TE Bvwg Beschluss 2020/9/24 W237 2233321-1

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Veröffentlicht am 24.09.2020
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Entscheidungsdatum

24.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §53 Abs3 Z4
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W237 2233321-1/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Martin WERNER über
die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 22.06.2020, Zl. 752281109/190498329:

A)

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Aufgrund strafgerichtlicher Verurteilungen des Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des ihm zukommenden Status des Asylberechtigten ein.

Mit Bescheid vom 22.06.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den mit Bescheid des Bundesasylamts vom 28.03.2007 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß „§ 7 Abs. 1 Z 1“ AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte es dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG (Spruchpunkt IV.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm § 46 FPG die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation fest (Spruchpunkt V.), legte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.) und erließ schließlich gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 iVm Abs. 3 Z 1 und 4 FPG gegenüber dem Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).

2. Am 17.07.2020 erhob der Beschwerdeführer über seinen zur Vertretung im weiteren Verfahren bevollmächtigten Rechtsberater vollinhaltlich eine Beschwerde. In dieser wird im Wesentlichen bemängelt, dass der Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde zu den für die Aberkennung seines Schutzstatus und insbesondere die Erlassung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbots maßgeblichen Aspekte nicht einvernommen worden sei.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte den Beschwerdeschriftsatz samt Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 23.07.2020 vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, der im Oktober 2003 sein Herkunftsland verließ und sich zunächst nach Deutschland begab, wo er eineinhalb Jahre lebte. Im April 2005 reiste er nach Österreich ein und stellte einen Asylantrag, der wegen der Zuständigkeit Deutschlands zur Führung des Asylverfahrens nach der Dublin II-Verordnung im Juli 2005 rechtkräftig zurückgewiesen wurde. Ende August 2005 wurde der Beschwerdeführer nach Deutschland abgeschoben, wo er einige Wochen wohnte, bevor er nach Polen reiste und von dort im Dezember 2005 erneut ins Bundesgebiet gelangte.

Am 23.12.2005 stellte er einen weiteren Asylantrag, den er damit begründete, dass sein Vater und seine beiden Onkel am zweiten Tschetschenienkrieg als Kämpfer teilgenommen hätten. Seine Tante habe XXXX teilgenommen und sei dabei ums Leben gekommen. Nachdem ihre Identität bekannt geworden sei, hätten die russischen Behörden das Haus der Familie des Beschwerdeführers gesprengt und allen Familienmitgliedern zwei Tage Zeit gegeben, das Land zu verlassen. Der Beschwerdeführer, der bereits in den Jahren zwischen 2000 und 2002 wiederholt von Sicherheitskräften mitgenommen und verhört worden sei, habe sich daraufhin noch mehrere Monate in Inguschetien versteckt, bevor er nach Europa gereist sei.

Das Bundesasylamt gewährte dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 28.03.2007 Asyl und stellte seine Flüchtlingseigenschaft fest. Dabei ging es davon aus, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation Verfolgung drohe, weil – wie sich aus einer Internetrecherche ergeben habe – seine Tante tatsächlich bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater dabei gewesen und seine Familie vertrieben worden sei.

1.2. Der Beschwerdeführer hatte die letzten 13 Jahre seinen Lebensmittelpunkt in Österreich. Er beherrscht die deutsche Sprache auf nicht näher bekanntem Niveau und hat zwei vierjährige Kinder, die ebenso im Bundesgebiet leben.

1.3. Mit Urteil des XXXX vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls gemäß (§ 15 StGB iVm) §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt, wobei ihm ein Teil der Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Ein weiteres Mal wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des XXXX vom XXXX wegen versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls gemäß § 15 iVm §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt. Unter einem verlängerte das XXXX die im Urteil vom XXXX gesetzte Probezeit auf fünf Jahre.

Derzeit verbüßt der Beschwerdeführer seine Strafhaft.

1.4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete das gegenständliche Statusaberkennungsverfahren aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ein. Dabei übermittelte es dem Beschwerdeführer ein mit 28.05.2020 datiertes Schreiben, in dem er zur Beantwortung von insgesamt zwölf Fragen betreffend seine familiären und privaten Beziehungen im Bundesgebiet, seine Deutschkenntnisse, seine beruflichen Tätigkeiten, seinen Gesundheitszustand sowie die gegen seine Rückführung in die Russische Föderation sprechenden Gründe innerhalb von zwei Wochen aufgefordert wurde. Mit stichwortartig gehaltenem Schreiben vom 16.06.2020 beantwortete der Beschwerdeführer die ihm gestellten Fragen dahingehend, dass er zwei Kinder im Alter von vier Jahren in Österreich habe und verheiratetet gewesen sei. Er spreche sehr gut Deutsch („10 von 10“), habe zwei Mal erfolgreich einen Deutschkurs abgeschlossen, gehe keiner Arbeit nach und sei ein Kriegsflüchtling. Durch seine Familie sei er besonders an Österreich gebunden; weiters befinde er sich in einem sehr guten Gesundheitszustand und sei muslimischen Glaubens. Seine Familienangehörigen in der Russischen Föderation seien entweder tot oder Kriegsflüchtlinge, zu denen er keinen Kontakt habe. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat fürchte er, umgebracht zu werden oder ins Gefängnis zu müssen. 2011 sei sein Bruder zu Besuch nach Tschetschenien gereist und ermordet worden.

Eine Einvernahme mit dem Beschwerdeführer fand nicht statt. In der Folge erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den unter Pkt. I.1. dargelegten Bescheid vom 22.06.2020. Diesen begründete es unter auszugsweiser Zitierung des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zur Russischen Föderation vom 27.03.2020 im Wesentlichen damit, dass sich die Umstände im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers, insbesondere in Tschetschenien, wesentlich und nachhaltig geändert hätten und die Gründe, die für die Asylerlangung maßgeblich gewesen seien, nicht mehr bestünden. Es sei nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Russische Föderation einem real risk einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung begründete die belangte Behörde damit, dass der Beschwerdeführer nicht mehr verheiratet sei, zwei Kinder habe und „keine dezidierten Gründe oder Beweise für ein bestehendes Familienleben vorge- bzw. erbracht“ habe. Hinsichtlich seiner beiden Kinder werde davon ausgegangen, dass keine nähere Beziehung zu diesen bestehe und „ohnehin nicht von einem intakten Familienleben die Rede sein“ könne. Ein besonderer Integrationswille sei nicht erkennbar, von nach wie vor bestehenden Bindungen zur Russischen Föderation werde hingegen ausgegangen. Das Einreiseverbot sei in der Dauer von 10 Jahren zu erlassen, weil der Beschwerdeführer durch seine beiden einschlägigen strafgerichtlichen Verurteilungen zwei Tatbestände des § 53 Abs. 3 FPG erfüllt habe und die Dauer angemessen sei.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Einreise nach Österreich und seinen bisherigen Verfahren ergeben sich unzweifelhaft aus dem Inhalt des vorliegenden Verwaltungsakts. Das Vorbringen des Beschwerdeführers in seinem Asylverfahren ist aus der im Akt aufliegenden Niederschrift der mit ihm am 25.01.2007 durchgeführten Einvernahme ersichtlich. Ebenso befindet sich der Bescheid des Bundesasylamts vom 28.03.2007 im Verwaltungsakt, der allerdings keine nähere Begründung für die Asylgewährung enthält. Die Feststellung, dass das Bundesasylamt von einer Verfolgungssituation in der Russischen Föderation ausging, weil XXXX und in der Folge seine Familie vertrieben worden sei, beruht auf dem Aktenvermerk der Behörde vom 28.03.2007, der ebenfalls im Verwaltungsakt aufliegt.

2.2. Dass der Beschwerdeführer bis zum Entscheidungszeitpunkt in Österreich lebte, die deutsche Sprache beherrscht und zwei vierjährige, im Bundesgebiet lebende Kinder hat, ergibt sich aus seinen schriftlichen Angaben im Rahmen seiner Beantwortung des Schreibens der belangten Behörde vom 28.05.2020 und ist unstrittig.

2.3. Seine strafgerichtlichen Verurteilungen sind aus einem Strafregisterauszug sowie den im Verfahrensakt aufliegenden Urteilen ersichtlich. Dass der Beschwerdeführer sich zum Entscheidungszeitpunkt in Strafhaft befindet, konnte auf Basis seiner jüngsten strafgerichtlichen Verurteilung vom XXXX in Zusammenschau mit einem aktuellen Auszug aus dem Zentralen Melderegister festgestellt werden.

2.4. Die Feststellungen zur Ermittlungstätigkeit der belangten Behörde im gegenständlichen Verfahren ergeben sich unstrittig aus dem Verwaltungsakt. Die festgestellte wesentliche Begründung der belangten Behörde ergibt sich aus dem angefochtenen Bescheid.

3. Rechtliche Beurteilung:

Der angefochtene Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 25.06.2020 zugestellt. Der Vertreter des Beschwerdeführers übermittelte die Beschwerde zwar erst nach Ablauf der zweiwöchigen Beschwerdefrist des § 16 Abs. 1 erster Satz BFA-VG iVm § 7 Abs. 2 AsylG 2005 am 17.07.2020 per E-Mail an die belangte Behörde, jedoch noch innerhalb der in der Rechtsmittelbelehrung (fälschlicherweise) angegebenen Rechtsmittelfrist von vier Wochen; die Beschwerde ist damit gemäß § 61 Abs. 3 AVG rechtzeitig.

Zu A)

3.1. Nach der mittlerweile ständigen, vom Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, ausgehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG stellt die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits wiederholt hervorgehoben, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. zum Ganzen VwGH 26.06.2019, Ra 2018/11/0092, mwN).

3.2. Im Sinne dieser Judikatur hat die belangte Behörde im vorliegenden Fall bloß ansatzweise ermittelt bzw. wesentliche Ermittlungsschritte unterlassen:

3.2.1. Wie in der gegenständlichen Beschwerde nämlich zu Recht moniert wird, unterließ die belangte Behörde den im Lichte der Umstände des gegenständlichen Falles unabdingbaren Ermittlungsschritt, den Beschwerdeführer persönlich einzuvernehmen und ihn selbst über die den einzelnen Absprüchen zugrunde liegenden Sachverhalte zu befragen bzw. ihn damit zu konfrontieren. Dass der Beschwerdeführer nicht einvernahmefähig wäre oder zu entscheidungsmaßgeblichen Umständen aus sonstigen Gründen keine Aussagen treffen könnte, kam im Verfahren nicht hervor.

3.2.2. Da die belangte Behörde die Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 Abs. 1 AsylG 2005 sowie die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung verband, wäre für die dabei gebotene Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK iVm den in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden Aspekten gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG die persönliche Befragung des Beschwerdeführers zu seinen persönlichen und familiären Verhältnissen sowohl in Österreich als auch der Russischen Föderation der entscheidende Ermittlungsschritt gewesen. Der Beschwerdeführer wurde nämlich zuletzt nur im Rahmen seines Asylverfahrens, also vor mehr als 13 Jahren, persönlich einvernommen.

Bereits vor dem Hintergrund der sehr langen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in Österreich hätte sich die belangte Behörde einen persönlichen Eindruck von seinen privaten und familiären Verhältnissen sowie seiner Integration machen müssen. Vor allem lassen aber die bloß stichwortartig gehaltenen Angaben in der schriftlichen Beantwortung der Aufforderung zur Stellungnahme vom 28.05.2020 eine Einvernahme mit dem Beschwerdeführer unverzichtbar erscheinen: Diesen zufolge habe er nämlich zwei vierjährige Kinder im Bundesgebiet und sei durch seine Familie in besonderer Weise an Österreich gebunden. Durch das Unterbleiben einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers konnten die in der Begründung des angefochtenen Bescheids aufgestellten Behauptungen, dass „keine dezidierten Gründe oder Beweise für ein bestehendes Familienleben vorge- bzw. erbracht“ worden seien, keine nähere Beziehung zu den beiden Kindern bestehe und „ohnehin nicht von einem intakten Familienleben die Rede sein“ könne, nur – durch keinen einzigen geeigneten Ermittlungsschritt gedeckte – Spekulationen bleiben. Dies trifft im Übrigen auch auf die Ausführungen der Behörde zu, dass beim Beschwerdeführer kein besonderer Integrationswille erkennbar und nach wie vor von bestehenden Bindungen zur Russischen Föderation auszugehen sei.

Eine persönliche Befragung des Beschwerdeführers wäre auch in Ansehung des – im Falle der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zwingend zu berücksichtigenden – Kindeswohls der beiden vierjährigen Kinder erforderlich gewesen, weil für eine derartige umfassende Berücksichtigung der Nahebeziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern die bloß schriftliche Angabe des Beschwerdeführers über die Existenz seiner beiden Kinder in Österreich jedenfalls keine ausreichende Basis darstellt.

3.2.3. Auch soweit das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Verhängung eines Einreiseverbots für geboten erachtete, hätte es (zumindest) für die Bemessung der Dauer desselben Umstände zu berücksichtigen gehabt, die sich nur aus einer Befragung des Beschwerdeführers selbst ergeben hätten können. So ist bei der Entscheidung über die Dauer eines Einreiseverbots stets auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002; vgl. auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/ Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 53 FPG, K12). Außerdem ist – abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des Fremden – darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist (VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen, wobei im Allgemeinen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks besondere Bedeutung zukommt (VwGH 16.10.2014, Ra 2014/21/0039). Gerade bei Erlassung eines Einreiseverbotes, bei welchem dem persönlichen Eindruck maßgebliche Bedeutung zukommt und eine umfassende Abwägung vorzunehmen ist, hätte sich die belangte Behörde einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer und seinen privaten bzw. familiären Verhältnissen machen müssen.

3.2.4. Schließlich erweist sich die persönliche Einvernahme des Beschwerdeführers auch in Hinblick auf die Aberkennung des Status des Asylberechtigten als maßgeblich: Die Begründung des angefochtenen Bescheids erhellt, dass sich die belangte Behörde auf den Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 stützte, weil sie davon ausgeht, dass sich in der Russischen Föderation, speziell in Tschetschenien, die ursprünglich asylbegründenden Verhältnisse dauerhaft geändert hätten. Auf welche Ermittlungen die Behörde diese Annahme stützt, bleibt aber schlechterdings nicht nachvollziehbar. Die bloße Heranziehung aktueller Länderberichte als Entscheidungsgrundlage, ohne sich mit den Länderfeststellungen zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auseinanderzusetzen, ist für sich genommen im Lichte des vorliegenden Falles jedenfalls nicht geeignet, eine Änderung der Lage in der Russischen Föderation zu begründen. Die belangte Behörde hat es gänzlich unterlassen, sich mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers im seinerzeitigen Asylverfahren sowie den Gründen, die ursprünglich zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten geführt haben, auseinanderzusetzen.

Insbesondere hätte das Bundesamt den Beschwerdeführer zum Wegfall der ursprünglich rechtskräftig festgestellten Verfolgungsgefahr sowie seinen nunmehrigen Rückkehrbefürchtungen persönlich zu befragen gehabt und diese prüfen müssen. Dies erweist sich gerade im vorliegenden Fall als unabdingbar, in welchem dem Beschwerdeführer nicht bloß wegen der Teilnahme an nicht näher spezifizierten Kampfhandlungen in den Tschetschenienkriegen oder der Unterstützung von Widerstandskämpfern Asyl gewährt wurde, sondern das damalige Bundesasylamt von einer Verfolgungsgefahr in der Russischen Föderation ausging, weil XXXX und seine Familie vertrieben wurde. Für die Beurteilung, ob diese Gefahr nach wie vor aufrecht ist, war die bloß schriftliche Aufforderung zur Stellungnahme vom 28.05.2020, in der keine einzige auf den konkreten Fall des Beschwerdeführers bezogene Frage formuliert wurde, jedenfalls nicht ausreichend.

3.3. Indem die belangte Behörde den (letztlich für alle Spruchpunkte ihres Bescheides) grundlegenden Ermittlungsschritt der persönlichen Einvernahme im Verwaltungsverfahren nicht gesetzt hat, leidet die angefochtene Entscheidung in ihrer Gesamtheit unter einem gravierenden Ermittlungsmangel, der auch durch das – bloß oberflächliche und auf die aufgezeigten maßgeblichen Themen teilweise gar nicht eingehende – schriftliche Parteiengehör nicht saniert wird. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat den maßgeblichen Sachverhalt damit im Sinne der unter Pkt. II.3.1. aufgezeigten Rechtsprechungslinie gerade einmal ansatzweise ermittelt.

Die Feststellung des maßgebenden Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht ist auch nicht im überwiegenden Interesse der Raschheit gelegen, zumal nicht ersichtlich ist, inwieweit das gerichtliche Verfahren einer persönlichen Befragung des Beschwerdeführers schneller als das verwaltungsbehördliche abliefe; ebenso ist keine besondere Dringlichkeit der Rechtssache ersichtlich, zumal die konkrete Dauer des nunmehr nachzuholenden behördlichen Verfahrens angesichts der langen Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers und des gewillkürten Zeitpunkts der Aufnahme des amtswegigen Aberkennungsverfahrens nicht von primärer Bedeutung scheint. Dies ist gerade in der gegenständlichen Rechtssache der Fall, weil der Beschwerdeführer derzeit ohnedies noch seine zwölfmonatige Haftstrafe verbüßt. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass die Führung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. VwGH 21.11.2019, Ra 2018/10/0090).

3.4. Der angefochtene Bescheid ist sohin gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Rechtssache zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

Dieses wird in der Folge den Beschwerdeführer zumindest einmal persönlich einzuvernehmen und im Rahmen dessen die maßgeblichen Umstände für eine Statusaberkennung sowie allenfalls für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung bzw. eines Einreiseverbots durch eine konkrete Befragung zu ermitteln haben.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Erlassung eines neuen Bescheids ergeht in Entsprechung der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG.

Schlagworte

Aberkennung des Status des Asylberechtigten Behebung der Entscheidung Einvernahme Ermittlungspflicht individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W237.2233321.1.00

Im RIS seit

04.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

04.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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