnahme, die mit einem auf 10 Jahre befristeten Einreiseverbot verbunden ist. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.05.2018 als verspätet zurückgewiesen.

3.2. Der BF ist im Zusammenhang mit der Organisation seiner Abschiebung in keiner Form kooperativ und in besonderem Maße vertrauensunwürdig. Der BF brach am 25.04.2015 aus einer Justizanstalt aus. Am 03.06.2019 kehrte der BF von einem bewilligten Ausgang nicht mehr in die Justizanstalt zurück. Der BF achtet die österreichische Rechtsordnung insgesamt nicht. Bei einer Entlassung aus der Schubhaft wird er mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit untertauchen und sich vor den Behörden verborgen halten um einer Abschiebung zu entgehen.

3.3. In Österreich leben die Eltern und Geschwister des BF. Er ging jedenfalls in den letzten sechs Jahren keiner legalen Beschäftigung (außerhalb der Strukturen der Justizanstalten) nach. Er konnte seit 2014 soziale Kontakte außerhalb der Justizanstalten nur in sehr reduziertem Maße pflegen, verfügt jedoch über einen gesicherten Wohnsitz im Bundesgebiet.

4. Zur Verhältnismäßigkeit der Schubhaft

4.1. Der BF weist in Österreich folgende strafgerichtliche Verurteilungen auf:

4.1.1. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 19.06.2013 wurde der BF gemäß §§ 127, 129 Z 1, § 15 StGB und § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten, welche unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, rechtskräftig verurteilt (Jugendstraftat).

4.1.2. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 02.04.2014 wurde der BF gemäß § 83 Abs. 1 StGB, § 218 Abs. 1 Z 1 StGB, § 142 Abs. 1 StGB, §§ 15, 105 Abs. 1 StGB, § 107 Abs. 1 und 2 StGB, § 107 Abs. 1 StGB, § 88 Abs. 4 1. Fall StGB sowie §§ 15, 269 Abs. 1 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten rechtskräftig verurteilt (Jugendstraftat).

4.1.3. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 26.06.2015 wurde der BF gemäß § 127 StGB, § 142 Abs. 1 StGB, §§ 15, 105 Abs. 1 StGB sowie § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von einundzwanzig Monaten rechtskräftig verurteilt (Jugendstraftat).

4.1.4. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 21.11.2016 wurde der BF gemäß § 107 Abs. 1 StGB und § 269 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten rechtskräftig verurteilt (Jugendstraftat).

4.1.5. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom 14.02.2018 wurde der BF gemäß §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 1. Fall StGB, §§ 15, 83 Abs. 1 StGB sowie § 50 Abs. 1 Z 3 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten rechtskräftig verurteilt.

4.1.6. Mit Urteil eines Bezirksgerichtes vom 02.05.2018 wurde der BF gemäß § 50 Abs. 1 Z 3 WaffG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Wochen rechtskräftig verurteilt.

4.2. Bei der russischen Vertretungsbehörde ist ein Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates für den BF anhängig, am XXXX wurde der BF einer Delegation dieser Behörde zur Feststellung seiner Identität vorgeführt. Dabei verweigerte der BF die Beantwortung der Fragen, sodass das Interview abgebrochen werden musste. Vom Vater des BF wurde eine Bestätigung zur Identität des BF unterfertigt und an die russische Vertretungsbehörde übermittelt. Die Ausstellung eines Heimreisezertifikates für den BF wird vom Bundesamt regelmäßig in Form von Einzelurgenzen urgiert, zusätzlich wurden am XXXX weitere Unterlagen zur Identifizierung des BF an das russische Innenministerium übermittelt.

Von der Ausstellung eines Heimreisezertifikates und einer darauffolgenden baldigen Abschiebung des BF ist innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer auszugehen.

4.3. Eine relevante Änderung der Umstände seit der letzten Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft hat sich im Verfahren nicht ergeben.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungs- und Gerichtsakt, in die Akte des Bundesverwaltungsgerichtes das Verfahren über die Beschwerde gegen den Bescheid vom 25.01.2018 sowie das bisherige Schubhaftverfahren des BF betreffend, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, in das Zentrale Fremdenregister, in das Zentrale Melderegister sowie in die Anhaltedatei des Bundesministeriums für Inneres.

1. Zum Verfahrensgang, zur Person des BF und den Voraussetzungen der Schubhaft:

1.1. Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem Akt des Bundesamtes, dem vorliegenden Gerichtsakt sowie den Akten des Bundesverwaltungsgerichtes das Verfahren über die Beschwerde gegen den Bescheid vom 25.01.2018 sowie das bisherige Schubhaftverfahren des BF betreffend.

1.2. Aus dem Verwaltungsakt und insbesondere aus den Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 03.01.2020 ergibt sich, dass der BF über keine Dokumente zum Nachweis seiner Identität und damit auch über kein Reisedokument verfügt. An seiner Volljährigkeit besteht jedoch kein Zweifel und wird die Minderjährigkeit auch vom BF nicht behauptet. Im bisherigen Verfahren haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der BF die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Da dem BF der Status des Asylberechtigten rechtskräftig aberkannt und ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde, handelt es sich beim BF weder um einen Asylberechtigten noch um einen subsidiär Schutzberechtigten.

1.3. Dass der BF seit 06.12.2019 in Schubhaft angehalten wird, ergibt sich aus dem Akt des Bundesamtes sowie aus der Anhaltedatei des Bundesministeriums für Inneres.

1.4. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF beruhen auf dem amtsärztlichen Gutachten vom XXXX . Indizien für eine Haftunfähigkeit liegen nicht vor. Dass er Zugang zu allenfalls benötigter medizinischer Behandlung hat, ist unzweifelhaft.

2. Zur Fluchtgefahr und zum Sicherungsbedarf

2.1. Die Feststellungen zu der mit Bescheid des Bundesamtes vom 25.01.2018 erlassenen Rückkehrentscheidung und dem damit verbundenen Einreiseverbot ergeben sich aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes die Beschwerde gegen diesen Bescheid betreffend.

2.2. Dass der BF nicht bereit ist freiwillig in den Herkunftsstaat zurückzukehren oder am Verfahren zu seiner Abschiebung mitzuwirken, hat er selbst angegeben; dies ergibt sich auch aus der Aktenlage. Die in besonderem Maße fehlende Vertrauenswürdigkeit des BF ergibt sich aus seiner massiven Straffälligkeit, der zweimaligen Flucht aus der Strafhaft und dem Verhalten in den bisherigen Verfahren. Seine fehlende Kooperationsbereitschaft zeigt sich insbesondere daran, dass sich der BF weigerte, die im Rahmen eines Interviews vor einer Delegation der russischen Vertretungsbehörde an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Dass er zwei Mal aus der Strafhaft geflohen ist, räumte der BF im Rahmen seiner Befragung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 03.01.2020 ein und gab überdies an, dass er nach einem Freigang aus Angst vor seiner Abschiebung nicht in die Justizanstalt zurückgekehrt ist.

Die grundlegende Missachtung der österreichischen Rechtsordnung durch den BF ergibt sich aus seinem Verhalten seit dem Jahr 2013. Er hat schon kurz nach Erreichen der Strafmündigkeit derart schwere Straftaten begangen, dass er sich ab dem 16. Lebensjahr fast durchgehend in Strafhaft befunden hat – darunter eine unbedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten im Jahr 2014 und von 21 Monaten im Jahr 2015; dies jeweils unter Anwendung des reduzierten (!) Strafrahmens im Jugendstrafrecht. Angesichts dieses Vorverhaltens und der vorübergehenden Flucht aus der Strafhaft im Juni 2019 sowie der weiterhin demonstrierten Kooperationsunwilligkeit besteht keinerlei Zweifel darüber, dass sich der BF im Falle einer Entlassung aus der Schubhaft dem behördlichen Zugriff umgehend (erneut) entziehen würde.

2.3. Die Feststellungen zum gesicherten Wohnsitz und den familiären Anknüpfungspunkten im Bundesgebiet ergeben sich aus der Aktenlage und werden auch vom Bundesamt nicht bestritten. Die Feststellungen zur fehlenden legalen Beschäftigung und der deutlichen Reduktion sozialer Kontakte während der letzten 6 Jahre ergeben sich aus der unstrittigen, fast durchgehenden Anhaltung in Justizanstalten und Polizeianhaltezentren.

3. Zur Verhältnismäßigkeit der Schubhaft

3.1. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF beruhen auf einer Einsichtnahme in das Strafregister.

3.2. Die Feststellungen zum Verfahren zur Erlangung eines Heimreisezertifikates mit der Vertretungsbehörde der russischen Föderation ergeben sich aus der Aktenlage sowie aus der Stellungnahme des Bundesamtes vom 04.09.2020. Vor diesem Hintergrund kann realistisch von einer Identifizierung des BF samt Ausstellung eines Heimreisezertifikates und seiner Abschiebung innerhalb der kommenden Monate ausgegangen werden.

3.3. Eine Änderung der Umstände für die Aufrechterhaltung der Schubhaft ist dem Verwaltungsakt nicht zu entnehmen. Gegenteiliges ist auch im durchgeführten Ermittlungsverfahren nicht hervorgekommen.

Weitere Beweise waren wegen Entscheidungsreife nicht aufzunehmen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu Spruchteil A. – Fortsetzungsausspruch

3.1.1. Gesetzliche Grundlagen

Der mit „Schubhaft“ betitelte § 76 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, lautet:

„§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

c.es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z 1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.“

§ 77 Gelinderes Mittel

Gemäß § 77 Abs. 1 FPG hat das Bundesamt bei Vorliegen der in § 76 genannten Gründe gelindere Mittel anzuordnen, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. Gegen mündige Minderjährige hat das Bundesamt gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn bestimmte Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann; diesfalls gilt § 80 Abs. 2 Z 1 FPG.

Gemäß § 77 Abs. 2 FPG ist Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 24 Abs. 1 Z 4 BFA-VG von Amts wegen erfolgt.

Gemäß § 77 Abs. 3 FPG sind gelindere Mittel insbesondere die Anordnung, (Z 1) in vom Bundesamt bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen, (Z 2) sich in periodischen Abständen bei einer Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden oder (Z 3) eine angemessene finanzielle Sicherheit beim Bundesamt zu hinterlegen.

Kommt der Fremde gemäß § 77 Abs. 4 FPG seinen Verpflichtungen nach Abs. 3 nicht nach oder leistet er ohne ausreichende Entschuldigung einer ihm zugegangenen Ladung zum Bundesamt, in der auf diese Konsequenz hingewiesen wurde, nicht Folge, ist die Schubhaft anzuordnen. Für die in der Unterkunft verbrachte Zeit gilt § 80 mit der Maßgabe, dass die Dauer der Zulässigkeit verdoppelt wird.

Gemäß § 77 Abs. 5 FPG steht die Anwendung eines gelinderen Mittels der für die Durchsetzung der Abschiebung erforderlichen Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt nicht entgegen. Soweit dies zur Abwicklung dieser Maßnahmen erforderlich ist, kann den Betroffenen aufgetragen werden, sich für insgesamt 72 Stunden nicht übersteigende Zeiträume an bestimmten Orten aufzuhalten.

Gemäß § 77 Abs. 6 FPG hat sich zur Erfüllung der Meldeverpflichtung gemäß Abs. 3 Z 2 der Fremde in periodischen, 24 Stunden nicht unterschreitenden Abständen bei einer zu bestimmenden Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden. Die dafür notwendigen Angaben, wie insbesondere die zuständige Dienststelle einer Landespolizeidirektion sowie Zeitraum und Zeitpunkt der Meldung, sind dem Fremden vom Bundesamt mit Verfahrensanordnung (§ 7 Abs. 1 VwGVG) mitzuteilen. Eine Verletzung der Meldeverpflichtung liegt nicht vor, wenn deren Erfüllung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

Gemäß § 77 Abs. 7 FPG können die näheren Bestimmungen, welche die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit gemäß Abs. 3 Z 3 regeln, der Bundesminister für Inneres durch Verordnung festlegen.

Gemäß § 77 Abs. 8 FPG ist das gelindere Mittel mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Bescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

Gemäß § 77 Abs. 9 FPG können die Landespolizeidirektionen betreffend die Räumlichkeiten zur Unterkunftnahme gemäß Abs. 3 Z 1 Vorsorge treffen.

§ 22a Abs. 4 BFA-VG lautet:

(4) Soll ein Fremder länger als vier Monate durchgehend in Schubhaft angehalten werden, so ist die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung nach dem Tag, an dem das vierte Monat überschritten wurde, und danach alle vier Wochen vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfen. Das Bundesamt hat die Verwaltungsakten so rechtzeitig vorzulegen, dass dem Bundesverwaltungsgericht eine Woche zur Entscheidung vor den gegenständlichen Terminen bleibt. Mit Vorlage der Verwaltungsakten gilt die Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. Das Bundesamt hat darzulegen, warum die Aufrechterhaltung der Schubhaft notwendig und verhältnismäßig ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und ob die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig ist. Diese Überprüfung hat zu entfallen, soweit eine Beschwerde gemäß Abs. 1 bereits eingebracht wurde.

3.1.2. Zur Judikatur:

Die Anhaltung in Schubhaft ist nach Maßgabe der grundrechtlichen Garantien des Art. 2 Abs. 1 Z 7 PersFrBVG und des Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK nur dann zulässig, wenn der Anordnung der Schubhaft ein konkreter Sicherungsbedarf zugrunde liegt und die Schubhaft unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen. Kann der Sicherungszweck auf eine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Weise, wie etwa durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG, erreicht werden (§ 76 Abs. 1 FPG), ist die Anordnung der Schubhaft nicht zulässig (VfGH 03.10.2012, VfSlg. 19.675/2012; VwGH 22.01.2009, Zl. 2008/21/0647; 30.08.2007, Zl. 2007/21/0043).

Ein Sicherungsbedarf ist in der Regel dann gegeben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder diese zumindest wesentlich erschweren werde (§ 76 Abs. 3 FPG). Es ist allerdings nicht erforderlich, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bereits eingeleitet worden ist (VwGH 28.06.2002, Zl. 2002/02/0138).

Die fehlende Ausreisewilligkeit des Fremden, d.h. das bloße Unterbleiben der Ausreise, obwohl keine Berechtigung zum Aufenthalt besteht, vermag für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss der – aktuelle – Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein, etwa in mangelnder sozialer Verankerung in Österreich. Dafür kommt insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei der Prüfung des Sicherungsbedarfes auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen, wobei frühere Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung maßgeblich vergrößern kann (VwGH 21.12.2010, Zl. 2007/21/0498; weiters VwGH 08.09.2005, Zl. 2005/21/0301; 23.09.2010, Zl. 2009/21/0280).

„Die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs 1 FrPolG 2005 ist eine Ermessensentscheidung. Auch die Anwendung gelinderer Mittel setzt das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraus. Fehlt ein Sicherungsbedarf, dann darf weder Schubhaft noch ein gelinderes Mittel verhängt werden. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Der Behörde kommt aber auch dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (Hinweis E 17.03.2009, 2007/21/0542; E 30.08.2007, 2007/21/0043). Mit anderen Worten: Kann das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, dann wäre es rechtswidrig, Schubhaft zu verhängen; in diesem Fall hat die Behörde lediglich die Anordnung des gelinderen Mittels vorzunehmen (Hinweis E 28.05.2008, 2007/21/0246). Der Ermessenspielraum besteht also für die Behörde nur insoweit, als trotz eines die Schubhaft rechtfertigenden Sicherungsbedarfs davon Abstand genommen und bloß ein gelinderes Mittel angeordnet werden kann. Diesbezüglich liegt eine Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn die eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten wurden, also nicht vom Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde“ (VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, vgl. auch VwGH vom 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

„Je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liegt, umso weniger bedarf es einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel. Das diesbezügliche Begründungserfordernis wird dagegen größer sein, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliegt. Das wurde in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, angenommen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 22.05.2007, Zl. 006/21/0052, und daran anknüpfend das Erkenntnis vom 29.04.2008, Zl. 2008/21/0085; siehe auch die Erkenntnisse vom 28.02.2008, Zl. 2007/21/0512, und Zl. 2007/21/0391) und wird weiters auch regelmäßig bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein. Mit bestimmten gelinderen Mitteln wird man sich insbesondere dann auseinander zu setzen haben, wenn deren Anordnung vom Fremden konkret ins Treffen geführt wird“ (VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

Gemäß § 22a Abs. 4 dritter Satz BFA-VG gilt mit der Vorlage der Verwaltungsakten durch das BFA eine Beschwerde als für den in Schubhaft befindlichen Fremden eingebracht. In einem gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG ergangenen Erkenntnis wird entsprechend dem Wortlaut der genannten Bestimmung (nur) ausgesprochen, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft im Zeitpunkt der Entscheidung verhältnismäßig ist. Diese Entscheidung stellt - ebenso wie ein Ausspruch nach § 22a Abs. 3 BFA-VG - einen neuen Hafttitel dar. Über vor (oder nach) der Entscheidung liegende Zeiträume wird damit nicht abgesprochen (VwGH vom 29.10.2019, Ra 2019/21/0270; VwGH vom 30.08.2018, Ra 2018/21/0111).

3.1.3. Der BF besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und ist daher Fremder im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 1 FPG. Er ist volljährig und weder Asylberechtigter noch subsidiär Schutzberechtigter, weshalb die Anordnung der Schubhaft grundsätzlich – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – möglich ist.

3.1.4. Da eine durchsetzbare und durchführbare aufenthaltsbeendende Maßnahme vorliegt und ein Verfahren zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates für den BF anhängig ist, ist mit einer Abschiebung des BF innerhalb der zulässigen Schubhafthöchstdauer zu rechnen. Innerhalb dieses Zeitraumes erscheint es auch realistisch, dass der Flugverkehr in die Russische Föderation wiederaufgenommen wird.

3.1.5. Im vorliegenden Fall geht das Gericht auch weiterhin von Fluchtgefahr im Sinne des § 76 Abs. 3 FPG aus:

Dabei ist gemäß § 76 Abs. 3 Z. 1 FPG zu berücksichtigen, ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert. Der BF behindert seine Rückkehr dadurch, dass er keine Schritte zur Beschaffung identitätsbezeugender Dokumente unternommen hat und vielmehr die Ausstellung eines Heimreisezertifikates durch unkooperatives Verhalten in dem diesbezüglichen Verfahren bisher verzögert hat. Es ist daher der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z. 1 FPG erfüllt.

Bei der Beurteilung ob Fluchtgefahr vorliegt, ist gemäß § 76 Abs. 3 Z 3 FPG zu berücksichtigen, ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat. Das Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme per se vermag zwar keinen Tatbestand zu verwirklichen, der in tauglicher Weise "Fluchtgefahr" zum Ausdruck bringt. Der Existenz einer solchen Maßnahme kommt jedoch im Rahmen der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung der Größe der auf Grund der Verwirklichung eines anderen tauglichen Tatbestandes des § 76 Abs. 3 FPG grundsätzlich anzunehmenden Fluchtgefahr Bedeutung zu (vgl. VwGH vom 11.05.2017, Ro 2016/21/0021).

Da gegen den BF eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung vorliegt und er seine Rückkehr behindert, ist insgesamt auch der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG erfüllt.

Bei der Beurteilung ob Fluchtgefahr vorliegt sind gemäß § 76 Abs. 3 Z 9 FPG der Grad der sozialen Verankerung des Fremden in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit bzw. das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes zu berücksichtigen.

Das Verfahren hat keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass im Fall des BF Umstände vorliegen, die wegen seiner Verankerung im Bundesgebiet gegen das Bestehen der Fluchtgefahr sprechen. Insbesondere konnten die familiären Beziehungen den BF bisher nicht von der wiederholten Begehung von Straftaten abhalten. Insbesondere ist der BF aus der gerichtlichen Strafhaft geflohen, um sich seiner Abschiebung zu entziehen. Es liegt daher insgesamt kein soziales Netz vor, das den BF davon abhalten könnte, unterzutauchen. § 76 Abs. 3 Z 9 FPG liegt daher gegenständlich ebenfalls vor.

Es liegt daher weiterhin Fluchtgefahr im Sinne des § 76 Abs. 3 Z. 1, 3 und 9 FPG vor und ist aus diesen Erwägungen auch Sicherungsbedarf gegeben.

3.1.6. Als weitere Voraussetzung ist die Verhältnismäßigkeit der angeordneten Schubhaft zu prüfen. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen.

Der BF hat zwar familiäre jedoch keine nennenswerten sozialen Bindungen in Österreich. Einer legalen Erwerbstätigkeit ging der BF in Österreich nicht nach.

Gemäß § 76 Abs. 2a FPG ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

Der BF wurde in Österreich seit dem Jahr 2013 sechsmal – vorrangig wegen Gewalt- und Vermögensdelikten – zu weitestgehend unbedingten Freiheitsstrafen von knapp 70 Monaten, umgerechnet fast 6 Jahren verurteilt. Er wurde in dieser Zeit – bis zum Vollzug der Schubhaft – auch praktisch durchgehend in Justizanstalten angehalten. Einen genehmigten Freigang nutzte er, um sich der Strafhaft zu entziehen. Durch die wiederholte Begehung von Straftaten, von denen der BF trotz gerichtlicher Verurteilungen und vollzogener Haftstrafen nicht abgehalten werden konnte, ergibt sich daher aus dem Verhalten des BF insgesamt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit in hohem Maß gefährdet und ein besonders hohes öffentliches Interesse an der baldigen Außerlandesbringung des BF besteht.

Den persönlichen Interessen des BF kommt daher ein geringerer Stellenwert zu als dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen – insbesondere an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung – zumal der BF bereits in der Vergangenheit gezeigt hat, dass er die ihn treffenden Verpflichtungen nicht einhält und im Verfahren auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er dieses Verhalten in Zukunft ändert.

Bei einer wie im vorliegenden Fall im Sinne des § 80 Abs. 4 Z 1 und Z 4 FPG höchstzulässigen Dauer der Schubhaft von 18 Monaten scheint die Aufrechterhaltung der seit 06.12.2019 bestehenden Anhaltung des BF in Schubhaft weiterhin verhältnismäßig.

Dies auch unter Berücksichtigung der Verpflichtung der Behörde auf eine möglichst kurze Dauer der Schubhaft hinzuwirken. Selbst wenn es aufgrund der gegenwärtigen Restriktionen im Zusammenhang mit COVID-19 noch immer zu Verzögerungen der Abschiebung aufgrund der auch weiterhin bestehenden Einschränkungen im internationalen Flugverkehr kommt, besteht jedoch die realistische Möglichkeit einer Überstellung des BF in seinen Herkunftsstaat (innerhalb der gesetzlich normierten Zeitspanne für die Anhaltung in Schubhaft) aus aktueller Sicht weiterhin. Die absehbare weitere Dauer der Anhaltung in Schubhaft ist nach derzeitigem Stand - kooperatives Verhalten des BF vorausgesetzt - mit wenigen Monaten einzustufen, da auch mit der Erlangung eines Heimreisezertifikates zu rechnen ist. Es ist damit zu rechnen, dass die gegenwärtigen Restriktionen im Zusammenhang mit COVID-19 wieder substantiell gelockert werden und dann eine Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat durchführbar sein wird. Eine Verzögerung der Abschiebung unmittelbar aufgrund dieser Umstände ist zum Entscheidungszeitpunkt (zumindest noch) nicht ersichtlich. Eine bereits jetzt bestehende faktische Unmöglichkeit der Abschiebung des BF ist aufgrund des vorliegenden Akteninhaltes nicht ersichtlich.

Im vorliegenden Fall liegt die (verhältnismäßige) Verzögerung einer Abschiebung des BF jedoch nicht ausschließlich an den pandemiebedingten Einschränkungen, sondern am unkooperativen Verhalten des BF. Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist es auch trotz der Einschränkungen im Flugverkehr fallbezogen noch vertretbar eine Schubhaft in Erwartung einer Lockerung der Reisebeschränkungen vorerst aufrecht zu erhalten (VwGH vom 12.05.2020, Ra 2020/21/0094).

Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die angeordnete Schubhaft seit der letzten gerichtlichen Überprüfung auch weiterhin das Kriterium der Verhältnismäßigkeit erfüllt.

3.1.7. Zu prüfen ist, ob ein gelinderes Mittel im Sinne des § 77 FPG den gleichen Zweck wie die angeordnete Schubhaft erfüllt. Da eine durchsetzbare und durchführbare aufenthaltsbeendende Maßnahme vorliegt, der BF zur Verhinderung der Abschiebung unkooperatives Verhalten zeigt und sich insbesondere zur Verhinderung seiner Abschiebung der gerichtlichen Strafhaft entzogen hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der BF in Freiheit für die Behörde jederzeit greifbar sein wird.

Die Anordnung eines gelinderen Mittels kommt daher weiterhin nicht in Betracht.

3.1.8. Die hier zu prüfende Schubhaft stellt daher nach wie vor eine „ultima ratio“ dar, da sowohl Fluchtgefahr und Sicherungsbedarf als auch Verhältnismäßigkeit vorliegen und ein gelinderes Mittel nicht den Zweck der Schubhaft erfüllt. Das Verfahren hat keine andere Möglichkeit ergeben, eine gesicherte Außerlandesbringung des BF zu gewährleisten.

Es war daher gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG festzustellen, dass die angeordnete Schubhaft nach wie vor notwendig und verhältnismäßig ist und dass die maßgeblichen Voraussetzungen für ihre Fortsetzung im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen.

3.1.9. Es konnte von der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen werden, da der Sachverhalt im Rahmen des behördlichen Verfahrens hinreichend geklärt wurde und das gerichtliche Verfahren keine wesentlichen Änderungen ergeben hat.

3.2. Zu Spruchteil B. - Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.

Im vorliegenden Akt findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben.

Die Revision war daher nicht zuzulassen.

Schlagworte

Fluchtgefahr Fortsetzung der Schubhaft gelinderes Mittel Gesundheitszustand Haftfähigkeit Heimreisezertifikat Interessenabwägung Kooperation öffentliche Interessen Pandemie Rückkehrentscheidung Schubhaft Sicherungsbedarf Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Strafhaft Ultima Ratio Verhältnismäßigkeit Vertrauenswürdigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W250.2227065.8.00

Im RIS seit

04.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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