TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/16 W111 2205800-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.09.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

16.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W111 2205800-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.08.2018, Zl. 723176800 – 170622755/BMI-BFA_SZB_RD, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Z 2 sowie Abs. 4, 8, 10 Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 53 Abs. 1 sowie Abs. 3 Z 1, 55 FPG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat:

„Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19- Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen“.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein damals minderjähriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste zusammen mit seinen Eltern und Geschwister illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 30.10.2002 durch seine gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf Asylerstreckung, welchem mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 29.06.2006 gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 unter gleichzeitiger Feststellung, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 12 AsylG 1997 kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt, stattgegeben wurde.

2. Infolge einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein, in welchem am 01.08.2018 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers in russischer Sprache durchgeführt wurde. Der Beschwerdeführer gab zusammengefasst an, dass er in Österreich nach etwa 6 Monaten eine Lehre abgebrochen habe. Über weitere Berufserfahrung verfüge er nicht. Zu seinem Privatleben in Freiheit führte er aus, dass er in letzter Zeit beim AMS gewesen sei; er habe eine Arbeit gesucht und Kurse besucht. Er hätte einen Schulabschluss machen wollen, jedoch habe er mangels Deutschkenntnissen nicht abschließen können. Er sei auch nicht in einem Verein aktiv. Ansonsten habe er seine Zeit mit seiner Familie verbracht und Termine, wie im Spital etc. wahrgenommen. In Österreich würden die Freundin, die vier Kinder, die Eltern, die fünf Brüder und die Schwester des Beschwerdeführers leben. In Tschetschenien befinde sich ein Onkel väterlicherseits; die Großeltern seiner Mutter würden in der Russischen Föderation leben. Er würde nur mit dem Onkel in Kontakt stehen. Er habe erst gestern mit ihm telefoniert. Dem Onkel gehe es gut; dieser gehe einer Arbeit nach. Gefragt, was gegen eine Rückkehr in die Russische Föderation spreche, gab der Beschwerdeführer an, dass sein Onkel in Tschetschenien mitgenommen und befragt worden sei, wo sie seien; der Beschwerdeführer habe Angst um sein Leben, er wolle nicht zurück. Sein Onkel sei vor etwa drei Jahren inhaftiert worden. Auf weitere Frage, ob es danach noch Vorfälle gegeben habe, erklärte der Beschwerdeführer, er mische sich nicht in die Politik ein und interessiere sich nicht dafür; er sei als Kind nach XXXX gekommen, seine Familie, seine Frau und seine Kinder würden hier leben; er wolle und könne nicht zurück. Er habe kein zu Hause in Russland. Nach Wiederholung der Frage, führte er aus, es seien „viele Sachen“ gewesen, es habe „immer Probleme mit mehreren Familienangehörigen (Schwester, Cousins)“ gegeben. Seine Schwester sei gestorben. Gefragt, was passieren würde, wenn man ihn abschieben würde, gab er an, dass sein Lebensmittelpunkt seit sechzehn Jahren in Österreich sei; er wisse es nicht; seine Familie habe dort Probleme. Nach sechszehn Jahren würde der Beschwerdeführer befragt werden, die Behörden würden ihn foltern. Nach Vorhalt, dass aufgrund des Akteninhaltes feststehe, dass ihm Asyl lediglich durch Erstreckung gewährt worden sei, eine Gefährdung seiner Person niemals festgestellt worden sei und lediglich seine Bezugsperson in asylrelevanter Weise verfolgt worden sei; es darüber hinaus bekannt sei, dass sich die Lage seit damals erheblich verändert habe, insbesondere herrsche in Tschetschenien kein Krieg mehr, und es ihm jedenfalls möglich wäre, in einem anderen Teil der Russischen Föderation Unterkunft zu nehmen, gab der Beschwerdeführer an, dass er schon seit vielen Jahren in Österreich aufhältig sei. Einige aus seiner Ortschaft hätten kein Asyl erhalten und seien zurückgekehrt, ein Sohn sei verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Gefragt, ob er konkret etwas zu befürchten habe, führte er aus, die Lage sei dort nicht gut, es gebe Entführungen. Von seinem Vater der Bruder sei im Krieg gewesen und dort gestorben, seine Familie werde bis heute verfolgt. Sein Onkel habe gesagt, dass die einzige Chance des Beschwerdeführers sei, in Österreich zu bleiben. Auf Vorhalt, dass eine Abwägung zwischen Verbleib und Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen Verbleib in Österreich ausfalle; er sei in Österreich nicht ausreichend verfestigt, führte der Beschwerdeführer aus, er sei seit mehreren Jahren in Österreich, er habe hier gelebt. Er habe nur einen Fehler gemacht und den sitze er nun im Gefängnis ab. Auf weiteren Vorhalt, dass ein Einreiseverbot erlassen werden könne, führte er aus, dass dies schlecht wäre; er habe seine Kinder und Familie hier, er könne sie nicht zurücklassen. Er hätte noch gerne eine Chance. Er lebe sehr lange hier, seine ganze Kindheit und Jugend habe er hier verbracht.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 17.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchpunkt I. der ihm mit Bescheid vom 29.06.2006 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt; darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen.

In der Entscheidungsbegründung ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass der Beschwerdeführer keinen Verfolgungshandlungen durch russischen Behörden oder Dritten ausgesetzt sei. Veteranen der Tschetschenienkriege bzw. Angehörigen würden keine Verfolgungshandlungen durch die Behörden mehr drohen. Überdies sei festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer selbst niemals eine Gefahr gedroht habe, ihm sei der Schutzstatus lediglich im Wege der Erstreckung zuerkannt worden. Auch sei nicht nachvollziehbar, welches Interesse die tschetschenischen Behörden an ihm hätten; der Beschwerdeführer habe als unmündiger Minderjähriger die Heimat verlassen. Keinesfalls seien unsubstantiierte Behauptungen, welche sich auf namentlich nicht näher bezeichnete Nachbarn und Angehörige stützen würden, geeignet, das aktuelle Länderinformationsblatt zu erschüttern. Auch der Umstand, dass es seinem Onkel nach den Angaben des Beschwerdeführers „gut geht“, widerlege zweifelsfrei eine pauschale Verfolgung seiner Familie.

Zusammengefasst sei ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen gewesen, weil er nicht mehr schutzbedürftig sei und auch nicht aus allfälligen nach seiner Ausreise entstandenen Gründen der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sein werde.

Der Beschwerdeführer sei ein junger Mann, der an keinen lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankungen leide. Er sei in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Es drohe ihm im Falle einer Rückkehr im gesamten russischen Staatsgebiet nicht, in eine aussichtslose Lage zu geraten, oder hinsichtlich seines Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit verletzt zu werden.

Die Eltern, Geschwister und angebliche Lebensgefährtin samt vier gemeinsamen Kinder würden sich in Österreich aufhalten. Er sei zwei Mal vorbestraft und sei zumindest seit 2013 keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Er habe keinen maßgeblichen Freundeskreis. Eine nennenswerte Integration in die österreichische Gesellschaft sei nicht ersichtlich, seine familiären bzw. privaten Interessen hätten hinter jenen der Öffentlichkeit zurückzutreten.

Die Verhängung eines Einreiseverbotes in der ausgesprochenen Dauer sei notwendig, um die von ihm ausgehenden schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern.

4. Mit Schriftsatz vom 10.09.2018 wurde durch die bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Ermittlungsverfahren und die Länderfeststellungen mangelhaft seien. Zudem sei seine Schwester unter mysteriösen Umständen bei einem Verkehrsunfall getötet worden. Der Verfahrensleiter habe diesbezüglich keine weiteren Ermittlungsschritte unternommen. Dieser Vorfall schließe das Vorliegen der Voraussetzung für die Aberkennung des Flüchtlingsstatus hinsichtlich der nachhaltigen Veränderungen im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers aus. Weiters wurde ausgeführt, dass dies seine erste rechtskräftige Verurteilung sei und es sich dabei um kein schweres Verbrechen handle. Der Beschwerdeführer wolle seine bereits angefangene Lehre zum Tischler abschließen, dies sei ihm aber aufgrund seiner derzeitigen Inhaftierung nicht möglich. Weiters würden die Lebensgefährtin, die vier Kinder, die Mutter, der Vater, die fünf Brüder und die Schwester des Beschwerdeführers in Österreich leben. Zudem habe der Beschwerdeführer einen Onkel und weitere Bekannte, Verwandte und Freunde, die in Österreich und in den EU-Mitgliedsstaaten leben würden.

Zu Spruchpunkt I führte er aus, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Eigenschaft als Familienangehöriger von Veteranen der Tschetschenienkriege keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei. Hätte die belangte Behörde diese Länderberichte herangezogen bzw. die eigenen angeführten Berichte ausreichend gewürdigt, so hätte sie zu der Feststellung kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation nicht nur wegen der ihm unterstellten politische Überzeugung, sondern auch wegen seiner Zugehörigkeit zur Familie eines mutmaßlichen Systemgegners Verfolgung drohe und dass er im Falle einer Rückkehr nach Russland in eine ausweglose Situation kommen würde.

Zu Spruchpunkt II führte er aus, dass entgegen der Ansicht der belangten Behörde dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe. Zusammenfassend werde festgehalten, dass aufgrund der beschriebenen Gründe im Falle einer Rückkehr eine ernsthafte Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens des Beschwerdeführers gegeben sei. Diese Gefahr sei nicht nur real, sondern angesichts der bisherigen fluchtauslösenden Ereignisse sowie der Tatsache, dass Rückkehrer nach Tschetschenien von den staatlichen Behörden oftmals als Oppositionelle oder Terrorverdächtigte verfolgt werden würden, auch wahrscheinlich. Dem Beschwerdeführer wäre zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen.

Weiters sei eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig.

5. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 17.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Mit Schreiben vom 01.08.2019 brachte der Beschwerdeführer durch die bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation eine Stellungnahme ein, in dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass - wie bereits darlegt - seine Ehefrau, seine vier Kinder, seine Eltern und seine Geschwister in Österreich leben würden. Im gegenständlichen Fall sei zusätzlich das Kindeswohl in die Abwägung miteinzubeziehen. Der Beschwerdeführer verfüge über eine sehr intensive Beziehung zu seinen Kindern. Die belangte Behörde habe sich nicht ausreichend, mit dem tatsächlichen Familienleben und der Beziehung zu seinen Kindern auseinandergesetzt, indem sie den Beschwerdeführer nicht neuerlich befragt habe bzw. die Ehefrau als Zeugin für das intensive Privat- und Familienleben nicht einvernommen habe. Zum Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde fälschlicherweise ein unverhältnismäßig negatives Bild des Beschwerdeführers gezeichnet habe, indem diese diversen Einträge des Beschwerdeführers in der KPA angeführt habe. Hierbei verkenne die belangte Behörde den Wesensgehalt der Unschuldsvermutung. In der Begründung zum Einreiseverbot sei keine nachvollziehbare Interessensabwägung durchgeführt worden.

7. Nach Gewährung eines Parteiengehörs zum aktualisierten Länderberichtsmaterial zur Lage in seinem Herkunftsstaat (Gesamtaktualisierung am 30.09.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 03.12.2019) gab der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 15.05.2020 eine Stellungnahme ab. Dieser ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Angehörigeneigenschaft zum Vater nach wie vor eine asylrelevante Bedrohung im Rahmen der Sippenhaftung drohe, falls er wieder in die Russische Föderation zurückkehren müsse. Rückkehrer, insbesondere im Nordkaukasus, würden vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Er würde bei einer Wiedereingliederung in die tschetschenische Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenüberstehen, zumal er dort über keinerlei Familienangehörige, Bekannte oder Freunde verfüge, und auch auf sonstige Ressourcen nicht zurückgreifen könne. Seiner Ehegattin (nach islamischen Ritus) komme der Status der Asylberechtigten mit Herkunftsstaat Russische Föderation zu. Ebenso seien seine Kinder asylberechtigt. Der Beschwerdeführer lebe mit XXXX und den vier gemeinsamen Kindern in einem Haushalt. Der Beschwerdeführer führe ein schützenswertes Familien- und Privatleben im Bundesgebiet. Er habe keinerlei Bindungen zu seinem Herkunftsstaat. Seit seiner Haftentlassung führe er ein vorbildliches Leben, er sei in regelmäßigem Kontakt mit seinem Bewährungshelfer, er sei bemüht, eine Vollzeitarbeit zu bekommen und er hätte an einem AMS-Kurs teilnehmen sollen, der aufgrund von COVID-19 abgesagt worden sei, außerdem habe er den Führerschein gemacht. Zudem würde eine Rückkehrentscheidung einen ungerechtfertigten Eingriff in das bestehende Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner traditionell angetrauten Ehegattin und ihren vier Kindern darstellen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet stellte seine damalige gesetzliche Vertreterin am 30.10.2002 einen Antrag auf Asylerstreckung nach den Bestimmungen des AsylG 1997 für ihren damals minderjährigen Sohn, welchem mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 29.06.2006 stattgegeben und dem damals minderjährigen Beschwerdeführer gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 bezogen auf das Verfahren seines Vaters Asyl gewährt wurde.

Der Beschwerdeführer und der Vater des Beschwerdeführers sind aufgrund der Arbeit des Vaters des Beschwerdeführers in der Schutztruppe eines Ministers von 1997 bis zu seiner Ausreise aus Tschetschenien (nunmehr) keiner Verfolgung durch die Behörden in der Russischen Föderation ausgesetzt. Ein derartiges Risiko besteht weder in Tschetschenien, noch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation. Der Beschwerdeführer war nie einer individuellen Verfolgung ausgesetzt und hat im nunmehrigen Verfahren keine substantiierten Befürchtungen für den Fall seiner Rückkehr geäußert.

1.2. Auch darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation (Nordkaukasus/Tschetschenien) in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht die Landessprache und verfügt über Angehörige im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer, der sein Heimatland im Alter von 12 Jahren verlassen hat, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich dazu in der Lage, seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch die Teilnahme am Erwerbsleben eigenständig zu bestreiten. In Tschetschenien lebt der Onkel väterlicherseits. Die Großeltern mütterlicherseits leben in der Russischen Föderation. Mit dem Onkel steht er in Kontakt; dieser Onkel geht einer Arbeit nach. Diese Verwandten (insb. Onkel) könnten den Beschwerdeführer (anfänglich) unterstützen. Als russischem Staatsbürger steht ihm ein Rückgriff auf Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems offen.

1.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der Brandstiftung nach § 169 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 15, 12 3. Fall, 146, 147 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass XXXX , der Beschwerdeführer, im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter und ein Beitragstäter am 13.03.2017 in XXXX an einer fremden Sache, nämlich dem von XXXX gepachteten Geschäftslokal XXXX und dem angrenzenden von XXXX gepachteten Fahrradgeschäft, sohin dem im Eigentum von XXXX stehenden Gebäude, ohne deren Einwilligung dadurch eine Feuerbrunst verursacht haben, dass die Genannten Benzin im hinteren Bereich des Geschäftslokals XXXX aufbrachten und den Brandbeschleuniger anschließend durch ein Loch in der Gebäudefront zündeten, woraufhin es zu einer massiven Explosion kam, wodurch die Auslagenscheiben beider Geschäftslokale aus der Verankerung gerissen wurden, die beiden Geschäftslokale komplett ausbrannten, die umliegenden Gebäude und Fahrzeuge durch die Wucht der Explosion sowie Glassplitter beschädigt wurden, wobei XXXX in Kenntnis des konkreten Tatplanes die beiden anderen mit seinem Fahrzeug zum Tatort brachte und in der Nähe des Tatortes auf sie wartete (Punkt I.).

Der Beschwerdeführer und weitere Personen haben weiters durch die unter Punkt I./ und II./ der Anklageschrift vom 19.12.2017 angeführten Taten zur Ausführung der unter Punkt V. 1.) angeführten strafbaren Handlungen des XXXX beigetragen.

Die Tat des XXXX unter Punkt V. 1.) stellt sich wie folgt dar:

XXXX hat am 13.03.2017 in XXXX versucht, Verfügungsberechtigte der XXXX , nämlich XXXX , durch Täuschung über Tatsachen zu einer Handlung zu verleiten, und zwar durch die sinngemäßen wahrheitswidrigen Angaben, der unter Punkt I. angeführte Brand in seinem Geschäftslokal sei ohne sein Zutun entstanden, sodass ein Versicherungsfall vorliege, zur Auszahlung einer Versicherungsleistung in Höhe von mindestens EUR 5.000 aber nicht mehr als EUR 190.000, die diese am Vermögen schädigen sollte.

Als mildernd wurde das Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist und, dass er selbst bei der Tat schwer verletzt wurde, gewertet; das Zusammentreffen von einem Vergehen mit einem Verbrechen wurde erschwerend gewertet.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX XXXX vom 25.05.2018, Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB unter Bedachtnahme auf das Urteil vom XXXX zu einer Zusatzstrafe in der Dauer von 3 Monaten verurteilt.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 11.08.2016 in XXXX eine fremde bewegliche Sache, nämlich die Fensterscheibe der Wohnung der XXXX , durch einen Erdbrocken beschädigt hat sowie am 14.08.2016 in XXXX XXXX vorsätzlich am Körper verletzt hat, indem er ihn zu Boden riss und auf ihn einschlug, sodass der Genannte mehrere Abschürfungen und Hämatome am gesamten Körper erlitt.

Als mildernd wurden das Geständnis und die Schadensgutmachung; als erschwerend die Vorstrafen und das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet.

Ein Wegfall der von seiner Person ausgehenden Gefährdung kann zum Entscheidungszeitpunkt frühestens nach einem Ablauf von zehn Jahren prognostiziert werden.

1.4. Der Beschwerdeführer hat sich während seines rund siebzehnjährigen Aufenthalts Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet; im Bundesgebiet hat er eine Schule besucht, die er nicht abgeschlossen hat; weiters hat er nach etwa 6 Monaten eine Lehre abgebrochen; über weitere Berufserfahrung verfügt er nicht und war im Übrigen vom Bezug staatlicher Sozialleistungen abhängig. Der Beschwerdeführer wurde am 23.10.2019 aus der Haft entlassen. Aktuell ist der Beschwerdeführer daher nicht selbsterhaltungsfähig. Im Bundesgebiet lebt XXXX , mit der er nach islamischen Ritus verheiratet ist, und die vier gemeinsamen, zwischen 2011 und 2016 geborenen, Kinder. XXXX und die vier Kinder sind in Österreich asylberechtigt. Der Beschwerdeführer lebte vor der Haft in keinem gemeinsamen Haushalt mit XXXX und seinen vier Kindern, unterhielt seinen Angaben zufolge jedoch eine intensive Beziehung zu seinen Kindern. Seit seiner Haftentlassung weist der Beschwerdeführer eine Meldung an der selben Adresse wie XXXX auf, und hat nunmehr erstmals einen gemeinsamen Wohnsitz mit XXXX und seinen Kindern. Weiters leben die Eltern, die fünf Brüder und eine Schwester des Beschwerdeführers in Österreich. Der Beschwerdeführer hat sich in keinen Vereinen betätigt. Der Beschwerdeführer hat zudem weitere Verwandte, Bekannte und Freunde in Österreich und den EU-Mitgliedstaaten, zu denen kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht.

1.5. Zum Herkunftsland des Beschwerdeführers (Russische Föderation respektive Tschetschenien) wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019

BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 13.3.2019). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019

AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 6.8.2019

EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019

FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019

US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 6.8.2019

Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition.

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich zu den föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2018).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, AI 22.2.2018, HRW 17.1.2019). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 13.3.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssten mitsamt ihren Familien Tschetschenien verlassen. Bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2018) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 23.9.2019

DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 7.8.2019

EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 7.8.2019

ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 7.8.2019

US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl es Mechanismen zur Untersuchung von Misshandlungen gibt, werden Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte nur selten untersucht und bestraft. Straffreiheit ist weit verbreitet (US DOS 13.3.2018), ebenso wie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Polizei (FH 4.2.2019).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 13.3.2019).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Chef der Republik, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 13.3.2019). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 7.8.2019

AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 7.8.2019

EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 7.8.2019

FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 7.8.2019

HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

US DOS – United States Department of State (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html, Zugriff 7.8.2019

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten