Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 18. November 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz-Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Dr. Koller in der Strafsache gegen Csaba B***** wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 17 Hv 8/20m des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur gegen die Durchführung der Hauptverhandlung am 21. Juli 2020 in Abwesenheit eines Verteidigers und weitere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Dr. Eisenmenger, sowie des Verteidigers Rechtsanwalt Marek LL.M. zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache AZ 17 Hv 8/20m des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzen die Durchführung der Hauptverhandlung, die Urteilsfällung sowie die Beschlussfassung auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsicht und Verlängerung der Probezeit am 21. Juli 2020 in Abwesenheit eines Verteidigers § 61 Abs 1 Z 1 StPO und § 221 Abs 1 iVm § 488 Abs 1 StPO.
Das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 21. Juli 2020 (ON 30) sowie der zugleich ergangene Beschluss auf Absehen vom Widerruf bedingter Strafnachsicht und Verlängerung der Probezeit werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz verwiesen.
Text
Gründe:
Mit in gekürzter Form ausgefertigtem Urteil des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 21. Juli 2020 (ON 30), wurde der im gegenständlichen Strafverfahren in Untersuchungshaft angehaltene (ON 8 S 13 in ON 22 iVm ON 1 S 7 in ON 22) Csaba B***** des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und hierfür zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Mit zugleich ergangenem Beschluss (§ 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO) wurde vom Widerruf der dem Angeklagten mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. Jänner 2017, AZ 31 Hv 75/16y, gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert (ON 30 S 3).
Zur Hauptverhandlung wurde der Verteidiger nicht geladen (ON 1 S 7 f).
Rechtliche Beurteilung
Die Durchführung der Hauptverhandlung, die Urteilsfällung und die Beschlussfassung in Abwesenheit eines Verteidigers (ON 29) stehen – wie die Generalprokuratur in ihrer zur
Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 221 Abs 1 StPO (hier iVm § 488 Abs 1 StPO) sind zur Hauptverhandlung die Beteiligten sowie deren Vertreter zu laden.
Nach § 61 Abs 1 Z 1 StPO muss der Beschuldigte im gesamten Verfahren unter anderem dann durch einen Verteidiger vertreten sein, wenn und solange er in Untersuchungshaft angehalten wird.
Diesen Verfahrensvorschriften wurde vom Einzelrichter, der bei der Durchführung der Hauptverhandlung, der Urteilsfällung und der Beschlussfassung mangels Ladung des Verteidigers nicht für die notwendige Verteidigung des im gegenständlichen Strafverfahren in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten sorgte, nicht entsprochen.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil
des Verurteilten wirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).
Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Verfügungen und Entscheidungen gelten gleichfalls als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444). Diesbezügliche Rechtsmittelerklärungen (ON 40) sind gegenstandslos.
Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Einzelrichters des Landesgerichts für Strafsachen Graz über die zu AZ 31 Hv 75/16y des Landesgerichts für Strafsachen Wien ausgesprochene, bedingt nachgesehene Strafe war diese bereits endgültig nachgesehen (§ 43 Abs 2 StGB, vgl dazu ON 35). Es durfte daher weder das erkennende noch ein anderes Gericht ohne vorangegangene prozessordnungsgemäße Kassation über den Entscheidungsgegenstand der (ursprünglich) bedingten Nachsicht neuerlich absprechen (RIS-Justiz RS0091864).
Der dennoch ergangene Beschluss, der wegen der Bindungswirkung des vorher ergangenen Beschlusses über die Endgültigkeit der Strafnachsicht keine Rechtswirkung entfalten konnte, ist im vorliegenden Fall ohnehin aufzuheben, sodass es einer eigens zur Klarstellung zu treffenden Verfügung nicht bedarf.
Textnummer
E129964European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0130OS00095.20Z.1118.000Im RIS seit
03.12.2020Zuletzt aktualisiert am
03.12.2020