TE OGH 2020/10/21 7Ob177/20k

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Veröffentlicht am 21.10.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende sowie die Hofrätin und die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D***** L*****, vertreten durch die Poduschka Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei H***** AG *****, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.338,86 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. April 2020, GZ 60 R 93/18h-12, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 7. Juni 2018, GZ 6 C 129/18s-7, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung als Teilurteil nunmehr wie folgt lautet:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 189,07 EUR samt 4 % Zinsen seit 30. 1. 2018 binnen 14 Tagen zu zahlen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.?

Im Übrigen, also betreffend das Begehren auf Zahlung weiterer 6.149,79 EUR samt 4 % Zinsen seit 30. 1. 2018, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache wird in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden insofern weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger schloss mit dem beklagten Versicherer einen Vertrag über eine fondsgebundene Lebensversicherung ab 1. 3. 2006 mit einer Laufzeit bis 1. 3. 2040. Die Rücktrittsbelehrung im Versicherungsantrag lautete:

„Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG: Sie können binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurücktreten.“

Mit der dem Kläger zugestellten Polizze erhielt er eine „Belehrung zu Ihren Rücktrittsrechten?, worin sich Folgendes findet:

„Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG: Sie können binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurücktreten.“

Der Kläger zahlte von März 2006 bis zuletzt im Dezember 2014 monatlich 200 EUR (= unstrittig 192,31 EUR netto / ohne Versicherungssteuer) an Prämie, insgesamt 21.200 EUR (= 20.384,86 EUR netto). Die Risikoprämie für den im Vertrag vereinbarten Ablebensschutz betrug insgesamt (unstrittig) 838,42 EUR.

Am 22. 9. 2014 kündigte der Kläger mit Wirkung zum 1. 1. 2015 den Versicherungsvertrag und erhielt den Rückkaufswert von 17.259,72 EUR ausbezahlt.

Im November 2017 erklärte der Kläger schriftlich den Rücktritt vom Vertrag wegen fehlerhafter Aufklärung über das Rücktrittsrecht; die Beklagte wies den Rücktritt am 14. 11. 2017 zurück.

Der Kläger begehrt mit seiner am 12. 3. 2018 bei Gericht eingelangten Klage (zuletzt) 6.338,86 EUR samt 4 % Zinsen seit 30. 1. 2018; hilfsweise begehrt er die Aufhebung des Versicherungsvertrags ex tunc. Er könne zeitlich unbefristet zurücktreten, weil er über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG fehlerhaft belehrt worden sei.

Die Beklagte wandte ein, die Belehrung sei korrekt gewesen. Die Rücktrittsfrist des § 165a VersVG sei abgelaufen, das Rücktrittsrecht sei verjährt und werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht. Das Verhalten der Klägerin sei widersprüchlich. Im Falle des Rücktritts stünde nur der Rückkaufswert nach § 176 VersVG zu. Keinesfalls stünden der Klägerin die Rückzahlung der Versicherungssteuer oder eine 4%ige Verzinsung der Prämie zu; mehr als drei Jahre rückwirkend wären Bereicherungszinsen zudem verjährt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Belehrung bei Vertragsabschluss sei entscheidend und damit richtig erfolgt.

Nachdem das Berufungsgericht sein Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Vorabentscheidungsersuchen in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner, unterbrochen und nach Vorliegen dieser Entscheidung wieder fortgesetzt hatte, bestätigte es die Entscheidung des Erstgerichts. Die unterschiedliche Belehrung im Antrag und – dem Gesetz entsprechend – in der Polizze habe die Ausübung des Rücktrittsrechts unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung ebenso wenig behindert wie die in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgesehene Schriftform für Erklärungen des Versicherungsnehmers.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, welche Auswirkungen unterschiedliche Belehrungen über die Rücktrittsfrist in Antrag und Polizze hätten.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig; sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF BGBl I 2004/62) lautete wie folgt:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. …“

1.2. Der bei Vertragsabschluss geltende § 9a Abs 1 VAG (idF BGBl 1996/447) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluß eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluß des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.

...“

2.1. Der Kläger wurde nach den Feststellungen bei Unterfertigung des Versicherungsantrags über die Rücktrittsfrist dahin belehrt, dass er binnen zweier Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrags zurücktreten könne; in der Polizze wurde er hingegen dahin belehrt, dies sei binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrags möglich.

2.2. Die Rechtsbelehrung über die Dauer der Frist zur Ausübung des Rücktrittsrechts im Antrag entsprach § 165a VersVG (idF BGBl I 2004/62) nicht. Die später in der Polizze erteilte Belehrung über eine angeblich längere Frist von 30 Tagen entsprach hingegen österreichischem Gesetz und unionsrechtlichen Vorgaben.

Der Kläger wurde damit über seine Rücktrittsmöglichkeit insofern fehlerhaft und irreführend belehrt, als ihm in engem zeitlichem Konnex zwei unterschiedliche Fristen für den Rücktritt genannt wurden. Dies war auch in der hier vorliegenden Konstellation, in der die erste Belehrung eine zu kurze Frist auswies und erst die spätere Belehrung korrekt war, geeignet, ihn zwischen dem 15. und dem 30. Tag nach Vertragsabschluss zur irrigen Auffassung zu verleiten, dass die Rücktrittsfrist bereits abgelaufen sei, und ihn damit vom eigentlich noch zulässigen Rücktritt abzuhalten (vgl 7 Ob 20/20x). Damit wurde dem Kläger die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG (idF BGBl I 2004/62) hat im vorliegenden Fall daher mangels korrekter Belehrung nicht mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem der Kläger davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Vertrag geschlossen wurde. Die hier vorliegende irreführende Belehrung steht dem Beginn des Fristenlaufs entgegen und führt zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht des Klägers.

3. Der EuGH hat in C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner, festgehalten, dass die unionsrechtlichen Bestimmungen nicht dahin ausgelegt werden können, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die Möglichkeit des Rücktritts von einem Lebensversicherungsvertrag oder die rechtlichen Wirkungen einer fristgerechten Erklärung des Rücktritts von einem solchen Vertrag, wie etwa das Entstehen einer Verpflichtung zur Erstattung, vom Stand der Durchführung des Vertrags abhängig zu machen; da im österreichischen Recht nichts anderes bestimmt ist, kann das Rücktrittsrecht in den vorliegenden Fällen daher auch noch nach Beendigung des Vertrags und nach Erfüllung aller sich aus dem Vertrag ergebenden Verpflichtungen ausgeübt werden (Rn 96). Der Versicherer kann sich nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung bestimmter Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist (Rn 109 und Rn 69, unter Hinweis auf EuGH C-209/12, Endress, Rn 30; vgl 7 Ob 105/20x).

In der Ausübung des Rücktrittsrechts liegt daher kein Rechtsmissbrauch.

4.1. Wie der Fachsenat bereits wiederholt ausgesprochen hat, widerspricht eine Beschränkung der Rückabwicklung auf den bloßen Rückkaufswert nach § 176 VersVG dem Unionsrecht (7 Ob 15/20m, 7 Ob 14/20i, 7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y). Der Rücktritt führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (7 Ob 19/20z; 7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y). Die Bestimmung des § 1435 ABGB räumt einen Rückforderungsanspruch ein, wenn der zunächst vorhandene rechtliche Grund – wie etwa bei einem Rücktritt – wegfällt. Der Wegfall des Vertrags beseitigt bei beiden Parteien den Rechtsgrund für das Behalten der empfangenen Leistungen (7 Ob 15/20m mwN).

4.2. Dies führt hier dazu, dass der Kläger die – allein noch revisionsgegenständlichen – Nettoprämien (ohne Versicherungssteuer; vgl hiezu nunmehr 7 Ob 105/20x) von 20.384,86 EUR zu erhalten hat.

4.3. Der Kläger hat von diesen 20.384,86 EUR den Rückkaufswert von 17.259,72 EUR bereits erhalten und diesen sowie die Risikokosten (vgl dazu nunmehr 7 Ob 117/20m) von 838,42 EUR schon selbst abgezogen. Nicht klagsgegenständlich ist zudem ein weiterer Betrag von 2.097,65 EUR, den der Kläger selbst als Zinsen aus dem Rückkaufswert vom Rückzahlungsbegehren in Abzug gebracht hat. Es ergibt sich ein Restbetrag von 189,07 EUR, den der Kläger zu erhalten hat. In diesem Umfang waren die klagsabweisenden Urteile der Vorinstanzen abzuändern.

5.1. Der erkennende Fachsenat judiziert in ständiger Rechtsprechung, dass Vergütungszinsen bei bereicherungsrechtlicher Rückabwicklung nach einem Spätrücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag der dreijährigen Verjährungsfrist des § 1480 ABGB unterliegen (RS0033829 [T1] = RS0031939 [T4]). Die Frist beginnt grundsätzlich mit dem Zeitpunkt der objektiven Möglichkeit der Rechtsausübung (RS0133108), das heißt mit der Zahlung der Prämie (7 Ob 88/20x; 7 Ob 136/20f; 7 Ob 150/20i).

5.2. Die letzte Prämienzahlung erfolgte hier mehr als drei Jahre vor Klagsführung. Der Anspruch auf Vergütungszinsen ist daher nach österreichischem Recht zur Gänze verjährt.

5.3. Ausgehend von der Entscheidung des EuGH C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rust-Hackner, hat der Senat in seinen Entscheidungen 7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y und 7 Ob 88/20x bereits ausgesprochen: Im Grundsatz steht das Unionsrecht einer Verjährung des Anspruchs auf die Vergütungszinsen binnen drei Jahren nicht entgegen, wenn dies die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst nicht beeinträchtigt. Der EuGH wies darauf hin, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen, zumal Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietenden Versicherern große Unterschiede aufweisen und über einen potentiell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen. Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht.

6.1. Die soeben dargelegten Aspekte waren bislang nicht Gegenstand des Verfahrens und wurden nicht mit den Parteien erörtert. Das Berufungsgericht stützte die Bestätigung der Klagsabweisung nur auf seine – vom Obersten Gerichtshof nicht geteilte – Rechtsansicht, dass die Belehrung über die Rücktrittsfrist korrekt und der Rücktritt daher verfristet gewesen sei.

6.2. Es ist daher den Parteien Gelegenheit zu geben, Vorbringen zu erstatten und im Weiteren zu klären und festzustellen, ob der Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses den Bedürfnissen des Klägers entsprach, und ob und inwiefern er durch die Verjährung binnen drei Jahren daran gehindert worden ist, sein Rücktrittsrecht geltend zu machen. Nur wenn der Vertrag im konkreten Einzelfall nicht den Bedürfnissen des Klägers entsprach und er durch die Verjährung am Rücktritt gehindert wurde, wird die dreijährige Verjährungsfrist nicht anzuwenden sein.

6.3. In diesem Umfang war daher eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen unumgänglich.

6.4. Der Kläger wird sein (verbliebenes) Klagebegehren aufzuschlüsseln und im Hinblick auf den von ihm selbst vorgenommenen Abzug von Zinsen klarzustellen haben, welche Beträge aus welchen Prämien, welche aus Zinsen und aus welchen (nicht verjährten) Zinsen welche Zinseszinsen noch begehrt werden.

Werden fällige Zinsen eingeklagt, können mangels gesonderter Vereinbarung Zinseszinsen nicht vor dem Tage der Klagsbehändigung gefordert werden (§ 1000 Abs 2 ABGB; RS0083307).

7. Die Kostenentscheidung des Teilurteils beruht auf § 52 Abs 4 ZPO; der Kostenvorbehalt im Aufhebungsbeschluss gründet sich auf §§ 50 Abs 1, 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E129955

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00177.20K.1021.000

Im RIS seit

03.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.12.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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