TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/21 W228 2166022-1

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Veröffentlicht am 21.09.2020
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Entscheidungsdatum

21.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W228 2166022-1/36E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Einzelrichter in der Beschwerdesache des XXXX , geboren am XXXX 1988, Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.07.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, hat sein Heimatland verlassen, ist illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am 08.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.11.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass sein Vater Polizeichef gewesen und vor 20 Jahren getötet worden sei. Sein Bruder sei auch Polizist und habe mehrere Taliban getötet. Die ganze Familie sei wegen der Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers als Polizist von den Taliban bedroht worden.

Der Beschwerdeführer wurde am 10.05.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er aus der Provinz Ghazni, Distrikt Qarabagh, Dorf XXXX stamme. Seine Mutter, seine Schwester, seine Ehefrau sowie sein Onkel, mehrere Tanten, Cousins und Cousinen würden nach wie vor im Heimatdorf leben. Wo sich sein Bruder nunmehr aufhalte, wisse der Beschwerdeführer nicht. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Bruder Polizist gewesen sei. Eines Tages seien die Taliban gekommen und hätten die Mutter des Beschwerdeführers gewarnt, dass der Bruder des Beschwerdeführers nicht weiterhin bei der Polizei arbeiten solle. Der Bruder des Beschwerdeführers habe dennoch weiter als Polizist gearbeitet. Daraufhin seien die Taliban wiedergekommen, als der Beschwerdeführer gerade Taxi gefahren sei. Er habe vom Handy seines Onkels einen Anruf bekommen, dass die Taliban da seien. Sie hätten den Beschwerdeführer mitnehmen wollen. Daraufhin sei der Beschwerdeführer nicht mehr nachhause zurückgekehrt und noch am selben Tag in den Iran geflüchtet.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 14.07.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs.1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Fluchtgrund, zur Situation im Falle seiner Rückkehr und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es habe keine glaubhafte Gefährdungslage festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft machen können. Dem Beschwerdeführer könne eine Rückkehr nach Afghanistan zugemutet werden.

Gegen verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheid wurde mit Schreiben der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 27.07.2017 Beschwerde erhoben. Darin wurde zunächst das vom Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der belangten Behörde erstattete Vorbringen wiederholt und wurde ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehensweise der Taliban unter Berücksichtigung der Verhältnisse in Afghanistan durchaus plausibel erscheine. Die dem Beschwerdeführer drohende Verfolgung durch die Taliban sei asylrelevant. Zudem komme im Falle des Beschwerdeführers das allgemeine Verfolgungsrisiko als Angehöriger der Hazara hinzu und würde der Beschwerdeführer darüber hinaus aufgrund seiner verwestlichten Lebenseinstellung verfolgt werden. In weiterer Folge wurde auf diverse Berichte zur allgemeinen Lage in Afghanistan verwiesen und wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer kein tragfähiges familiäres Netzwerk in Afghanistan außerhalb seiner Herkunftsregion habe und ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative daher nicht offen stünde.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 31.07.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 11.07.2018 wurden ein Deutschzertifikat B1 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 28.05.2019 und 03.07.2019 wurden diverse Integrationsunterlagen an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 16.09.2019 wurden weitere Integrationsunterlagen sowie eine Stellungnahme zur allgemeinen Lage in Afghanistan an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Am 20.09.2019 wurden ein Sozialbericht sowie diverse Empfehlungsschreiben an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 25.09.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung, einer Zeugin, eines Vertreters der belangten Behörde sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Erkenntnis vom 09.10.2019, W228 2166022-1/19E, die Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.

Am 11.10.2019 wurden diverse Empfehlungsschreiben sowie Integrationsunterlagen an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers hat gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.10.2019 Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 11.12.2019, E 4290/2019-5, die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 16.01.2020, E 4290/2019-7, über nachträglichen Antrag im Sinne des § 87 Abs. 3 VfGG die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers hat mit Schriftsatz vom 28.02.2020 gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.10.2019 außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof erhoben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 27.07.2020, Ra 2020/01/0083-7, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.10.2019 wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, geboren XXXX 1988. Er wurde in der Provinz Ghazni, Distrikt Qarabagh, Dorf XXXX geboren, ist dort aufgewachsen und hat bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan dort gelebt. Er hat zwölf Jahre lang die Schule besucht und als Taxifahrer gearbeitet. Nach seiner Ausreise aus Afghanistan hat er sechs Monate lang im Iran gelebt und dort als Steinmetz gearbeitet.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan geheiratet, hat sich jedoch ca. vor zwei Jahren scheiden lassen. Die Mutter, der Onkel mütterlicherseits sowie die Schwester des Beschwerdeführers haben vor ca. zwei Jahren Afghanistan verlassen, weil die Taliban nach dem Angriff auf Ghazni Stadt in das Heimatdorf der Familie des Beschwerdeführers gekommen sind und sich in den Häusern der Bewohner einquartiert und Geld gefordert haben. Sie leben nunmehr im Iran.

Der Bruder des Beschwerdeführers hat in Afghanistan als Polizist gearbeitet. Es kann nicht festgestellt werden, wo sich der Bruder des Beschwerdeführers nunmehr aufhält.

Der Beschwerdeführer ist volljährig. Er ist gesund und arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer ist Hazara, ist schiitischer Moslem und spricht Dari.

Der Beschwerdeführer ist illegal spätestens am 08.10.2015 in das Bundesgebiet eingereist. Es halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich auf. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

Der Bruder des Beschwerdeführers war in Afghanistan als Polizist tätig und war an Gefechten zwischen Taliban und Polizei beteiligt. Im Zuge eines solchen Gefechts, bei welchem die Taliban große Verluste erlitten haben, ist einer der Söhne eines Talibanführers getötet worden. In der Folge wurde die gesamte Familie des Beschwerdeführers von den Taliban bedroht und haben die Taliban versucht, den Beschwerdeführer anstelle seines Bruders mitzunehmen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre der Beschwerdeführer in Gefahr, aufgrund seiner (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Diese Bedrohung bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet.

Zur Situation im Herkunftsland Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität:

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

Ghazni:

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktya und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze. Die Provinz ist in 19 Distrikte unterteilt: die Provinzhauptstadt Ghazni-Stadt sowie den Distrikte Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar genannt), De Hyak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani) und Zanakhan. Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-20 leben 1.338.597 Menschen in Ghazni. Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken.

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung. Einem Bericht vom Dezember 2018 zufolge steht die Ghazni-Paktika-Autobahn unter Taliban-Kontrolle und ist für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt, wobei die Aufständischen weiterhin Druck auf die Kabul-Kandahar-Autobahn ausüben, bzw. Straßenkontrollen durchführen. Im Mai 2019 war die Ghazni-Paktika-Autobahn seit einem Jahr geschlossen. Auch die Ghazni-Paktia-Autobahn war Anfang März 2019 trotz einer 20-tägigen Militäroperation gegen die Taliban immer noch gesperrt. Im Mai 2019 führten die Regierungskräfte an den Rändern von Ghazni-Stadt Räumungsoperationen zur Befreiung der Verkehrswege durch. Die Kontrolle über die Straße nach Gardez, der Provinzhauptstadt von Paktia ist bedeutsam für die Verteidigung von Ghazni, da sich die Militärbasis des für die Provinz zuständigen Corps dort befindet.

Gemäß dem UNODC Opium Survey 2018 gehörte Ghazni 2018 nicht zu den zehn wichtigsten schlafmohnanbauenden Provinzen Afghanistans. Während die Provinz zwischen 2013 und 2016 schlafmohnfrei war, wurden 2017 etwa 1.000 Hektar angebaut. Im Jahr 2018 nahm die Anbaufläche um 64% ab. Der größte Teil von Ghazni's Schlafmohn wurde 2018 im volatilen Distrikt Ajristan angebaut.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben.

Aufgrund der Präsenz von Taliban-Aufständischen in manchen Regionen der Provinz, gilt Ghazni als relativ unruhig, so standen beispielsweise Ende 2018, einem Bericht zufolge, acht Distrikte der Provinz unter Kontrolle der Taliban gestanden haben, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft. Im Jänner 2019 wurde berichtet, dass die administrativen Angelegenheiten der Distrikte Andar, Deh Yak, Zanakhan, Khwaja Omari, Rashidan, Jaghatu, Waghaz und Khugyani aufgrund der Sicherheitslage bzw. Präsenz der Taliban nach Ghazni-Stadt oder in die Nähe der Provinzhauptstadt verlegt wurden. Aufgrund der Sicherheitslage sei es für die Bewohner schwierig, zu den neuen administrativen Zentren zu gelangen. Dem Verteidigungsminister zufolge, sind in der Provinz mehr Taliban und Al-Qaida-Kämpfer aktiv, als in anderen Provinzen. Dem Innenminister zufolge, hat sich die Sicherheitslage in der Provinz verschlechtert und die Taliban erlitten bei jüngsten Zusammenstößen schwere Verluste.

In Ergänzung zur Afghan National Police (ANP), der Afghan Local Police (ALP) und der paramilitärischen Kräfte des National Directorate of Security (NDS) entsteht im Distrikt Jaghuri im Rahmen eines Pilotprojekts eine neu eingerichtete Afghan National Army Territorial Force (ANA TF). Diese lokale Einheit soll die Bevölkerung schützen und Territorium halten, ohne von lokalen Machthabern oder Gruppeninteressen vereinnahmt zu werden. Während des Angriffs auf Ghazni-Stadt im August 2018 wurden die afghanischen Regierungskräfte von US-amerikanischen Streitkräften unterstützt – laut einer Quelle nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch von US-Spezialeinheiten am Boden. Ghazni liegt im Verantwortungsbereich des 203. ANA Tandar Corps das der Task Force Southeast untersteht, die von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden.

Einem UN-Bericht zufolge, war Ghazni neben Helmand und Farah zwischen Februar und Juni 2019 eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Mehr als die Hälfte aller Luftangriffe fanden in diesem Zeitraum in den Provinzen Helmand und Ghazni statt. Anfang April 2019 beschloss die Regierung die „Operation Khalid“, welche unter anderem auf Ghazni fokussiert. Auch die Winteroperationen 2018/2019 der ANDSF konzentrierten sich unter anderem auf diese Provinz. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen; ebenso werden Luftangriffe in der Provinz durchgeführt. Bei manchen militärischen Operationen werden beispielsweise Taliban getötet. Außerdem kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Auch verlautbarte die Regierung im September 2019 nach wie vor Offensiven gegen die Aufständischen in der Provinz zu führen, um das Territorium der Taliban zu verkleinern.

Mitte August 2018 eroberten die Taliban große Teile der Stadt Ghazni, was zu heftigen Kämpfen zwischen den Aufständischen und den Regierungskräften führte. Nach fünf Tagen erlangte die Regierung wieder die Kontrolle über die Provinzhauptstadt. Die dabei durchgeführten Luftangriffe führten zu zivilen Opfern und zerstörten Häuser von Zivilisten. UNAMA verzeichnete 262 zivile Opfer (79 Tote, 183 Verletzte) im Zusammenhang mit dem Talibanangriff im August 2018. Zeitgleich mit dem Angriff auf die Stadt Ghazni eroberten die Taliban den Distrikt Ajristan westlich der Provinzhauptstadt. Im November 2018 starteten die Taliban eine Großoffensive gegen die von Hazara dominierten Distrikte Jaghuri und Malistan, nachdem die Aufständischen bereits Ende Oktober das benachbarte Khas Uruzgan in der Provinz Uruzgan angegriffen hatten. Bis Ende November 2018 wurden die Taliban aus Jaghuri und Malistan vertrieben.

Die Parlamentswahlen, die im Oktober 2018 hätten stattfinden sollen, wurden in Ghazni aufgrund der volatilen Sicherheitslage zunächst auf April 2019 verschoben (AAN 16.8.2018). Ende Dezember 2018 kündigte die Unabhängige Wahlkommission (independent election commission, IEC) an, dass die Parlamentswahlen in Ghazni sowie die Präsidentschaftswahlen in ganz Afghanistan im Juli 2019 mit dreimonatiger Verspätung stattfinden würden. Neben der Sicherheitslage nannte ein Bericht des UN-Generalsekretärs auch Proteste, welche die Provinzzentrale der IEC blockierten, als einen Grund für die Verschiebung der Wahl in Ghazni.

2. Beweiswürdigung:

Hinsichtlich der Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Sprache, Arbeitsfähigkeit stützt sich das Bundesverwaltungsgericht auf die Angaben des Beschwerdeführers.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach seine Familie vor ca. zwei Jahren Afghanistan verlassen habe, weil sich die Taliban nach dem Angriff auf Ghazni Stadt bei ihnen einquartiert hätten, ist glaubhaft.

Der Umstand, dass nicht festgestellt werden kann, wo sich der Bruder des Beschwerdeführers aufhält, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer zum Aufenthaltsort seines Bruders keine Angaben tätigte und ausführte, dass er mit seinem Bruder keinen Kontakt habe.

Die Feststellungen hinsichtlich der Gründe des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom Beschwerdeführer vor dem BFA und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht getätigten Ausführungen.

Der Beschwerdeführer führte im Verfahren vor der belangten Behörde und in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gleichlautend aus, dass sein Bruder als Polizist tätig gewesen und an Gefechten zwischen Taliban und Polizei beteiligt gewesen sei. Er brachte weiters übereinstimmend vor, dass im Zuge eines solchen Gefechts, bei welchem die Taliban große Verluste erlitten haben, einer der Söhne eines Talibanführers getötet worden sei und die Taliban in der Folge die gesamte Familie des Beschwerdeführers bedroht und versucht hätten, den Beschwerdeführer anstelle seines Bruders mitzunehmen.

Der Beschwerdeführer lässt bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan war ausreichend substantiiert, umfassend, in sich schlüssig und sind die Angaben des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan plausibel und nachvollziehbar.

Aufgrund der Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers als Polizist und dem glaubhaften Vorbringen des Beschwerdeführers, dass sein Bruder an einem Gefecht zwischen Taliban und Polizei beteiligt war und dabei einer der Söhne eines Talibankommandanten getötet wurde, ist eine Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban aus Rache naheliegend und plausibel.

Es ist in diesem Zusammenhang auf die UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 zu verweisen, in welchen unter anderem ausgeführt wird, dass „Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“ einem Risikoprofil unterliegen würden. Regierungsfeindliche Kräfte hätten Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere seien Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung geworden.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Furcht vor Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner (unterstellten) politischen Einstellung in Opposition zu den Taliban war in ganzheitlicher Würdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, gerade unter Berücksichtigung der diesbezüglich vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage in Afghanistan, insbesondere in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, insgesamt als glaubhaft zu beurteilen.

Der Beschwerdeführer hat in sämtlichen Landesteilen Afghanistans eine Verfolgung zu gewärtigen, geht doch aus den Länderfeststellungen hervor, dass das interne Netzwerk der Taliban weit verflochten ist und daher im konkreten Fall derart weit greift, dass vor diesem Hintergrund von einer landesweiten Gefährdung des Beschwerdeführers auszugehen ist, da der Bruder einen der Söhne eines Talibankommandanten getötet hat. Wie sich zudem aus den Länderfeststellungen ergibt, verfügt Afghanistan zwar über kein zentrales Bevölkerungsregister, dennoch gibt es - insbesondere über die lokalen Gemeinschaften - Mittel und Wege, um Personen ausfindig zu machen; die Nutzung dieser Möglichkeiten ist fallgegenständlich wegen der Brisanz des Getöteten als wahrscheinlich anzunehmen. Auch UNHCR geht in seinen Richtlinien vom 30.08.2018 davon aus, dass angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte, einschließlich der Taliban, für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine interne Schutzalternative existiert.

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aufgrund des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 13.11.2019), dem EASO-Bericht „Afghanistan Security Situation – Update“ vom Mai 2018, den EASO-Richtlinien (Country Guidance Afghanistan) von Juni 2019 und der UNHCR-RL vom 30.08.2018.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (Z 1) der der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder (Z 2) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Letztere Variante traf unter Berücksichtigung der in ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG vertretenen Ansicht über den prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auf die gegenständliche Konstellation zu (vgl. dazu etwa VwGH 28.07.2016, Zl. Ra 2015/01/0123).

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 1991 setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627). Im Asylverfahren stellt das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es Aufgabe des Asylwerbers, durch ein in sich stimmiges und widerspruchsfreies Vorbringen, allenfalls durch entsprechende Bescheinigungsmittel, einen asylrelevanten Sachverhalt glaubhaft zu machen (VwGH 25.03.1999, 98/20/0559).

So erscheint es im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, Zl. 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, Zl. 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, Zl. 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, Zl. 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat (hier Schläge, Ziehen an den Haaren, Begießen mit kaltem Wasser) spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, Zl. 92/01/0181). Die gilt umso mehr für Widersprüche (vgl. zur Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 auch VwGH 02.01.2017, Zl. Ra 2016/18/0323, Rz 8). Auch unbestrittene Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, Zl. 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, Zl. 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH vom 23.01.1997, Zl. 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des BFs in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, Zl. 2001/20/0457). Auch oberflächlich und allgemein gehaltene Angaben, welche jeden konkreten, (insbesondere zeitlich) nachprüfbaren Anhaltspunkt vermeiden, und die trotz mehrfacher Aufforderungen, Details zu schildern, erfolgen, sind grundsätzlich geeignet, in einer schlüssigen Begründung zur Verneinung der Glaubwürdigkeit dieser Angaben betreffend eine drohende individuelle Verfolgung herangezogen zu werden (vgl. etwa VwGH 26.06.1996, Zl. 95/20/0205).

Die amtswegigen Ermittlungspflichten im Asylverfahren sind im § 18 Abs. 1 AsylG 2005 geregelt, der inhaltlich nahezu wortgleich der Vorgängerbestimmung des § 28 AsylG 1997 entspricht. Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. AsylG 1997 folgend stellt diese Gesetzesstelle eine Konkretisierung der aus § 37 AVG in Verbindung mit § 39 Abs. 2 AVG hervorgehende Verpflichtung der Verwaltungsbehörden dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen, begründet aber keine über den Rahmen der angeführten Vorschriften hinausgehende Ermittlungspflicht (vgl. VwGH 08.04.2003, Zl. 2002/01/0522). Grundsätzlich obliegt es dem Asylwerber, alles Zweckdienliche, insbesondere seine wahre Bedrohungssituation in dem seiner Auffassung nach auf ihn zutreffenden Herkunftsstaat, für die Erlangung der von ihm angestrebten Rechtsstellung vorzubringen (Vgl. VwGH 31.05.2001, Zl. 2001/20/0041; VwGH 23.07.1999, Zl. 98/20/0464). Nur im Fall hinreichend deutlicher Hinweise im Vorbringen eines Asylwerbers auf einen Sachverhalt, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommt, hat die Behörde gemäß § 28 AsylG 1997 in geeigneter Weise auf eine Konkretisierung der Angaben des Asylwerbers zu dringen. Aus dieser Gesetzesstelle kann aber keine Verpflichtung der Behörde abgeleitet werden, Asylgründe, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat, zu ermitteln (Vgl. VwGH 14.12.2000, Zl. 2000/20/0494; VwGH 06.10.1999, Zl. 98/01/0311; VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0222). Die Ermittlungspflicht der Behörde geht auch nicht soweit, den Asylwerber zu erfolgversprechenden Argumenten und Vorbringen anzuleiten (vgl. VwGH vom 21.09.2000, Zl. 98/20/0361; VwGH 04.05.2000, Zl. 99/20/0599).

Die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus einem in der GFK genannten Grund verfolgt zu werden, ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts begründet:

Es ist – den oben getroffenen Feststellungen folgend - davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan der erheblichen Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre. Dies zumal der Bruder des Beschwerdeführers als Polizist bei einem Gefecht gegen die Taliban dabei war, im Zuge dessen der Sohn eines Talibankommandanten getötet wurde.

Mangels Vorliegen anderer Anhaltspunkte ist unter Zugrundlegung des glaubhaft gemachten Sachverhaltes anzunehmen, dass die Gefahr der Verfolgung und erheblicher Eingriffe durch die Taliban dem Beschwerdeführer aktuell weiterhin droht.

Dieser Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Beschwerdeführers knüpft an den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund der politischen Gesinnung an: Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es, dass eine feindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist (zB VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443).

Es ist nach Lage des Falles davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer, weil sein Bruder als Polizist bei einem Gefecht gegen die Taliban dabei war, im Zuge dessen der Sohn eines Talibankommandanten getötet wurde, von den Taliban eine feindliche politische Haltung (zumindest) unterstellt wird, und sind somit die fluchtauslösenden Ereignisse in Afghanistan damit als eine individuell gegen die Person des Beschwerdeführers aus Gründen der politischen Überzeugung gerichtete Verfolgung zu werten.

Im gegenständlichen Fall geht die Unterstellung einer bestimmten politischen Gesinnung zwar nicht vom Staat aus, doch wäre eine solche Unterstellung seitens der Taliban, nämlich auf der Seite ihrer politischen Gegner zu stehen und sich damit gegen ihre Interessen zu stellen, ebenfalls von Bedeutung. Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil auf Grund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256, VwGH 14.05.2002, 2001/01/0140; siehe weiters VwGH 24.05.2005, 2004/01/0576, VwGH 26.02.2002, 99/20/0509).

Eine Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat ist für den Beschwerdeführer schon deswegen auszuschließen, weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Afghanistan kein ausreichend funktionierender Polizei- oder Justizapparat bestehen und auch nach den Länderberichten davon auszugehen ist, dass der Staat keine hinreichenden Vorkehrungen zu treffen vermag um dem Beschwerdeführer in seiner Situation Schutz zu gewähren.

Die Möglichkeit, sich der Bedrohung durch die Taliban durch Ausweichen in eine andere Region Afghanistans zu entziehen, besteht für den Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall ebenfalls nicht, da aufgrund des Umstandes, dass die Taliban laut den zitierten Länderinformationen auch in anderen Provinzen Afghanistans über entsprechende Netzwerke verfügen, nicht angenommen werden kann. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan mehr verfügt und deswegen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass er ohne soziales Netz nicht nur in eine aussichtslose - seine Existenzgrundlage gefährdende - Lage gerät, sondern seinen Verfolgern noch schutzloser gegenüberstünde als eine in den Familienverbund eingegliederte Person.

Zusammenfassend ist auszuführen, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund von (unterstellter) politischer Gesinnung von den Taliban verfolgt und getötet zu werden, außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren.

Da auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt, war dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs.4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung gesamtes Staatsgebiet Schutzunfähigkeit soziale Gruppe unterstellte politische Gesinnung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W228.2166022.1.00

Im RIS seit

04.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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