TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/15 W103 2217614-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.09.2020
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Entscheidungsdatum

15.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

W103 2217614-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2019, Zl. 1021734200-14732375, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

II. In Stattgabe der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF, auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 Z 1 und 2 2. Fall AsylG 2005 idgF wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein volljähriger Staatsbürger der Russischen Föderation, stellte am 24.06.2014 den vorliegenden Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes, nachdem er zusammen mit seiner Ehegattin und dem gemeinsamen minderjährigen Kind zuvor unter Mitführung seines russischen Reisepasses auf dem Luftweg ins Bundesgebiet eingereist war. Anlässlich seiner am gleichen Tag abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er gehöre der armenischen Volksgruppe an, bekenne sich zum orthodoxen Glauben und stamme aus einer näher bezeichneten Stadt im Südwesten der Russischen Föderation. Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer aus, er sei im März 2014 in seiner Heimatstadt als Taxifahrer unterwegs gewesen und habe beobachtet, als zwei Autos stehen geblieben wären; ein Mann sei aus einem der Autos ausgestiegen und habe auf das andere Fahrzeug geschossen. Der Schütze sei wieder zu seinem Auto gerannt und hätte die Fahrt fortgesetzt. Der Beschwerdeführer sei zum anderen Auto, auf welches geschossen worden wäre, gegangen und hätte bemerkt, dass der Fahrer tot gewesen wäre. Daraufhin habe der Beschwerdeführer die Polizei verständigt und habe im April und Mai zweimal bei dieser aussagen müssen. Im Mai sei er telefonisch bedroht worden, dass – sollte er bei Gericht aussagen – diese Männer ihn und seine Familie umbringen werden. Am 22.06.2014 hätten zwei unbekannte Männer seine Frau angehalten und abermals bedroht. Aus diesem Grund habe er sein Heimatland gemeinsam mit seiner Familie verlassen.

Da sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Einreise im Besitz eines gültigen spanischen Schengenvisums befunden hatte, wurde in weiterer Folge ein Konsultationsverfahren nach den Bestimmungen der Dublin III-VO mit jenem Mitgliedstaat eingeleitet.

Anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Zulassungsverfahren am 13.08.2014 gab der Beschwerdeführer insbesondere an, er sei mit seiner Familie am 28. Mai nach Spanien gefahren, wo sie für zehn Tage in einem Hotel gelebt hätten. In Spanien hätten sie gewartet, bis die Gerichtsverhandlung vorbei gewesen wäre, um zurückkehren zu können. Als sie am 08.06.2014 nach Russland zurückgekehrt wären, hätte seine Mutter ihn telefonisch informiert, dass Leute von der Polizei gekommen wären. Nach einigen Tagen sei der Beschwerdeführer selbst zur Polizei in seiner Heimatstadt gegangen und habe dieser berichtet, dass man ihn bedroht hätte und er daher habe wegfahren müssen. Der Ermittler hätte ihm mitgeteilt, dass es keine Gerichtsverhandlung gegeben hätte und diese auf Juli verlegt worden wäre; der Beschwerdeführer wäre der einzige Zeuge in dieser Angelegenheit gewesen.

2. Mit Bescheid vom 19.08.2014 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Spanien für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig sei. Gleichzeitig wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Spanien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

Ehefrau und Sohn des Beschwerdeführers, deren Anträge ebenfalls gemäß § 5 AsylG wegen Zuständigkeit Spaniens zurückgewiesen worden waren, reisten am 03.03.2016 freiwillig in den Herkunftsstaat zurück.

3. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.10.2018, Zl. W205 2011310-1, wurde der gegen den angeführten Bescheid eingebrachten Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben. Begründend wurde zusammengefasst festgehalten, dass Österreich aufgrund der beim Beschwerdeführer insbesondere im psychischen Bereich vorliegenden gesundheitlichen Beschwerden in Zusammenschau mit der bereits langen, ihm nicht zuzurechnenden, Verfahrensdauer von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen habe.

4. Aus einer gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 10.11.2018 ergibt sich, dass beim Beschwerdeführer zur Zeit der Befundaufnahme eine depressive Verstimmung vorgelegen hätte, welche in Verbindung mit der derzeit bestehenden Lebenssituation im Asylverfahren als Reaktion auf Belastungen, und damit als Anpassungsstörung F43.2, eingeordnet werden könne. Derzeit bestünden keine Suizidimpulse bzw. keine drängenden Suizidgedanken beim Beschwerdeführer.

5. Am 11.03.2019 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im zugelassenen Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Der Beschwerdeführer gab zusammengefasst an, er sei nicht gesund und nehme Medikamente ein (diesbezüglich wurde ein Konvolut an medizinischen Unterlagen in Vorlage gebracht), ginge jedoch arbeiten. Der Beschwerdeführer habe im Herkunftsstaat eine pädagogische Hochschule besucht und im Anschluss den Beruf des Schweißers erlernt, in welchem er zwei Jahre lang gearbeitet hätte. Danach habe er drei Jahre als Verkäufer in einem Geschäft gearbeitet, nachts sei er zudem als Taxifahrer tätig gewesen. Im Heimatland hielten sich unverändert seine Eltern, sein Bruder mit dessen Familie, sowie seine Schwester auf. Diese würden, ebenso wie die Gattin und der minderjährige Sohn des Beschwerdeführers, in dessen Herkunftsstadt leben. Für seine Angehörigen sei die Situation im Heimatland in Ordnung; seine Frau sei aufgrund einer schweren Erkrankung ihrer Mutter gemeinsam mit dem minderjährigen Sohn in die Russische Föderation zurückgekehrt, nachdem sie sich eineinhalb Jahre mit dem Beschwerdeführer in Österreich aufgehalten hätten. In Österreich habe der Beschwerdeführer keine Verwandten, jedoch Freunde und Bekannte. Der Beschwerdeführer arbeite 20 Stunden bei einer Saisonfirma und erhalte hierfür 200 EUR, außerdem beziehe er 175 EUR Sozialhilfe. Mit den Behörden seines Heimatlandes habe er nie Probleme gehabt.

Zum Grund seiner Flucht schilderte der Beschwerdeführer Folgendes:

„Ich habe als Taxifahrer gearbeitet. In der Nacht von 07.03 auf 08.03.2014 habe ich gerade auf einen Kunden gewartet. Ich saß im Auto und habe beobachtet, dass ein Auto in den Hof einfuhr. Kurz darauf hörte ich Schüsse. Dann habe ich gesehen wie ein junger Mann zu einem Fahrzeug kam. Es war ein Mercedes E – Klasse. Das Auto das in den Hof einfuhr war ein Range Rover. Ich habe auch beobachtet wie der Bursche in den Range Rover eingestiegen ist und wegfuhr. Ich habe die Polizei angerufen. Ich stieg aus meinem Auto aus, bin über die Straße gegangen und habe auf die Polizei gewartet. Die Polizei kam nach einer halben Stunde. Die Polizei hat mich befragt und ich habe alles erzählt. Ich wurde auch gefragt welches Fahrzeug es war und ob ich den Mann gesehen habe oder nicht. Ich habe das Fahrzeug beschrieben. Was diesen Burschen betrifft sagte ich, dass ich sein Gesicht nicht gesehen habe. Ich habe die Kleidung beschrieben. Er hatte eine Jeanshose und eine Jacke an. Danach wurde meine Aussage in einem Polizeibus vor Ort protokolliert. Ich habe meine Adresse und Telefonnummer angegeben. Danach sagte die Polizei ich kann gehen. Sie werden mich anrufen wenn sie etwas brauchen. Das Ganze hat zwei Stunden gedauert. Ich bekam dann eine Ladung und war acht oder zehn Tage nach dem Vorfall beim zuständigen Ermittler, der mich einvernommen hat. Er hat mir auch das Protokoll meiner ersten Einvernahme zur Einsicht gegeben. Die Ladung die ich bekam, kann ich leider nicht vorlegen, weil ich die bei der Behörde beim Eingang abgeben musste. Dann bekam ich eine telegraphische Mitteilung, dass ich am 14. April vor Gericht zu erscheinen habe. Dort sollte ich zum Gespräch mit dem Staatsanwalt erscheinen. Dann bekam ich wieder eine telegraphische Mitteilung, dass ich am 24. April vor dem Richter erscheinen soll, der mich auch befragte. Nach dem Gespräch mit dem Richter ging ich aus dem Gerichtsgebäude zum Parkplatz und wollte zur Arbeit fahren. Es kamen zwei Personen zu mir, die sagten, dass sie von der Polizei sind und mich fragten ob ich XXXX bin. Dann haben sie mich ersucht mit ihnen, für ein Gespräch, auf die Seite zu kommen. Dann hat mich eine von diesen Personen an der Jacke gepackt und gesagt, dass sie meine Adresse wissen. Ich verstand ziemlich schnell, dass die nicht von der Polizei sind. Sie fragten mich was ich ausgesagt habe. Dann haben sie mich aufgefordert, keine weiteren Aussagen mehr zu machen. Bei der nächsten Einvernahme soll ich sagen, dass ich mich an nichts mehr erinnere. Sie sagten mir, dass ich keine Spielchen spielen soll. Das war eine Warnung und zwar die Letzte. Wenn ich das nicht befolge, werden sie meine Familie abstechen. Ich habe verstanden, dass diese Menschen nicht scherzen. Ich habe meinen Arbeitgeber angerufen und habe mich krank gemeldet. Dann kam ich nach Hause und erzählte den ganzen Vorfall meiner Frau. Nach kurzer Überlegung beschlossen wir zu flüchten. Am 25. April fuhren wir in die Stadt XXXX . Dort waren wir bis Mai. Dann kehrten wir zurück weil ich wieder eine telegraphische Ladung für das Gericht bekam. Das sagten mir meine Eltern. Die Post kam zu meinen Eltern, weil ich nicht an der Meldeadresse gewohnt habe. Ich glaube dass ich irgendwann Anfang Mai zu Gericht gehen sollte. Genau weiß ich das nicht mehr. Meine Freunde haben mir geraten eine Zeitlang ins Ausland zu gehen um einen Grund zu haben, nicht zu Gericht zu gehen. So haben wir Visa für Spanien bekommen. Am 28. Mai sind wir weggefahren. Bis 10. Juni waren wir in Spanien. Meine Eltern erzählten uns, dass die Polizei bei ihnen war, weil ich nicht zum Gericht gekommen bin. Meine Eltern sagten der Polizei, dass wir im Ausland sind. Wir sollten uns bei der Behörde melden, wenn wir wieder zurück sind. Ich wollte nichts mehr riskieren. Ich habe zu dieser Zeit bei meinem Freund und meine Frau bei ihrer Mutter gewohnt. Wir haben da unsere Ausreise vorbereitet. Unsere Freunde halfen uns dabei. Am 23. Juni flogen wir nach Moskau. Um ca. 22:00 Uhr waren wir in Moskau und um 06:00 Uhr Früh in XXXX . Etwa zwei Wochen nach meiner Einreise in Österreich habe ich mit meinen Eltern telefoniert. Sie erzählten mir, dass die Mitarbeiter der Polizei nach mir gesucht haben. Als meine Gattin eineinhalb Jahre später wegen der schweren Krebserkrankung zu ihrer Mutter in die Heimat zurückgekehrt ist, haben sich wieder Polizisten bei ihr gemeldet und nach mir gefragt. Meine Gattin sagte den Polizisten, dass ich schwer krank bin und wegen der medizinischen Behandlung in Spanien bin.“

Weitere Fluchtgründe habe der Beschwerdeführer nicht; sämtliche der erwähnten Vorfälle hätten sich im Jahr 2014 ereignet. Er habe sich bezüglich der Bedrohung deshalb nicht an die Polizei gewandt, da er Angst gehabt hätte, die Polizei aufzusuchen. „Sie“ seien sehr überzeugend gewesen. Der Beschwerdeführer sei lediglich dieses eine Mal bedroht worden, er habe aber gemacht, was von ihm verlangt worden wäre. Er habe im Grunde gewusst, von wem die Leute gekommen wären. In ihrer Stadt habe es eine Art kriminelle Autorität gegeben. Diese Person namens XXXX hätte sich übrigens auch in Österreich aufgehalten und wäre abgeschoben worden. Diese Person sitze nunmehr im Gefängnis.

Zu seinen Rückkehrbefürchtungen gab der Beschwerdeführer an, damals vor seiner Abreise hätte er die Befürchtung gehabt, dass das Verfahren wieder aufgenommen werde und die Probleme von vorne beginnen würden. Jetzt könne er es nicht sagen. Auf die Frage, ob ihm im Falle einer Rückkehr von Seiten der Behörden etwas drohen würde, gab der Beschwerdeführer an, vielleicht schon, da er sich schriftlich verpflichtet hätte, das Land nicht zu verlassen, jedoch am nächsten Tag ausgereist wäre. Seine Gattin und die weiteren Familienangehörigen würden von den Behörden wegen seiner Person nicht behelligt werden. Diese hätten lediglich ein paar Mal nach dem Beschwerdeführer gefragt.

6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.03.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte die Staatsbürgerschaft, Identität und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers fest und legte ihrer Entscheidung ausführliche Feststellungen zur aktuellen Situation in dessen Herkunftsstaat zu Grunde. Das Bundesamt habe nicht feststellen können, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland einer staatlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde ausgeführt, dass es nicht nachvollziehbar wäre, weshalb sich der Beschwerdeführer in Bezug auf die vorgebrachten Drohungen nicht an die Behörden seines Heimatlandes gewandt hätte, welche schutzwillig und schutzfähig gewesen wären. Die anlässlich der Erstbefragung noch vorgebrachte Bedrohung seiner Gattin habe der Beschwerdeführer anlässlich seiner Einvernahme im März 2019 mit keinem Wort mehr erwähnt. Zudem habe er im Zuge der Erstbefragung eine telefonische Bedrohung geschildert, im weiteren Verfahrensverlauf jedoch davon gesprochen, persönlich bedroht worden zu sein. Auch aus seiner Aussage, dass seine Familie, ohne von Problemen betroffen zu sein, in der Heimatstadt leben könne, ergebe sich, dass eine reale Gefahr für ihn nicht gegeben wäre, zudem solle die Person, welche den Beschwerdeführer bedroht hätte, seinen Angaben zufolge bereits durch die Behörden des Heimatlandes verhaftet worden sein. Die vom Beschwerdeführer weiters geäußerte Furcht, er könnte durch die Behörden seines Heimatlandes wegen Nichterscheinens zur Gerichtsverhandlung zur Rechenschaft gezogen werden, erweise sich als nicht begründet, da nicht davon auszugehen wäre, dass der Beschwerdeführer nach fünf Jahren noch belangt werden würde, zumal die seinen Angaben zufolge für den Mord verantwortliche Person, bereits in Haft wäre. Wenn überhaupt, sei von einer geringfügigen Strafe auszugehen, welche jedoch nicht als Willkürhandlung oder Verfolgung durch die Behörden seines Heimatlandes gewertet werden könnte, sondern vielmehr eine landesübliche Behördenmaßnahme darstellen würde. Mangels Vorliegens einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention käme eine Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht in Betracht.

Eine Rückkehr in die Russische Föderation sei dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich. Dieser habe im Heimatland noch genügend familiäre Anknüpfungspunkte und es habe nicht festgestellt werden können, dass ihm in seinem Heimatland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wäre. Der Beschwerdeführer sei ein junger und arbeitsfähiger Mann, welcher den Großteil seines Lebens im Heimatland verbracht hätte und in die dortige Gesellschaft integriert sei. Der Beschwerdeführer leide an keiner schwerwiegenden Erkrankung. In der Russischen Föderation seien näher dargestellte Behandlungsmöglichkeiten sowohl für psychische Erkrankungen als auch für Hepatitis C vorhanden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Feststellungen zur Russischen Föderation habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr einem Personenkreis angehören würde, von welchem anzunehmen wäre, dass er sich in Bezug auf seine individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellen würde, als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen könne. Dem Beschwerdeführer sei es vor seiner Ausreise möglich gewesen, sein Auslangen zu sichern, zudem habe dieser nichts von einer allfälligen finanziellen Notlage seiner Angehörigen berichtet.

Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte oder schützenswerte private Bindungen. Dieser ginge in Österreich einer geringfügigen Beschäftigung nach und habe sich geringe Deutschkenntnisse angeeignet, eine besondere Integrationsverfestigung habe jedoch nicht festgestellt werden können. Dieser habe zu keinem Zeitpunkt seines Aufenthalts von einem dauernden Verbleib im Bundesgebiet ausgehen können, weshalb sich eine Rückkehrentscheidung als gerechtfertigt erweise.

7. Mit Eingabe vom 08.04.2019 wurde durch den gewillkürten Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben, in welcher der dargestellte Bescheid vollumfänglich angefochten wurde. Begründend wurde zusammenfassend ausgeführt, der Beschwerdeführer hätte dargelegt, was ihm im Herkunftsstaat widerfahren wäre und an welchen gesundheitlichen Problemen er leide. Zudem halte der Beschwerdeführer sich seit beinahe fünf Jahren im Bundesgebiet auf und habe hier einen Freundes- und Bekanntenkreis. Die Länderfeststellungen seien sehr allgemein gehalten. Der Beschwerdeführer habe dargelegt, dass er noch Medikamente hinsichtlich seiner Erkrankungen zu konsumieren habe; die belangte Behörde sei nicht weiter auf den Umstand eingegangen, ob solche bzw. gleichwertige im Herkunftsstaat des Betroffenen erworben werden können bzw. ob eine Rückkehr in das Herkunftsland nicht wiederum eine entsprechende Verschlechterung des Gesundheitszustandes bedeuten würde. Die belangte Behörde habe nicht weiter geprüft, ob der Beschwerdeführer auch tatsächlich Zugang zu einer Heilbehandlung im Zielstaat haben würde und wer die Kosten der Medikamente und der Heilbehandlung tragen bzw. aufbringen könnte bzw. ob für den Fall der Notwendigkeit der entsprechenden weiteren Behandlung entsprechende Behandlungseinrichtungen und die Möglichkeit der Erlangung entsprechender Medikamente überhaupt vorhanden wären. Auf die Person des XXXX sei nicht weiter eingegangen worden. Nach Ansicht des Beschwerdeführers hätte die belangte Behörde entsprechend einen Vertrauensanwalt und/oder länderkundlichen Sachverständigen dem gegenständlichen Verfahren beiziehen müssen und wäre diese bei Einholung entsprechend weiterer Beweise bzw. auch Einvernahmen der Eltern des Beschwerdeführers bzw. dessen Gattin/Schwiegermutter vor Ort zu einem anderen Bescheidinhalt gelangt. Die Einholung eines länderkundlichen und medizinisch- psychiatrischen Sachverständigengutachtens werde ebenso wie die Einvernahme der Schwiegermutter und der Eltern des Beschwerdeführers betreffend die Nachfragen der Polizei nach der Person des Beschwerdeführers beantragt. Der Beschwerdeführer habe trotz gesundheitlicher Probleme versucht, sich im Bundesgebiet zu integrieren.

8. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 17.04.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Mit Schreiben vom 19.09.2019 wurde eine Teilnahmebestätigung bzgl. des BF‚ “Werte- und Orientierungskurs“ gem. § 5 IntegrationsG übermittelt.

10. Mit Schreiben vom 29.01.2020 wurde ein Zeugnis vom 21.12.2019 vorgelegt, daraus ergibt sich, dass der BF die Integrationsprüfung A2 beim ÖIF positiv abgelegt hat.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der armenischen Volksgruppe angehört und sich zum christlich-orthodoxen Glauben bekennt. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer reiste im Juni 2014 auf dem Luftweg von seinem Herkunftsstaat in das österreichische Bundesgebiet und hält sich seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Die Reise erfolgte gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinem minderjährigen Sohn (welche zwischenzeitig freiwillig in den Herkunftsstaat zurückgereist sind) unter Mitführung seines russischen Reisepasses und eines gültigen spanischen Schengenvisums der Kategorie C. Der Beschwerdeführer stammt aus XXXX im Südwesten der Russischen Föderation, wo er die Schule sowie eine pädagogische Hochschule besuchte, den Beruf des Schweißers erlernte und in der Folge in diesem Beruf sowie als Verkäufer und als Taxilenker arbeitete. In seiner Heimatstadt halten sich unverändert seine Eltern, ein Bruder, eine Schwester, seine Ehegattin und sein minderjähriger Sohn auf.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Umstandes, dass er im März 2014 Zeuge einer Straftat geworden wäre und diesbezüglich in der Folge nicht bei Gericht ausgesagt hätte, mit Verfolgung durch die Behörden respektive Privatpersonen zu rechnen hätte. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dem Beschwerdeführer ist es möglich und zumutbar, sich alternativ zu einer Rückkehr in seine Herkunftsregion in einem anderen Teil der Russischen Föderation, etwa in Moskau, niederzulassen.

Der Beschwerdeführer, welcher sich in Österreich aufgrund der Diagnose einer schweren depressiven Episode mit Suizidalität (ICD 10 F 33.3) in medikamentös-psychiatrischer und einzelpsychotherapeutischer Behandlung befunden hat und zudem eine Therapie hinsichtlich einer Hepatitis C-Erkrankung durchlaufen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden. Der Beschwerdeführer hat zuletzt keine Psychopharmaka mehr eingenommen, auch die Behandlung seiner Hepatitis C-Erkrankung ist zufolge den vorgelegten Befunden abgeschlossen. Eigenen Angaben zufolge nahm der Beschwerdeführer zuletzt lediglich Medikamente „für seine Gelenke“ ein. Der Beschwerdeführer legte nicht dar, dass er aktuell an einer schwerwiegenden Erkrankung leidet oder im Bundesgebiet aktuell eine Behandlung in Anspruch nimmt, deren Fortsetzung ihm im Herkunftsstaat nicht möglich sein würde. In der Russischen Föderation besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, es bestehen sowohl Behandlungsmöglichkeiten für Erkrankungen im psychischen Bereich, als auch für Hepatitis C und die Beschwerden des Beschwerdeführers im Bewegungsapparat, weswegen der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr ausreichend behandelt werden könnte. Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich zur eigenständigen Erwirtschaftung seines Lebensunterhaltes in der Lage, zudem hat er im Herkunftsstaat zahlreiche enge Angehörige, welche ihn im Bedarfsfall bei einer allenfalls nötigen privaten Finanzierung von Behandlung- und Medikamentenkosten unterstützen könnten.

1.3. Der unbescholtene Beschwerdeführer bezieht Leistungen der Grundversorgung und befindet sich zudem in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis. Er hat sich Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 angeeignet und einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet aufgebaut. Für den Fall der Erteilung einer Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung steht dem Beschwerdeführer eine Vollzeitbeschäftigung als Hilfsarbeiter in Aussicht. Der Beschwerdeführer hat sich in keinen Vereinen engagiert, war nicht ehrenamtlich tätig und hat keine Familienangehörigen oder sonst engen sozialen Bezugspersonen im Bundesgebiet. Seine engsten Angehörigen befinden sich allesamt in der Russischen Föderation, wo der Beschwerdeführer den weit überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat. Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

1.4. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-        ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-        BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-        FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-        ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-        US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

-        Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

-        US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-        FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018

-        HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018

-        ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018

-        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 3.8.2018

-        US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen sowie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert, um sich selbst zu bereichern (FH 1.2018).

Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor, die Regierung bestätigt aber, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind. Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative und auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 20.4.2018, vgl. EASO 3.2017). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (US DOS 20.4.2018).

Korruptionsbekämpfung gilt seit 2008 als prioritäres Ziel der Zentralregierung. Bis 2012 wurde die dafür notwendige Gesetzesgrundlage geschaffen. Beispielsweise wurden die Sanktionen festgelegt. Aufsichtsbehörden erhielten mehr Befugnisse, darunter die Finanzkontrolle, die Generalstaatsanwaltschaft und der Geheimdienst (FSB). Es wurden vermehrt Überprüfungen eingeleitet. In der Folge stieg die Anzahl der Strafverfahren. Zu Beginn richteten sie sich hauptsächlich gegen untere Chargen, seit 2013 jedoch auch gegen hochrangige Beamte und Politiker, wie einzelne Gouverneure, regionale Minister und stellvertretende föderale Minister und einen früheren Verteidigungsminister. Positiv bewertete die russische Zivilgesellschaft die 2009 geschaffenen Gesetze, welche die staatlichen Behörden und die Justiz verpflichteten, über ihre Aktivitäten zu informieren. Im Zusammenhang mit der Korruptions-Bekämpfung entstanden zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die ab 2011 einen gewissen Einfluss auf die Arbeit der Behörden ausüben konnten und erreichten, dass das Handeln von Dienststellen und Gerichten teils transparenter wurde. In einzelnen Bereichen der Verwaltung wurde die Korruption reduziert, oft abhängig von einzelnen integren und innovativen Führungsfiguren. Beobachter sind sich jedoch einig, dass sich die Situation nicht substantiell verbessert hat. Am endemischen Charakter der Korruption in der Verwaltung hat sich bisher nichts geändert. Das gilt auch für das Justizsystem und für die Polizei, die 2011 reformiert wurde. Die Gründe für den Misserfolg sind vielschichtig. Auf höchster Ebene scheint die russische Führung kein echtes Interesse an der Korruptions-Bekämpfung zu haben, da sie selber vom korrupten System profitiert. Externe Beobachter kritisieren, der Kreml nutze Anti-Korruptions-Maßnahmen, um Gegner zu schwächen und die Elite zu kontrollieren. Aufsehenerregende Fälle dienten dazu, die Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung zu stärken. Im Verwaltungsapparat sind die konkreten Regeln zur Korruptionsbekämpfung unterentwickelt, es fehlen zum Beispiel Mechanismen zur Integritätsprüfung der Mitarbeiter/innen. Institutionen zur Korruptionsbekämpfung sind laut BTI zwar oft mit kompetenten Personen besetzt, es fehlen ihnen jedoch die Kompetenz und die Ressourcen, um effektiv zu handeln. Laut Elena Panfilova, ehemalige Direktorin von Transparency International Russland, herrscht unter russischen Beamten und dem Justizpersonal kein Verständnis für die Problematik von Interessenskonflikten, vielmehr scheinen verwandtschaftliche und freundschaftliche Gefälligkeiten wichtiger als die berufliche Integrität. Durch korrupte Praktiken sind Abhängigkeiten zwischen Mitarbeiter/innen, zwischen Personen in verschiedenen Hierarchiestufen und zwischen Institutionen entstanden. Solche "verfilzten Strukturen" blieben völlig unkontrolliert und weil jeder jeden deckt, ist eine systematische Aufarbeitung kaum möglich. In der Verwaltung werden deshalb im Vergleich zur Anzahl der Staatsangestellten relativ wenige Strafverfahren wegen Korruption eingeleitet, auch weil die Gerichte selber korruptionsanfällig sind. Zu Schuldsprüchen kommt es selten, wenn doch, ist das Strafmaß vielfach gering oder wird insbesondere bei hohen Geldbußen nicht vollstreckt. Auf weitere Institutionen, die zur Korruptionsbekämpfung notwendig sind – unabhängige Gerichte, freie Medien und die Zivilgesellschaft – wird vermehrt Druck ausgeübt. Auch im Nordkaukasus beschränken sich Anti-Korruptionskampagnen vor allem auf einzelne aufsehenerregende Festnahmen von Beamten. Es ist davon auszugehen, dass Ramzan Kadyrow Korruptionsbekämpfung dazu nutzt, um gegen unliebsame Personen vorzugehen. Die tschetschenische Staatsanwaltschaft bestätigt 2014, dass es in Anbetracht des Ausmaßes des Problems zu vergleichsweise wenigen Strafverfahren kommt. Und diese endeten oft ohne Schuldspruch. Häufig betreffen sie Alltagskorruption, das heißt, die unteren Chargen der Verwaltung. Laut Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden, befragt durch ICG, sind die Polizisten, die in Korruptionsfällen ermitteln, selber korrupt. Um gegen Korruption innerhalb der Polizei vorzugehen, wurden die Löhne erhöht. Die erforderliche Summe, um eine Stelle bei der Polizei zu erhalten, blieb jedoch derart hoch, dass die Abhängigkeit von informellen Zahlungen weiterhin bestand. Die Lohnerhöhungen brachten deshalb keine substantiellen Verbesserungen. Eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ist in Tschetschenien noch weniger gegeben als im übrigen Russland, da Nichtregierungsorganisationen seit Jahren stark unter Druck stehen und die Bevölkerung tendenziell versucht, jeglichen Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden (SEM 15.7.2016).

Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung (GIZ 7.2018a).

Korruption ist vor allem in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Laut einem rezenten Bericht der International Crisis Group gibt es glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrovs Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrovs und der ihm nahestehenden Gruppen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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