Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L***** F*****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Amhof & Dr. Damian GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Dr. Matthias Bacher, Rechtsanwalt in Wien, wegen 163.350 EUR sA und Rente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Mai 2020, GZ 15 R 54/20a-45, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 13. Jänner 2020, GZ 35 Cg 70/16g-39, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.565,04 EUR (darin enthalten 427,51 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger ist Mitversicherter in einem Unfallversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 2013) zugrunde liegen. Diese lauten auszugweise:
„Art 7 Dauernde Invalidität
Soweit nichts anderes vereinbart ist, gilt:
1. Voraussetzung für die Leistung:
Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. [...]
2. Höhe der Leistung:
2.1 Bei vollem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Organe gelten ausschließlich, soweit nichts anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade:
[…]
Der Sehkraft beider Augen 100 %.
Der Sehkraft eines Auges 40 %.
Sofern die Sehkraft des anderen Auges vor Eintritt des Versicherungsfalls bereits verloren war 60 %.
[…]
2.2 Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.
[…]
5. Beträgt der gemäß Punkt 1. bis Punkt 4. festgestellte Invaliditätsgrad 50 % oder mehr, dann erbringt die Versicherung die dreifache Leistung.
[…]“
„Art 8 Unfallrente
Führt der Unfall zu einer Dauerinvalidität von mindestens 35 % nach Art 7 und Art 16 der AUVB, wird unabhängig vom Lebensalter des Versicherers eine Unfallrente gezahlt:
[...]“
Am 15. 11. 2014 trat der Kläger nach einem Ausflug in einem Bus die Heimreise an. Da es im Bus dunkel war, schaltete er einen Laserpointer ein und richtete ihn auf das Seitenfenster des Busses, um hinaus zu leuchten. Der Kläger wurde durch den Strahl des Laserpointers an beiden Augen aufgrund der Lichtschädigung der Netzhautmitte schwer verletzt. Die unfallkausale Gebrauchsminderung beträgt beim rechten Auge 15 % und beim linken Auge 10 %.
Der Kläger begehrte zuletzt: 1. die Zahlung von 163.350 EUR sA sowie 2. eine monatliche Rente von 250 EUR. Die dauernde Einschränkung der Funktionsfähigkeit liege beim rechten Auge bei 60 % und beim linken Auge bei 50 %. Ziehe man für das geringer geschädigte linke Auge als Basis den vereinbarten Normalsatz für den Sehkraftverlust eines Auges von 40 % heran, ergebe sich in Verbindung mit der verbliebenen Sehkraft des linken Auges im Zusammenhang mit dem damit einhergehenden Sehkraftverlust von 50 % ein Invaliditätsgrad von 20 % (= 40 % von 50 % Sehkraftverlust). Für die Berechnung des Invaliditätsgrads des schwerer geschädigten rechten Auges sei der vereinbarte erhöhte Satz für den Sehkraftverlust eines Auges im Fall der Vorschädigung des anderen von 60 % heranzuziehen. Dies ergebe in Verbindung mit der verbliebenen Sehkraft des rechten Auges von 40 % bzw dem damit einhergehenden Sehkraftverlust von 60 % einen Invaliditätsgrad von 36 % (= 60 % von 60 % Sehkraftverlust). Der Nahvisus sei gegenüber dem Fernvisus mit 80 % zu gewichten. Aus der Addition der daraus resultierenden Prozentwerte folge der Invaliditätsgrad für beide Augen von 56 %. Daraus resultiere eine Leistungsverpflichtung der Beklagten von 336 % der Versicherungssumme, wovon die bereits geleisteten Zahlungen abzuziehen seien.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Durch den Unfall sei nach der Korrektur der akausalen Fehlsichtigkeit eine unfallkausale dauernde Invalidität von 13,5 % für beide Augen vorgelegen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei einem bloßen Teilverlust der Sehkraft beider Augen sei eine Berechnungsbasis zu wählen, die am ehesten jener Zielsetzung entspreche, die den in Art 7 AUVB vereinbarten Invaliditätsgraden zugrunde liege. Dieser Anforderung entspreche die vom BGH in vergleichbaren Fällen entwickelte Berechnung, bei der für ein Auge der Normalsatz und für das zweite betroffene Auge der erhöhte Satz, für den Fall einer bestehenden Vorschädigung (hier 60 %) anteilig, herangezogen werde. Führe der Unfall zu einer (bloßen) Teilschädigung beider Augen, seien diese grundsätzlich getrennt zu bewerten, wobei die Mitschädigung des jeweils anderen Auges nur bei einem Auge zu berücksichtigen sei. Für die Berechnung des Invaliditätsgrads würden der anteilige Normalsatz (40 %) nur für das geringer geschädigte Auge und der anteilig (unter Berücksichtigung der Vorschädigung dieses Auges) erhöhte Satz für das andere Auge (60 %) zugrunde gelegt und die daraus resultierenden Prozentwerte addiert. Daraus folge eine Invalidität von 6,3 % rechts und 4 % links, somit insgesamt 10,3 %. Von diesem Invaliditätsgrad ausgehend gebühre dem Kläger weder ein Vielfaches der Versicherungssumme, noch eine Rente.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die auch hier vereinbarte Gliedertaxe bestimme nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Körperteile und Organe. Bei „Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung“ werde der entsprechende Teil des Prozentsatzes angenommen. Die Gebrauchsminderung stehe rechts mit 15 % und links mit 10 % unbekämpft fest. Der Visus (Sehschärfe) sei zwar zur Ermittlung der Gebrauchsminderung heranzuziehen, mit ihr aber nicht gleichzusetzen. Aufgrund der vom Erstgericht richtig angewandten Berechnungsmethode errechne sich die Gesamtinvalidität beider Augen mit 10,3 %.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte begehrt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1.1 Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§ 914 ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insbesondere T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
1.2 Der Kläger möchte die Wortfolge „(Teil-) Verlust oder (teilweise) Funktionsunfähigkeit/Funktionsbeeinträchtigung der Sehkraft“ in Art 7 AUVB dahin ausgelegt wissen, dass der (Teil-)Verlust des Visus (= Sehschärfe) im behaupteten Ausmaß von 62 % rechts und 54 % links den relevanten Invaliditätsgrad bildet und nicht der von der Sachverständigen ermittelte Grad der Funktionsbeeinträchtigung der Augen (= Gebrauchsminderung).
1.3 Die zwischen den Streitteilen vereinbarte Gliedertaxe in Art 7.2 AUVB bestimmt nach einem abstrakten und generellen Maßstab für eine Vielzahl von Gliedmaßen und körperlichen Funktionen feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Bei teilweisem Verlust oder teilweiser Funktions- oder Gebrauchsunfähigkeit wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes angenommen (7 Ob 191/15m, 7 Ob 201/19p).
1.4 Entgegen der Ansicht des Klägers bietet der insoweit klare Wortlaut des Art 7 AUVB keine mögliche Grundlage dafür, bei der Berechnung des Invaliditätsgrads zwischen primär zu beurteilendem (Teil-)Verlust und „sonstiger“ (teilweiser) Funktionsunfähigkeit zu differenzieren. Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer wird zwischen Verlust und Funktionsunfähigkeit lediglich dahin unterscheiden, ob die Abtrennung eines Körperteils (= Verlust) oder eine Funktionsbeeinträchtigung des weiterhin verbliebenen Körperteils vorliegt.
1.5 Art 7.2 AUVB knüpft unmittelbar an Art 7.1 AUVB an, der als Voraussetzung für die Leistung nennt, dass die versicherte Person durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Aus der Gesamtbetrachtung folgt, dass sich der Invaliditätsgrad nicht nach dem Ausmaß der Schädigung selbst, sondern nach deren Auswirkungen auf die körperliche Funktionsfähigkeit bestimmt. Vor diesem Hintergrund wird auch der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer nicht den Umfang des Verlusts der Sehkraft an sich dem Invaliditätsgrad gleichsetzen, sondern aus dem Gesamtzusammenhang mit Art 7.1 AUVB der gegenständlichen Wortfolge das Verständnis unterstellen, dass die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Augen den relevanten Invaliditätsgrad bildet.
3. Die Feststellung des Invaliditätsgrads im Sinn der Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Funktionsfähigkeit nach medizinischen Gesichtspunkten stellt eine Tatfrage dar, die im Revisionsverfahren nicht überprüft werden kann (RS0118909).
3.1. Führt der Unfall zu einer (bloßen) Teilschädigung beider Augen sind diese grundsätzlich getrennt zu bewerten, wobei die Mitschädigung des jeweils anderen Auges nur bei einem Auge zu berücksichtigen ist. Für die Berechnung des Invaliditätsgrads ist dann als Basis nicht bei jeweils beiden Augen vom halben Satz für den gänzlichen Verlust beider Augen (Gesamtinvalidität 100 %), aber auch nicht für beide Augen jeweils vom einfachen Satz für den Totalverlust des Sehvermögens für nur ein Auge (hier 40 %) auszugehen. Vielmehr werden der anteilige Normalsatz (hier 40 %) nur für das geringer geschädigte Auge und der anteilig (unter Berücksichtigung der Vorschädigung dieser Augen) erhöhte Satz für das andere Auge (hier 60 %) zugrunde gelegt und die daraus resultierenden Prozentwerte addiert (7 Ob 191/15m = RS0130797).
3.2. Ausgehend von der – den Obersten Gerichtshof bindend – festgestellten Gebrauchsminderung im Ausmaß von 15 % beim rechten und 10 % beim linken Auge, sowie unter Berücksichtigung der eben angeführten Berechnungsmethode ermittelten die Vorinstanzen den Invaliditätsgrad zutreffend. Damit ist aber der Revision des Klägers der Erfolg zu versagen.
4. Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO.
Textnummer
E129976European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00133.20I.1021.000Im RIS seit
04.12.2020Zuletzt aktualisiert am
26.05.2021