TE Bvwg Erkenntnis 2020/3/9 W161 2215902-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.03.2020
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Entscheidungsdatum

09.03.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W161 2215899-1/12E

W161 2215897-1/9E

W161 2215902-1/8E

W161 2215901-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX alias XXXX , geb. am XXXX alias XXXX , 2.) XXXX alias XXXX , geb. am XXXX alias XXXX , 3.) XXXX , geb. am XXXX und 4.) XXXX , geb. am XXXX 3.) und 4.) vertreten durch die Kindesmutter XXXX alias XXXX , alle StA. Afghanistan, sämtlich vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2019, Zlen.: 1.) 1113265709-160609641, 2.) 1113265600-160609684, 3.) 1148497504-170432463 und 4.) 1215174502-181201925, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.01.2020 zu Recht erkannt:

A)

1.) Die Beschwerden werden hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

2.) Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und es wird XXXX alias XXXX , XXXX alias XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

3.) Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX alias XXXX , XXXX alias XXXX , XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.März 2021 erteilt.

4.) Den Beschwerden hinsichtlich der Spruchpunkte III., IV., V. und VI. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) und der Zweitbeschwerdeführer (im Folgenden: BF2) sind traditionell verheiratet. Sie reisten gemeinsam mit dem minderjährigen Bruder der BF1 XXXX illegal ins Bundesgebiet ein und stellten jeweils am 28.04.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der BF1 und die BF2 sind Eltern des in Österreich am XXXX geborenen minderjährigen Drittbeschwerdeführers (im Folgenden: BF3) und der in Österreich am XXXX geborenen minderjährigen Viertbeschwerdeführerin (BF4).

2. Am 29.04.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der BF1 und des BF2 statt.

Die BF1 gab an, am XXXX in Uruzgan geboren zu sein. Ihre Muttersprache sei Paschtu, sie spreche auch Dari sowie Urdu auf gutem sprachliche Niveau. Weiters spreche sie schlechtes Englisch. Sie gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und bekenne sich zum sunnitischen Islam. Sie habe 10 Jahre lang die Grundschule besucht und sei zuletzt Hausfrau gewesen. Berufsausbildung habe sie keine. In Afghanistan seien ihre Eltern, drei Brüder und drei Schwestern aufhältig. Sie habe in Uruzgan gelebt.

Zu ihrem Fluchtgrund gab sie an, sie und der BF1 hätten ohne Einverständnis ihrer Familien geheiratet. Beide Familien seien gegen die Heirat gewesen, weil einerseits die wirtschaftliche Situation ihres Mannes schwach sei und sie andererseits einem anderen, alten Mann gegen Entgelt versprochen worden wäre. Sie sei gegen eine Heirat mit diesem Mann gewesen. Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor dem alten Mann, ihrem Vater und dem gesamten Stamm. Sie würden sie töten, weil sie ihre Ehre befleckt habe.

Der BF2 gab in seiner Erstbefragung an, er sei am XXXX in Maidan Wardak geboren. Seine Muttersprache sei Paschtu, er spreche auch Urdu, Dari und Englisch auf gutem sprachlichen Niveau. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und bekenne sich zum sunnitischen Islam. Er habe 12 Jahre lang die Grundschule besucht. Er habe keine Berufsausbildung und zuletzt als Landarbeiter gearbeitet. In Afghanistan seien seine Eltern und seine sechs Schwestern aufhältig. Er habe in Maidan Wardak gelebt.

Zu seinem Fluchtgrund gab er an, dass die BF1 und er ohne Einverständnis ihrer Familien geheiratet hätten. Beide Familien seien gegen die Heirat gewesen, da einerseits seine wirtschaftliche Situation schwach sei und andererseits die Familie der BF1 sie mit einem alten Mann habe zwangsverheiraten wollen. Bei einer Rückkehr sei ihr Leben in Gefahr. Er fürchte sich vor ihren Familien und die Rache des alten Mannes, dem die BF1 versprochen worden sei. Ihm drohe seitens der Familie der BF1 die Todesstrafe, weil er die Familie entehrt habe.

3. Im Zuge des durchgeführten Dublin-Verfahrens, teilte der zuständige Dublin-Staat (Bulgarien) am 10.05.2016 mit, dass die BF1 dort als " XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan", der BF2 als " XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan" in Erscheinung getreten seien.

4. Am 11.05.2016 wurde bei der BF1 eine Bestimmung des Knochenalters durchgeführt. Als Ergebnis wurde "GP 26, Schmeling 4" festgehalten.

5. Im Zuge des Dublin-Verfahrens wurden die BF1 und der BF2 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 01.06.2016 niederschriftlich einvernommen.

Die BF1 gab an, ca. im zweiten Monat schwanger zu sein. Ihr Name und Geburtsdatum, welches sie in Österreich angegeben habe würden der Wahrheit entsprechen. Sie sei 16 Jahre alt. Dies wisse sie von ihren Eltern. Beweise für ihr Alter habe sie nicht. Sie seien gemeinsam mit dem jüngeren Bruder geflüchtet, die Polizei in Österreich habe sie von ihrem Bruder getrennt. Sie habe ihren Mann nach islamischen Ritus geheiratet, dies sei ca. vor 4 Monaten in der Provinz Kandahar gewesen. Wann genau sie geheiratet habe wisse sie nicht.

Der BF2 gab an sich gesund zu fühlen. Sein in Österreich angegebener Name und das Geburtsdatum würden der Wahrheit entsprechen. Sein Reisepass befinde sich in Afghanistan, er könne ihn sich nicht schicken lassen, da er von zu Hause geflüchtet sei und ohne Zustimmung der Familie geheiratet habe. Er habe vor ca. 4 Monaten in der Provinz Kandahar geheiratet, das genaue Datum wisse er nicht. Seine Frau sei 16 Jahre alt, dies wisse sie von ihrer Familie. Diesbezügliche Beweismittel gebe es nicht.

6. Am 29.06.2016 legte die BF1 einen Mutter-Kind-Pass vor. Als errechneter Geburtstermin wurde der XXXX angegeben.

7. Mit Bescheiden des BFA vom 15.08.2016, Zlen.: 1113265709-160609641 und 1113265600-160609684 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF1 und des BF2 vom 28.04.2016 ohne in die Sache einzutreten gem. § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO Bulgarien zuständig sei. Gem. § 61 Abs. 1 FPG wurde gegen die BF1 und den BF2 die Außerlandesbringung angeordnet und gem. § 61 Abs. 2 FPG ihre Abschiebung nach Bulgarien für zulässig erklärt. Die BF1 und der BF2 erhoben gegen diese Bescheide fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.

8. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.12.2017, Zlen.: W184 2134300-1/7E und W184 2134301-1/8E wurden die Bescheide der BF1 und des BF2 gem. § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG (wegen Ablauf der Überstellungsfrist) behoben und die Verfahren der BF1 und des BF2 zugelassen.

9. Am XXXX wurde der minderjährige BF3 im Bundesgebiet geboren. Für diesen wurde am 04.05.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die BF1 führte als gesetzliche Vertreterin in der Erstbefragung am selben Tag aus, dass für den BF3 dieselben Fluchtgründe gelten würden.

10. Am 07.08.2018 langte beim BFA ein Abschlussbericht ein, wonach die BF1 verdächtigt sei am XXXX einen Diebstahl in einem Bekleidungsgeschäft begangen zu haben.

11. Am 14.08.2018 wurden die BF1 und der BF2 vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen.

11.1. Die BF1 gab an, derzeit im 7. Monat schwanger zu sein. Der Geburtstermin sei der XXXX . Weiters gab sie an, zum Teil Probleme mit Sicherheitsbehörden oder anderen staatlichen Institutionen gehabt, dies wegen den persönlichen Feindschaften.

Zu ihrem Leben in Afghanistan gab sie an, zuletzt in Kabul bei ihren Eltern in einem Mietshaus gelebt zu haben. Auch ihr Bruder habe bei den Eltern gelebt. Ihre Großeltern seien schon verstorben als sie noch Kinder gewesen seien. Ihre Angehörigen würden jetzt nicht mehr dort wohnen, sie hätten eventuell das Haus gewechselt und leben jetzt wo anders.

Zu ihrer Beziehung mit ihrem Mann befragt, gab die BF1 an, dass ihre Eltern nichts von der Beziehung gewusst hätten. Sie hätten erst bei der Flucht davon erfahren. Dies sei eine Straftat, da ihr Vater sie habe zwangsverheiraten wollen und sie weggelaufen sei. Ihr Ehemann sei er der Sohn ihrer Tante, sie kenne ihn schon seit ihrer Kindheit. Sie hätten in Kandahar vor einem Mullah in einer Moschee geheiratet. Sie könne sich nicht daran erinnern, wann dies genau gewesen sei, da sie auf der Flucht gewesen seien.

Betreffend ihre Verwandten in Afghanistan gab sie an, dass ihr Vater in Kabul lebe. Sie vermute, dass er nach wie vor als Gärtner arbeite. Sie pflege ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater. Ihr Vater besitze eine Landwirtschaft für Weizen und Getreide. Sie habe alle zwei oder drei Monate zu ihm Kontakt. Auch ihre Mutter lebe in Kabul, mit ihr habe sie zweimal pro Monat Kontakt und sie hätten ein gutes Verhältnis. Sonst habe sie noch einen Onkel väterlicherseits, der in Uruzgan lebe. Auch ihre Mutter habe vier Brüder, aber mit diesen habe sie keinen Kontakt. Sie habe nur zu ihrer Familie Kontakt.

Nach Vorhalt, dass ihr Bruder in seiner Einvernahme angegeben habe, dass die Großeltern in Kabul wohnhaft seien, gab die BF1 an, sie wisse nicht, was ihr Bruder gesagt habe. Er habe dies gesagt, was ihm seine Freunde geraten hätten. Der Bruder habe in Afghanistan zuletzt bei ihr und den Eltern gelebt.

Zu ihrem Leben in Österreich befragt, gab die BF1 an, dass sie keinen Deutschkurs besuchen und auch nicht arbeiten gehen dürfe. Sie bekomme Grundversorgung und gehe keiner Arbeit nach. Sie habe österreichische Freunde, auch mit ihrer Kinderärztin namens XXXX sei sie befreundet.

Befragt, welche österreichischen Werte ihr besonders am Herzen liegen würden, gab die BF1 wie folgt an:

"Dass ich mich hier frei bewegen kann. Dass ich selbst mein Leben gestalten darf, dass ich selbst meinen Bildungsweg entscheiden darf und sich keiner einmischt. Dass in Österreich eine gute Sicherheitslage herrscht. In Österreich wird einem nicht vorgeschrieben, wie man sich kleiden soll. Hier werden Frauen respektiert. Männer und Frauen haben die gleichen Rechte hier.

F: Können Sie mehr dazu sagen?

A: Das ist alles. Fragen Sie mich nicht nach meinem Fluchtgrund?

F: Welchen Stellenwert hat die Meinung eines Mannes für Sie persönlich?

A: Jede Meinung hat einen Wert, man muss zuhören. Wenn es korrekt ist, muss man dem auch zuhören und beurteilen ob man derselben Meinung ist.

F: Welche Kleidung tragen Sie denn gerne?

A: Ich trage gerne eine Bluse.

F: Haben Sie in Afghanistan ein Kopftuch getragen?

A: Ja

F: Seit wann tragen Sie kein Kopftuch mehr?

A: Gelegentlich nehme ich ein Kopftuch mit, da ich mein Kind stille. Und hier bin ich frei und kann selbst entscheiden ob ich eins tragen möchte oder nicht.

Wiederholung der Frage!

A: Manchmal trage ich auch in Österreich ein Kopftuch, deswegen gibt es kein Datum.

F: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor?

A: Ich möchte meine Bildung hier fortsetzen, ich möchte vom Staat unabhängig sein.

F: Feiern Sie traditionelle, afghanische Feste in Österreich?

A: Ja.

F: Wie hat Ihr Alltag in Afghanistan ausgesehen?

A: Ich habe die Schule besucht und dann war ich zuhause, ansonsten habe ich nichts Besonderes gemacht.

F: Welche Arbeits- und Berufsfelder interessieren Sie denn besonders?

A: Ich möchte als Kosmetikerin oder im Medizinischen Bereich arbeiten.

F: Wiederholung der Frage!

A: Ich will Ärztin oder Kosmetikerin werden.

F: Welche Ausbildungsstufen möchten Sie dafür in Österreich erreichen?

A: Nein weiß ich nicht, ich habe mich noch nicht informiert.

F: Respektieren Sie die österreichischen Gesetze?

A: Ja.

F: Wieso wurden Sie dann erst kürzlich bei einem Ladendiebstahl betreten?

A: Das war nur ein Missversttändnis. Wir waren einkaufen, und ich wollte den Rest mit der Karte bezahlen und ging kurz aus dem Geschäft hinaus und dabei wurde ich betreten."

Befragt, weshalb sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, gab die BF1 wie folgt an:

"Ich wollte diesen Mann nicht heiraten, mit dem mein Vater mich verheiraten wollte. Mein Vater war verschuldet und dieser Mann war sehr wohlhabend und hatte mehrere Frauen. Ich war nicht bereit wegen den Schulden meines Vaters mein Leben zu opfern.

...

Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

A: Ich möchte anführen, wenn man unerlaubt flüchtet, obwohl man jemanden versprochen wurde, wird man auch von der Regierung verfolgt. Wir wurden bis in die Türkei verfolgt. Ich weiß nicht was mich erwartet, wenn ich zurückkehre.

F: Inwiefern wurden Sie bis in die Türkei verfolgt?

A: Dieser Mann, an dem ich verheiratet werden soll, der war sehr mächtig. Er hat sich über die Schlepper informiert, deswegen war es für uns auch sehr gefährlich, dass wir nicht verfolgt.

F: Woher wissen Sie, dass sich dieser Mann über die Schlepper informiert hatte?

A: Der Freund meines Ehemanns hat ihn informiert. Weil der Mann hat sich über den Freundeskreis meines Mannes informiert und deshalb haben wir das erfahren.

F: Das ist vage und unkonkret. Bitte machen Sie konkrete Angaben rund um Ihre Fluchtgründe!

A: Wir haben uns gegenseitig geliebt und war in einer Beziehung. Ich sollte an diesen alten Mann verheiratet werden. Ich hatte nicht vor zu flüchten, ich wollte in Afghanistan meine Bildung fortsetzen. Wie sollte ich denn leben wenn dieser Mann bereits mehrere Frauen hat, ich kann doch nicht mit einem Mann leben, der so alt ist wie mein Großvater und auch mit einem Mann der ungebildet ist und mit den Taliban zu tun hat.

F: Haben Sie weitere Fluchtgründe?

A: Nein, ich habe alles gesagt.

F: Wurden Sie direkt bedroht oder verfolgt in Afghanistan?

A: Ich persönlich wurde nicht bedroht, aber die Freunde meines Ehemanns wurden bedroht, falls sie uns helfen, werden sie getötet und wir auch. Diese Personen waren auch bei meinen Eltern zuhause und haben meine Schwestern geschlagen, ihr Jochbein wurde gebrochen und deren Arm wurde verletzt. Sie wollten weil ich geflüchtet bin, meine andere Schwester zur Hochzeit zwingen. Diese Personen üben Druck auf meine Familie aus, damit sie mich überreden, dass ich zurück nach Afghanistan gehe.

F: Inwiefern wollten diese Personen Ihre Schwester zur Hcohzeit zwingen?

A: Sie wollten meine Schwester mitnehmen und mein Vater schaffte es mit einer Ausrede, dass er meine Schwester bereits an jemand anderen versprochen wurde.

F: Wurden Sie aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit konkret bedroht?

A: Nein.

F: Wurden Sie bisher in Afghanistan persönlich, direkt und unmittelbar bedroht?

A: Nein.

F: Was wissen Sie von der Person, an die Sie verheiratet werden sollten?

A: Ich habe nicht gewusst, wer er ist, ich wusste nur dass mein Vater ihm Geld schuldet und als Gegenleistung hätte ich ihn heiraten müssen. Ich weiß nur, dass er eine mächtige Person ist und mit den Taliban zu tun hat.

F: Haben Sie diese Person jemals gesehen?

A: Nur einmal kurz, als Kind.

F: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr nach Afghanistan?

A: Ich habe Angst um mein Leben und um das Leben meiner zwei Kinder.

F: Wurden Sie aus Gründen Ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder Ihrer politischen Überzeugung verfolgt in Afghanistan?

A: Nein, wurde ich nicht."

Im Zuge der Einvernahme legte die BF1 einen Mutter-Kind-Pass vor. Als errechneter Geburtstermin wurde der XXXX vermerkt.

11.2. Der BF2 gab in seiner Einvernahme an, zuletzt in XXXX wohnhaft gewesen zu sein. Davor habe er bei seinen Eltern in Maidan Wardak gelebt. Bis vor sechs Monaten hätten seine Angehörigen dort gewohnt, nun würden sie in Kabul leben. Mit seiner Familie habe er keinen Kontakt, da es für ihn und die Angehörigen gefährlich sei. Er habe nur mit Freunden Kontakt. Er kenne seine Frau schon seit seiner Kindheit, sie sei die Tochter seiner Tante. Die Eltern hätten von der Beziehung nichts gewusst. Sie hätten in Kandahar in einer Moschee vor einem Mullah geheiratet. Ein Datum könne er nicht nennen. Er habe in Afghanistan auch noch mehrere Onkel, aber auch zu diesen habe er keinen Kontakt. Der BF2 habe in Afghanistan 12 Jahre lang die Schule besucht und danach Englisch-Kurse besucht. Er habe in Afghanistan nicht gearbeitet, aber seinem Vater gelegentlich in der Landwirtschaft geholfen.

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, mit seiner Frau spazieren zu gehen. Er gehe auch ins Fitnessstudio, gelegentlich Fußball spielen und übersetze für die Nachbarn. Er bekomme die Grundversorgung und gehe keiner Arbeit nach. Er habe in Österreich schon Freunde gefunden. Befragt, welche österreichischen Werte ihm besonders am Herzen liegen, gab er an: "Das wichtigste ist die Freiheit hier, dass jeder die gleichen Rechte hat. Jeder kann machen was er will. Von dem Gesetzt her ist jeder gleich." Mehr könne er dazu nicht sagen. Er wolle in Österreich studieren (Politikwissenschaften) und dann arbeiten. Er feiere in Österreich traditionelle afghanische Feste.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF2 wie folgt an:

"Ich war verliebt in meine jetzige Frau, ihr Vater wollte sie mit einem alten Mann verheiraten, wir waren beide dagegen und deswegen sind wir aus Afghanistan geflüchtet.

F: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

A: Das war der einzige Grund, weshalb wir aus Afghanistan geflüchtet sind.

F: Das ist vage und unkonkret. Bitte machen Sie konkrete Angaben rund um Ihre Fluchtgründe!

A: Ich war in einer Beziehung mit meiner jetztigen Frau, ich habe erfahren dass der Grund für die Hochzeit mit dem alten Mann, die Verschuldung meines Schwiegervaters ist. Er konnte die Schulden nicht zurückbezahlen, aus diesem Grund hat er meine Ehefrau diesem Mann versprochen. Ich habe auch erfahren, dass die Schwester meine Ehefrau also meine Schwägerin an diesen Mann verheiratet werden sollte.

F: Wurde die Schwägerin an diesem Mann verheiratet?

A: Nein, wurde sie nicht.

F: Wieso nicht?

A: Weil ihr Vater gesagt hat, dass sie schon an jemanden versprochen ist.

F: Wurden Sie direkt bedroht oder verfolgt in Afghanistan?

A: Ich persönlich nein, ich habe ihn auch persönlich noch nie gesehen.

F: Und weshalb ist es zu gefährlich, dass Sie mit Ihrer Familie Kontakt haben, wenn Sie persönlich nicht bedroht wurden?

A: Weil ich vor Ort bin, dann könnte diese Person meine Familie verfolgen, deswegen stehe ich nicht mit ihnen in Kontakt, damit ich sie nicht in Gefahr bringe.

F: Zu Ihrem Freundeskreis haben Sie Kontakt?

A: Ja.

F: Gab es innerhalb Ihres Freundeskreis eine Bedrohung durch diesen Mann, mit dem Ihre Ehefrau zwangsverheiratet werden sollte?

A: Nein, weil sie nicht wissen zu welchen Freunden Kontakt habe.

F: Wurden Sie aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit konkret bedroht?

A: Nein.

F: Wurden Sie bisher in Afghanistan persönlich, direkt und unmittelbar bedroht?

A: Nein.

F: Was wissen Sie von der Person, an die Ihre Ehefrau zwangsverheiratet werden sollte?

A: Ich habe viel von ihm gehört, er soll sehr mächtig und wohlhabend sein. Er hat sehr viel Einfluss.

F: Haben Sie diese Person jemals gesehen?

A: Nein.

F: Wissen Sie ob Ihre Ehefrau diese Person jemals gesehen hat?

A: Ich glaube nicht, dass sie ihn jemals gesehen hat.

F: Was befürchten Sie im Falle der Rückkehr nach Afghanistan?

A: Ich habe Angst um mein Leben, wenn wir zurückkehren, werden wir dort getötet.

F: Wurden Sie aus Gründen Ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder Ihrer politischen Überzeugung verfolgt in Afghanistan?

A: Nein, wurde ich nicht."

12. Am 06.09.2018 wurde das BFA über die Abhaltung einer Hauptverhandlung am 01.10.2018 (Anklage gegen die BF1 wegen § 15 StGB, § 127 StGB) verständigt.

13. Am XXXX wurde die minderjährige BF4 im Bundesgebiet geboren. Für diese wurde am 14.12.2018 ein Antrag auf internationalen Schutz gem. § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG gestellt und die Gewährung zumindest desselben Schutzes wie jeder der Eltern beantragt.

14. Mit Bescheiden vom 15.02.2019 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkte II.) abgewiesen, Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkte VI.).

Das BFA stellte fest, dass die BF Staatsangehörige Afghanistans seien, sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben bekennen und der Volksgruppe der Paschtunen angehören würden. Die BF1 und der BF2 seien zuletzt in Kabul wohnhaft gewesen. Bei wem genau, lasse sich aufgrund der widersprüchlichen Angaben nicht feststellen. Die BF1 würde zu ihrem Vater und ihrer Mutter regelmäßigen Kontakt pflegen. Die gesamte Familie der BF1 -mit Ausnahme ihres Bruders in Österreich - würde sich nach wie vor in Afghanistan befinden. Der BF2 stamme ursprünglich aus der Provinz Maidan Wardak.

Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass es der BF1 und dem BF2 nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Die BF1 und ihr Bruder hätten sich hinsichtlich der Angaben zu den Aufenthaltsorten ihrer Familie widersprochen. Es sei aber pauschal davon auszugehen, dass die BF über Familienangehörige in Kabul verfügen. Auch habe die BF1 in der Erstbefragung angegeben, dass sie Angst vor ihrem Vater und ihrem Stamm habe (wegen der gescheiterten Zwangsheirat und der heimlichen Heirat mit ihrem Ehemann), während sie in der Einvernahme dann geschildert habe, ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater zu haben. Weiters habe die BF1 von einer Verschuldung des Vaters gesprochen, während der Bruder im Gegenteil dazu behauptet habe, dass die finanzielle Lage der Familie gut gewesen sei. Auch würden sich die Aussagen der BF1 und des BF2 widersprechen. Die BF1 habe angegeben, dass Freunde ihres Mannes bedroht worden seien, während der BF2 wiederum behauptete habe, dass es keine Bedrohung innerhalb des Freundeskreises gegeben habe, da niemand gewusst habe, mit wem der BF2 Kontakt gehabt hätten. Aufgrund der vielen Widersprüche und der vagen Schilderung der erwachsenen BF, sei ihr Fluchtvorbringen als nicht glaubhaft zu werten. Auch eine Verwestlichung der BF1 habe nicht festgestellt werden können. Sie sei nach wie vor eine traditionelle afghanische Frau, die afghanische Feste feiere und gelegentlich ein Kopftuch trage.

Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass für die BF eine Rückkehr nach Kabul zumutbar sei. Sie würden dort über Verwandte verfügen und wäre es ihnen möglich, Unterstützung durch ihre Familien zu erhalten und sich so ihren Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Mit den Angehörigen würden die BF nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegen. Die Angehörigen könnten die BF gegebenenfalls auch aus der Ferne (durch das afghanische Bankensystem) bzw. gegenseitig unterstützen. Die BF1 und der BF2 würden über Schul- und Arbeitserfahrung verfügen. Die BF würden auch nicht an schweren bzw. lebensbedrohlichen Krankheiten leiden. Der BF1 sei es zuzumuten eine eigene Arbeitstätigkeit aufzunehmen und würde auch der BF2 für ihre Lebenserhaltungskosten aufkommen können. BF würde auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen können. Als afghanische Staatsangehörige sei es ihnen möglich sich in jedem Teil ihres Herkunftsstaates niederzulassen. Die BF seien auch mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und würden die dortige Sprache sprechen.

15. Gegen diese Bescheide brachten die BF fristgerecht inhaltlich gleich lautende Beschwerden ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die belangte Behörde mit dem Fluchtvorbringen der BF nicht ausreichend auseinandergesetzt habe. Hinsichtlich der angeblichen Widersprüche der BF wurde ausgeführt, dass der Bruder der BF1 aufgrund seines Alters nicht über die wirtschaftliche Lage der Familie Bescheid gewusst habe. Zudem habe der Bruder der BF1 gemeint, dass die Großeltern mütterlicherseits in Kabul aufhältig seien, während die BF1 von den verstorbenen Großeltern väterlicherseits gesprochen habe. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die belangte Behörde die Angaben eines minderjährigen Kindes als Maßstab für die Bewertung der Glaubwürdigkeit heranziehe. Das BFA habe oberflächliche Feststellungen gemacht und sich nicht ausreichend mit dem Vorbringen der BF auseinandergesetzt. Die BF hätten ihre Fluchtgründe glaubhaft und widerspruchsfrei geschildert. Sie seien aufgrund der Zwangsheirat der BF1 einer Verfolgung ausgesetzt. Außerdem würde die Familie seit ihrem Aufenthalt in Österreich einen westlichen Lebensstil genießen. Die BF1 sei eine moderne Frau, die in Zukunft als Ärztin oder Kosmetikerin arbeiten wolle. Durch ihren westlichen Lebensstil würde sie die in Afghanistan herrschenden sozialen Normen in einem solchen Ausmaß verletzen, dass ihr bei einer Rückkehr eine Verfolgung nach der GFK drohen würde. Zahlreiche Bericht von NGOs würden belegen, dass die Recht von Frauen in Afghanistan mit Füßen getreten werden und Frauen als "Menschen zweiter Klasse" behandelt werden. Diese Gesellschaft lehne die BF1 ab. Sie wolle nicht in einem Land leben, in dem sich Frauen nicht frei bewegen können und ständig diskriminiert werden. Hinsichtlich der Zumutbarkeit einer IFA wird ausgeführt, dass die Sicherheitslage in Afghanistan weiterhin instabil sei. UNHCR gehe davon aus, dass angesichts der derzeitigen Sicherheitslage, der Menschenrecht und der humanitären Lage eine IFA in der Stadt Kabul nicht verfügbar sei. Auch in Herat hätten die sicherheitsrelevanten Vorfälle zugenommen und sei insgesamt eine IFA in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat nicht möglich.

16. Mit Urteil des BG XXXX wurde die BF1 am 21.08.2019 wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach den §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je ?4 festgesetzt, insgesamt somit ? 240, im Uneinbringlichkeitsfall 30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.

17. Am 14.01.2020 brachten die BF folgende Unterlagen in Vorlage:

- Ärztlicher Entlassungsbrief sowie Aufenthaltsbestätigungen, wonach die BF1 vom 16.10.2019 bis 17.10.2019 wegen einer Fehlgeburt in stationärer Behandlung gewesen sei;

- Entlassungsinformation nach geburtshilflicher Cürettage;

- Bestätigung, wonach der BF2 an einem "Sprachen Call 2017" teilgenommen habe;

- Bestätigung, wonach die BF1 an einem "Sprachen Call 2017" (38 von 50 Unterrichtseinheiten) teilgenommen habe.

18. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.01.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die BF1 und der BF2 zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat, ihrer Integration und zu ihrem Nachfluchtgrund befragt wurden. In der Verhandlung wurde mit den erwachsenen BF das aktuelle LIB der Staatendokumentation (Stand: 13.11.2019), die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der EASO Bericht von April 2019 erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der BF:

Die Identität der BF konnte nicht festgestellt werden.

Die BF sind Staatsbürger von Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Die BF1 und der BF2 haben in Afghanistan traditionell geheiratet. Sie sind miteinander verwandt (Cousins) und Eltern des in Österreich geborenen BF3 und der in Österreich geborenen BF4.

Die BF1 wurde in der Provinz Uruzgan geboren und hat dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern gelebt. Sie hat in Afghanistan 10 Jahre lang die Grundschule besucht. Sie ist in Afghanistan Hausfrau gewesen, hat nicht gearbeitet und hat keine Berufsausbildung gemacht. Ihre Muttersprache ist Paschtu, sie spricht auch Dari und Urdu.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die erwachsenen BF vor ihrer Ausreise nach Europa in der Stadt Kabul gelebt haben. Weiters konnte nicht festgestellt werden, dass Familienangehörige der BF in Kabul aufhältig waren bzw. noch aufhältig sind.

Der BF2 wurde in der Provinz Maidan Wardak geboren und hat dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Schwestern gelebt. Er hat 12 Jahre lang die Grundschule besucht und auch Englischkurse gemacht. Er hat keine Berufsausbildung, jedoch seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen (Landarbeiter). Die Muttersprache des BF2 ist Paschtu, er spricht auch Urdu, Dari und Englisch.

Es besteht schon seit längerer Zeit kein Kontakt zur Kernfamilie des BF2. Die BF1 telefoniert unregelmäßig mit ihrer Mutter.

Die BF1 und der BF2 reisten gemeinsam mit dem minderjährigen Bruder der BF1 unter Umgehung der Grenzkontrollen (illegal) nach Österreich ein und stellten am 28.04.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Für den in Österreich geborenen minderjährigen BF3 wurde am 04.05.2017, für die in Österreich geborene BF4 am 14.12.2018 ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht.

Die BF1 war von 16.10. bis 17.10.2019 wegen einer Fehlgeburt in stationärer Behandlung in einem Krankenhaus. Ansonsten sind die BF gesund und wurden keine medizinischen Unterlagen in Vorlage gebracht.

Die erwachsenen BF haben in Österreich (im Jahr 2017) an einem "Sprachen-Call" teilgenommen. Darüber hinaus nehmen sie laut ihren Angaben an Deutschkursen in ihrer Unterkunft teil. Deutschzertifikate haben die BF1 und der BF2 nicht erworben, sie legten auch keine Bestätigungen über die Absolvierung von Deutschkursen vor. Die BF1 verfügt nur über mangelhafte Deutschkenntnisse und kann an sie gerichtete Fragen nur teilweise sinngemäß beantworten. Der BF2 kann sich in deutscher Sprache ausdrücken und versteht an ihn gerichtete Fragen.

Die erwachsenen BF sind in Österreich keiner entgeltlichen Arbeit nachgegangen. Sie leben hier von der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Sie sind nicht Mitglieder in Vereinen oder sonstigen Organisationen.

Die BF verfügen in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines Bekanntenkreises (Nachbarn) und sind sportlich aktiv. Die BF1 nimmt an diversen sportlichen Aktivitäten ihrer Flüchtlingsunterkunft teil (Radfahren, Schwimmunterricht und Yoga). Der BF2 geht Fußballspielen und ins Fitnessstudio.

Die BF1 weist in Österreich folgende strafgerichtliche Verurteilung auf:

1.) BG XXXX vom 21.08.2019 (RK 27.08.2019)

§ 15 StGB § 127 StGB

Datum der (letzten) Tat: 04.04.2019

Geldstrafe von 60 Tags zu je 4,00 EUR (240,00 EUR) im NEF 30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe

Zusatz: Junge(r) Erwachsene(r)

Vollzugsdatum: 03.01.2020

Der BF2 ist strafgerichtlich unbescholten, die minderjährigen BF3 und BF4 sind strafunmündig.

1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen der BF nicht festgestellt werden, dass diese in Afghanistan aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurden. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan sind die BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt.

Es ist nicht glaubwürdig, dass die BF1 von ihrem Vater mit einem alten bzw. mächtigen Mann hätte zwangsverheiratet werden sollen, sie aus diesem Grund ihr Heimatland verlassen und sie und der BF2 deswegen einer asylrelevanten Bedrohung/Verfolgung durch ihre eigenen Familienmitglieder oder die Familienmitglieder des alten Mannes ausgesetzt gewesen wären oder in Zukunft ausgesetzt sein würden. Weiters ist nicht glaubwürdig, dass die erwachsenen BF wegen ihrer traditionellen Hochzeit einer asylrelevanten Bedrohung/Verfolgung durch ihre Familienangehörigen ausgesetzt gewesen wären oder in Zukunft ausgesetzt sein würden.

Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Wie bereits oben festgestellt, spricht die BF1 zum Entscheidungszeitpunkt nur wenig Deutsch und hat bisher keine Deutschprüfung abgeschlossen. Sie hat auch sonst keine Weiterbildungsmöglichkeiten in Anspruch genommen. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder. Auch in Afghanistan war sie nicht berufstätig und Hausfrau. Sie bewegt sich in einem sehr kleinen Radius in Österreich.

Es konnte nicht glaubhaft dargelegt werden, dass die BF1 während ihres relativ kurzen Aufenthaltes in Österreich eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass es den minderjährigen BF3 und BF4 unmöglich oder unzumutbar wäre, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass den minderjährigen BF3 und BF4 auf Grund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan physische und/oder psychische Gewalt droht und sie deswegen einer Verfolgung ausgesetzt wären.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:

Die BF1 stammt aus der Provinz Uruzgan, der BF2 aus der Provinz Maidan Wardak. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass den BF bei einer Rückkehr in diese Provinzen ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Bei einer Ansiedelung in der Stadt Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat können die erwachsenen BF die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder allerdings nicht in ausreichendem Maße befriedigen. Die BF würden daher in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten. Sie können auch nicht mit Unterstützung durch ihre in Afghanistan lebenden Familienangehörigen rechnen.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Unter Bezugnahme auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 13.11.2019), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie den EASO-Bericht zu Afghanistan von April 2019 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:

1. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

...

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

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Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

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Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Fary

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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