TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/2 W261 2193998-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.10.2020
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Entscheidungsdatum

02.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W261 2193998-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz vom 22.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 28.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 29.12.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, in seinem Dorf herrsche Krieg und die Taliban hätten viel Macht und würden alle Schiiten töten. Sein Vater habe ihm geraten, sein Leben zu retten, und ihn auf die Flucht nach Europa geschickt. Im Fall der Rückkehr befürchte er, dass er getötet werde.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 25.01.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Hazara und schiitischer Muslim. Er stamme aus dem Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Er habe keine Schule besucht und in einer Metzgerei und als Automechaniker gearbeitet. Seine Eltern, zwei Brüder und eine Schwester würden noch im Heimatdistrikt wohnen. Er habe teilweise Kontakt zu ihnen, aktuell jedoch nicht. Mütterlicherseits habe er viele Verwandte, zehn oder elf Personen, davon vier Tanten, väterlicherseits habe er einen Onkel und zwei Tanten. Eine Tante lebe in Österreich. Nach der Ausreise aus Afghanistan habe er ein Jahr im Iran gelebt. In Österreich sei er zum Christentum konvertiert und getauft worden. Er besuche jeden Sonntag den Gottesdienst, kenne aber aufgrund der Sprachbarriere noch nicht so viele Details. Im Rahmen der Einvernahme legte er Integrationsunterlagen, medizinische Unterlagen und Unterlagen zu seiner Konversion vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er habe, als er in der Metzgerei gearbeitet habe, in einem Lager ein Buch gefunden. Er habe es nicht lesen können und mit in das Geschäft gebracht. Nach ein paar Tagen seien Leute gekommen und hätten das Buch gelesen. Am nächsten Tag seien sie wiedergekommen und hätten ihn geschlagen und gesagt, dass er ein Ungläubiger sei. Er sei dann nachhause gegangen, habe aber gegen Mitternacht einen Anruf bekommen, dass die Mullahs gekommen wären und alle über ihn reden würden. Sie hätten vor, zu ihm zu kommen. Dann sei er nach Kabul gefahren. Er habe Angst bekommen, denn wenn sie ihn erwischen würden, würde er gesteinigt oder umgebracht. Nach zwei Tagen in Kabul seien unbekannte Personen gekommen, die nach ihm gesucht und gesagt hätten, dass bei ihm ein Buch gefunden worden sei und er ein Ungläubiger wäre. Nach ihm würde gesucht werden, um ihn festzunehmen. Daraufhin sei er nach Kandahar und von dort in den Iran geflohen. Wenn er zurückkehre, würde ihn sein Vater den Mullahs übergeben. Er würde nach der Scharia bestraft und umgebracht werden. Von seinem Bruder habe er erfahren, dass die Mullahs auch im Geschäft und bei ihm zuhause gewesen seien. Später sei auch sein Großvater seinetwegen umgebracht worden.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 22.03.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für seine freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan nach der Scharia bestraft und umgebracht werden würde, er einer Verfolgung durch staatliche Organe oder Privatpersonen unterliege oder aus sonstigen Umständen eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen bestehe. Der christliche Glaube sei nicht Bestandteil seiner Identität geworden, er habe diesen nicht verinnerlicht. Er verfüge über Angehörige in Ghazni und könne daher Unterstützung bekommen, sowie über Berufserfahrungen als Metzger und Automechaniker. Er sei wirtschaftlich genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt grundsätzlich sorgen. Er würde in Afghanistan nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten oder Gefahr laufen, grundlegende Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können. Es liege in seinem Fall zwar eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine Heimatprovinz vor, Kabul sei jedoch ausreichend sicher und sicher erreichbar.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 24.04.2018 fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, die von der Behörde herangezogenen Länderfeststellungen seien unvollständig und würden sich nur unzureichend mit der aktuellen Sicherheitslage, im Besonderen in Kabul, und der Situation von Rückkehrern befassen, weshalb ergänzend auf diverse Länderberichte zu diesen Themen verwiesen werde. Diese Informationen würden deutlich machen, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage nicht zulässig sei. Weiters wurden zahlreiche Länderberichte zur Situation von Konvertiten und Apostaten in Afghanistan wiedergegeben. Zu den Widersprüchen der Erstbefragung sei anzugeben, dass der Beschwerdeführer während der Erstbefragung mehrmals gesagt habe, dass es ihm nicht gut gehe. Er habe dieser daher nicht aufmerksam folgen und die Fragen entsprechend beantworten können. Er habe ein widerspruchsfreies und nachvollziehbares Vorbringen erstattet, bei korrekter Beweiswürdigung hätte die belangte Behörde zum Schluss kommen müssen, dass er in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer unterliege einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der verwestlichten Personen, es bestehe keine innerstaatliche Fluchtalternative. Ihm wäre daher bei richtiger rechtlicher Beurteilung Asyl, zumindest aber, schon alleine aufgrund der prekären Sicherheitslage, aber auch, weil er als Konvertit von seiner Familie keine Unterstützung zu erwarten habe, subsidiärer Schutz zu gewähren. Mit der Beschwerde legte er Integrationsunterlagen vor.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 27.04.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 30.04.2018 in der Gerichtsabteilung W209 einlangte.

6. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W209 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 02.06.2020 einlangte.

7. Mit Eingabe vom 01.09.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung diverse Integrationsunterlagen vor.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.09.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seiner Glaubensüberzeugung, den Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Als Zeuge zum Glaubensleben des Beschwerdeführers wurde Pastor XXXX einvernommen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung teil. Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen, Screenshots und Fotos, der Behördenvertreter eine Anfragebeantwortung zur Lage von Konvertiten vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

10. Mit Eingabe vom 01.10.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, er sei in Österreich vom islamischen Glauben abgefallen und aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert. Er lebe seinen Glauben offen aus. Am 21.09.2020 habe er seinen Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft gemeldet. Bei einer Rückkehr würde er als Konvertit und Apostat sowohl vom afghanischen Staat als auch von Privaten asylrelevant verfolgt. Der Beschwerdeführer erfülle als mittlerweile verwestlichter, vom Islam abgefallener und zum evangelischen Christentum konvertierter Hazara mehrere Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien. Darüber hinaus sei ihm eine Rückkehr nach Afghanistan auch nicht zumutbar. Seine Herkunftsprovinz Ghazni sei volatil und nicht sicher, eine Neuansiedlung in den afghanischen Großstädten sei ihm in Ermangelung eines familiären oder sozialen Netzes, aufgrund seiner Vulnerabilität als verwestlichter christlicher Hazara sowie der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie nicht zumutbar. Mit der Stellungnahme legte er die Niederschrift der Meldung des Austritts aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vor.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wuchs als schiitischer Muslim auf. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi auf dem Niveau B1 und Deutsch auf dem Niveau A2. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni. Sein Vater heißt XXXX , er ist ca. 40 Jahre alt, seine Mutter XXXX , sie ist ca. 34 Jahre alt. Er hat zwei Brüder, XXXX , ca. 19 Jahre alt, und XXXX , ca. elf Jahre alt, sowie eine Schwester, XXXX , ca. 13 Jahre alt.

Der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan bei seiner Familie im Heimatdistrikt. Er hat keine Schule besucht und in einer Metzgerei sowie als Automechaniker gearbeitet.

Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor im Distrikt XXXX . Sie besitzen ein Haus, Grundstücke und ein Auto. Er hat teilweise Kontakt zu seiner Familie. Der Beschwerdeführer hat auch viele Verwandte mütterlicherseits, ca. zehn oder elf Personen, davon vier Tanten, sowie zwei Onkel und eine Tante väterlicherseits. Eine Tante lebt in Australien und eine in Österreich, von den anderen Verwandten weiß er nicht, wo sie sich befinden.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan 2014, lebte rund ein Jahr im Iran und stellte am 28.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer wuchs als schiitischer Muslim auf und konvertierte in Österreich aus innerer Überzeugung zum Christentum. Er wurde am 07.05.2017 durch die evangelische Freikirche XXXX getauft.

Erstmals in Kontakt mit dem christlichen Glauben kam der Beschwerdeführer Anfang 2016, als er zunächst an Sprachcafès und dann auch an einem Bibelkurs im XXXX in XXXX teilnahm. Im November 2016 besuchte er zum ersten Mal die Freikirche XXXX , wo er Pastor XXXX kennenlernte. In dieser Kirche absolvierte er rund sechs Monate lang eine Taufvorbereitung, bestehend aus einem weiteren wöchentlichen Bibelkurs und persönlichen Treffen mit Pastor XXXX . Der Beschwerdeführer engagierte sich von da an auch ehrenamtlich im „Welcome Team“ der Kirche und organisierte mehrere interkulturelle Feste. Nach Absolvierung des Vorbereitungskurses wurde er zur Taufe zugelassen und am 07.05.2017 getauft. Er besucht bis heute regelmäßig den Gottesdienst in seiner Freikirche und nimmt an kirchlichen Aktivitäten teil. Am 21.09.2020 meldete er behördlich den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft.

Der Beschwerdeführer lebt seinen christlichen Glauben in Österreich offen aus. Sowohl andere Afghanen in Österreich als auch die in Afghanistan lebende, sehr religiöse und konservative Familie des Beschwerdeführers wissen über seine Konversion Bescheid. Er leitet in Vertretung des Pastors die „afghanische Gruppe“ seiner Kirche und hat mehrere muslimische Freunde in die Kirche eingeladen, die mittlerweile ebenfalls getauft wurden. Sein Vater hat ihn aufgrund seiner Konversion verstoßen und mit dem Tod bedroht. Der Beschwerdeführer hat den christlichen Glauben verinnerlicht, ist aus innerer Überzeugung konvertiert und würde seinen christlichen Glauben auch im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan weiter ausüben und seine Konversion nicht widerrufen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret aufgrund seiner Konversion und der voraussichtlichen Ausübung seines christlichen Glaubens Lebensgefahr sowie ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen der Beschwerdeführer von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 28.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer nahm in Österreich an mehreren Deutschkursen, zuletzt auf dem Niveau A2, teil. Er ist am 22.06.2019 und 09.11.2019 zur Integrationsprüfung A2 angetreten, hat diese jedoch nicht bestanden. Er hat einen Basisbildungskurs für Rechnen und Mathematik an der Volkshochschule XXXX absolviert und besucht aktuell dort die Basisbildungskurse Rechnen und Mathematik sowie Brückenmodul Englisch. Er nimmt regelmäßig an Sprachcafés im XXXX in XXXX teil. Bei der interkulturellen Weihnachtsfeier der Freikirche XXXX arbeitete er als Kellner.

Der Beschwerdeführer arbeitete von Juli bis Oktober 2017 für 20-25 Wochenstunden ehrenamtlich für das Projekt XXXX im Bereich der Warenabholung. Er ist Mitglied im Verein XXXX und arbeitet dort in den XXXX mit. Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

In Österreich leben eine Tante des Beschwerdeführers und deren fünf Kinder. Er hat keine enge Beziehung zu diesen Angehörigen. Davon abgesehen hat er in Österreich keine Familienangehörigen oder engen sozialen Bindungen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.4.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.4.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20 %), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10 % der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

1.4.5.  Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Ausländische Christen und die wenigen Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (LIB, Kapitel 15.2).

Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum der Abtrünnigen konfiszieren und deren Erbrecht einschränken. Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden. Missionierungen sind illegal. Die öffentliche Meinung stehe Christen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (LIB, Kapitel 15.2).

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

1.4.6.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.4.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.4.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.4.9. Relevante Provinzen und Städte

1.4.9.1. Herkunftsprovinz Ghazni

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken. Ghazni hat 1.338.597 Einwohner (LIB, Kapitel 2.10).

Ghazni gehört zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen, Luftangriffen und Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Im Jahr 2019 gab es 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden (LIB, Kapitel 2.10).

In der Provinz Ghazni reicht eine „bloße Präsenz“ in dem Gebiet nicht aus, um ein reales Risiko für ernsthafte Schäden gemäß Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie festzustellen. Es wird dort jedoch ein hohes Maß an willkürlicher Gewalt erreicht, und dementsprechend ist ein geringeres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um die Annahme zu begründen, dass ein Zivilist, der dieses Gebiet zurückgekehrt ist, einem realen Risiko eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie ausgesetzt ist (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.4.9.2. Provinz bzw. Stadt Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16 % gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32 % der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.9.3. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22 % gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10–15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.4.9.4. Provinz bzw. Stadt Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70 %) und zu Abwasseranlagen (30 %). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.     Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und ursprünglichen Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner (fehlenden) Schulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie den vorgelegten Nachweisen. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die getroffenen Feststellungen zur Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum ergeben sich vorrangig aus den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers sowie des einvernommenen Zeugen Pastor XXXX in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 17.09.2020. Der Beschwerdeführer legte nachvollziehbar dar, wie er erstmals in Kontakt mit dem Christentum kam und sich nach und nach der neuen Religion zuwandte, in welcher Form er sich in der Gemeinde engagiert, und wie seine Familie und sein Umfeld auf die Konversion reagierten (vgl. Niederschrift vom 17.09.2020, S. 11-13). Der Zeuge bestätigte diese Angaben in allen wesentlichen Punkten (vgl. S. 6-8). Der Austritt des Beschwerdeführers aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ergibt sich aus vorliegenden Niederschrift des BürgerInnen-Service der Stadt XXXX vom21.09.2020.

Der Beschwerdeführer kennt zentrale Inhalte der christlichen Religion und kann beispielsweise den Aufbau der Bibel beschreiben, eine Bibelpassage und christliche Feiertage nennen und erklären und die meisten der zehn Gebote wiedergeben (vgl. Niederschrift vom 17.09.2020, S. 14-15). Insbesondere beschränkt sich das Wissen des Beschwerdeführers über das Christentum aber nicht auf derartiges bloßes Faktenwissen, sondern er ist auch in der Lage, dessen Glaubensinhalte in nachvollziehbarer Weise in Bezug zu seinem eigenen Leben zu setzen. So gab er glaubhaft an, dass er sich aufgrund seines neuen Glaubens stärker verpflichtet fühle, anderen zu helfen, etwa die Kleidung eines im Krankenhaus liegenden Freundes zu waschen, was sich auch mit den Angaben zu seinem ehrenamtlichen Engagement in der Kirchengemeinde deckt. Auch seine persönliche Entfremdung vom Islam, beginnend mit der schlechten Behandlung als Kind im Koranunterricht und mündend in der Verstoßung und der Todesdrohung durch seinen Vater aufgrund islamischer Vorschriften (vgl. S. 12, 16), schilderte der Beschwerdeführer eindrücklich, mit großer Betroffenheit und nachvollziehbar.

Der Beschwerdeführer konnte glaubhaft und stringent darlegen, dass er aus innerer Überzeugung zum chri

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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