TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/16 G310 2225996-1

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Veröffentlicht am 16.07.2020
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Entscheidungsdatum

16.07.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70 Abs3

Spruch

G310 2225996-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geboren am XXXX , StA: Rumänien, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 18.10.2019, Zl. XXXX , betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zu Recht:

A)       Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin (BF) wurde im Bundesgebiet bislang einmal strafgerichtlich verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2019, XXXX , wurde über sie eine Freiheitsstrafe im Ausmaß von 12 Monaten verhängt, wobei 10 Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

Mit Schreiben das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 09.07.2019 wurde die BF über die in Aussicht genommene Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ihrer Person in Kenntnis gesetzt und unter einem aufgefordert, zur Sache Stellung zu nehmen und Fragen zu den persönlichen Verhältnissen zu beantworten.

Die rechtsfreundliche Vertretung der BF erstattete eine entsprechende Stellungnahme.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde gegen die BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein für die Dauer von sechs Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung begründet.

Gegen diesen Bescheid erhob die BF durch ihre rechtsfreundliche Vertretung eine mit 12.11.2019 datierte und am 18.11.2019 eingelangte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG). Darin wurde beantragt, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben; in eventu das sechsjährige Aufenthaltsverbot zu reduzieren; in eventu den angefochtenen Bescheid zur Durchführung eines erneuten Ermittlungsverfahrens an die erste Instanz zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht vor und beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1. Feststellungen:

Die BF führt die im Spruch angegebene Identität (Name und Geburtsdatum) und ist rumänische Staatsbürgerin.

Der Sohn und die beiden Brüder sowie eine Schwester der BF leben ebenfalls im Bundesgebiet. Die BF lebt mit ihrem Lebensgefährten in einem gemeinsamen Haushalt und wird von diesem sowie ihrem Sohn derzeit finanziell unterstützt. Sie spricht Deutsch, ist sozial integriert und pflegt einen Freundeskreis.

Die BF ist seit 21.02.2007 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet gemeldet. Die längste Abwesenheit der BF betrug 4 Monate und 3 Wochen. Es besteht bei der BF keine meldebehördliche Abwesenheit von mehr als 6 Monaten im Bundesgebiet.

Die BF hat eine am 21.03.2017 vom Magistrat XXXX ausgestellte und bis 21.03.2023 gültige Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin.

Die BF war von 07.03.2016 bis 01.06.2016, von 02.06.2016 bis 05.09.2017, von 06.09.2017 bis 30.09.2017, von 16.11.2017 bis 28.12.2017, von 27.02.2018 bis 07.03.2018, von 27.02.2019 bis 05.03.2019 als Arbeiterin bzw. als geringfügig beschäftigte Arbeiterin tätig. Dazwischen bezog die BF von 26.01.2018 bis 25.02.2018 Arbeitslosengeld, wie auch von 11.12.2019 bis 29.03.2020. Seit 30.30.2020 bezieht die BF Notstandshilfe.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2019, XXXX , wurde die BF wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15 Abs 1, 84 Abs 4 StGB – ausgehend von einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe - zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt, wobei zehn Monate unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Zudem wurde die BF gemäß § 369 Abs 1 StPO zur Zahlung eines Schmerzengeldbeitrags in Höhe von EUR 100,-- verpflichtet. Bei der Strafzumessung wurden die geständige Verantwortung, die bisherige Unbescholtenheit und die Tatsache, dass die Tat beim Versuch geblieben ist sowie die Provokation durch das Tatopfer als mildernd berücksichtigt, erschwerend waren keine Umstände.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass die BF am XXXX .2019 eine männliche Person dadurch schwer am Körper zu verletzen versucht hat, indem sie mit einem Küchenmesser mehrmals in Richtung seines Bauches stach, dieser den Stichen anfangs ausweichen und einen Stich mit seiner linken Hand abwehren konnte, wodurch dieser leicht in Form einer Stichwunde im Bereich des linken Kleinfingergrundgliedes am Körper verletzt wurde.

Die BF verbüßte den unbedingten Teil der Haftstrafe von XXXX .2019 bis XXXX .2019 in der Justizanstalt XXXX . Es handelt sich um ihre bislang einzige Verurteilung in Österreich.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der Akten des Verwaltungsverfahrens und des Gerichtsakts des BVwG.

Die Feststellungen zur Identität der BF und zu ihren persönlichen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Feststellungen im Strafurteil vom 20.09.2019 sowie den Angaben der BF in ihrer Stellungnahme und ihrer Beschwerde.

Der derzeitige Bezug der Notstandshilfe der BF, ihre bisherigen selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeiten sowie der Bezug von mehrmaligen Leistungen des Arbeitsmarktservice im Bundesgebiet ergeben sich aus dem Sozialversicherungsdatenauszug, ihre zahlreichen Wohnsitzmeldungen aus dem Zentralen Melderegister. Dass die BF über eine Anmeldebescheinigung bis 21.03.2023 verfügt, geht aus dem Zentralen Fremdenregister hervor.

Die Feststellung zur Arbeitsfähigkeit und zum Gesundheitszustand der BF beruhen darauf, dass auch nach ihrer Inhaftierung keine Hinweise auf gesundheitliche Probleme vorliegen.

Die Feststellungen zu der von der BF in Österreich begangenen Straftat, zu ihrer Verurteilung und zu den Strafzumessungsgründen beruhen auf dem vorliegenden Strafurteil. Die Rechtskraft und Vollstreckung der Verurteilung werden durch das Strafregister belegt, in dem keine weiteren Verurteilungen der BF aufscheinen. Die Entlassung aus der Strafhaft geht aus der Vollzugsinformation hervor.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Die BF ist als Staatsangehöriger Rumäniens EWR-Bürgerin iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs. 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs. 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer besonders schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit (so etwa, wenn der EWR-Bürger zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verurteilt wurde), kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs. 3 FPG auch unbefristet erlassen werden.

Gemäß Art 28 Abs 3 lit a Freizügigkeitsrichtlinie (§ 2 Abs 4 Z 18 FPG) darf gegen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat hatten, eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Nach dem Erwägungsgrund 24 dieser Richtlinie sollte gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben, nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden.

Mit der Bestimmung des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG soll Art. 28 Abs 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt werden. Hierzu judizierte der EuGH bereits, dass hierauf gestützte Maßnahmen auf "außergewöhnliche Umstände" begrenzt sein sollten; es sei vorausgesetzt, dass die vom Betroffenen ausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen "besonders hohen Schweregrad" aufweise, was etwa bei bandenmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln der Fall sein könne (vgl. VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/02148 mit Verweis auf EuGH (Große Kammer) 23.11.2010, Tsakouridis, C-145/09, insbesondere Rn. 40, 41 und 49 ff; daran anknüpfend auch EuGH (Große Kammer) 22.5.2012, P.I., C-348/09, Rn. 19 und 20 sowie Rn. 28, wo überdies - im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch eines Kindes, der zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe geführt hatte - darauf hingewiesen wurde, dass es "besonders schwerwiegende(r) Merkmale" bedarf).

Der mit "Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate" betitelte § 51 NAG lautet:

"§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.

(2) Die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 bleibt dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er

1.       wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist;

2.       sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt;

3.       sich als Arbeitnehmer bei ordnungemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, oder

4.       eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.

(3) Der EWR-Bürger hat diese Umstände, wie auch den Wegfall der in Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen der Behörde unverzüglich, bekannt zu geben. Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, die näheren Bestimmungen zur Bestätigung gemäß Abs. 2 Z 2 und 3 mit Verordnung festzulegen.“

Der mit "Anmeldebescheinigung" betitelte § 53 NAG lautet:

„§ 53. (1) EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), haben, wenn sie sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten, dies binnen vier Monaten ab Einreise der Behörde anzuzeigen. Bei Vorliegen der Voraussetzungen (§§ 51 oder 52) ist von der Behörde auf Antrag eine Anmeldebescheinigung auszustellen.

(2) Zum Nachweis des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sind ein gültiger Personalausweis oder Reisepass sowie folgende Nachweise vorzulegen:

1.       nach § 51 Abs. 1 Z 1: eine Bestätigung des Arbeitgebers oder ein Nachweis der Selbständigkeit;

2.       nach § 51 Abs. 1 Z 2: Nachweise über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz;

3.       nach § 51 Abs. 1 Z 3: Nachweise über die Zulassung zu einer Schule oder Bildungseinrichtung und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz sowie eine Erklärung oder sonstige Nachweise über ausreichende Existenzmittel;

4.       nach § 52 Abs. 1 Z 1: ein urkundlicher Nachweis des Bestehens der Ehe oder eingetragenen Partnerschaft;

5.       nach § 52 Abs. 1 Z 2 und 3: ein urkundlicher Nachweis über das Bestehen einer familiären Beziehung sowie bei Kindern ab Vollendung des 21. Lebensjahres und Verwandten des EWR-Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie ein Nachweis über die tatsächliche Unterhaltsgewährung;

6.       nach § 52 Abs. 1 Z 4: ein Nachweis des Bestehens einer dauerhaften Beziehung mit dem EWR-Bürger;

7.       nach § 52 Abs. 1 Z 5: ein urkundlicher Nachweis einer zuständigen Behörde des Herkunftsstaates der Unterhaltsleistung des EWR-Bürgers oder des Lebens in häuslicher Gemeinschaft oder der Nachweis der schwerwiegenden gesundheitlichen Gründe, die die persönliche Pflege durch den EWR-Bürger zwingend erforderlich machen."

Gemäß § 53a Abs. 1 NAG erwerben EWR-Bürger, denen das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. Ihnen ist auf Antrag nach Überprüfung der Aufenthaltsdauer unverzüglich eine Bescheinigung ihres Daueraufenthaltes auszustellen.

Gemäß § 53a Abs. 2 Z 1 NAG wird die Kontinuität des Aufenthalts im Bundesgebiet wird nicht von Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr unterbrochen.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Die BF hält sich im gegenständlichen Fall seit 21.02.2007 im Bundesgebiet auf, wobei die Abwesenheiten der BF in den Jahren 2007, 2008, 2012, 2013, 2014, 2015 und 2016, die jeweils unter sechs Monaten gelegen sind, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des § 53a Abs 2 Z 1 FPG nicht unterbrechen.

Der Verwaltungsgerichtshof judiziert in ständiger Rechtsprechung, dass hinsichtlich Personen, die das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, nicht nur bei der Ausweisung, sondern auch bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab ("schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit"), der jenem in Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie entspricht, heranzuziehen ist (VwGH vom 24.10.2019, Ra 2019/21/0205 mwN).

Gemäß § 67 Abs. 1 Satz 5 leg.cit. ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

Da sich die BF insgesamt schon mehr als zehn Jahre kontinuierlich in Österreich aufhält und hier erwerbstätig war, ist der qualifizierte Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG (Art 28 Abs 3 lit a Freizügigkeitsrichtlinie) heranzuziehen.

Die Art und Schwere der begangenen strafbaren Handlungen zeigen zwar, dass es der BF jedenfalls zum Tatzeitpunkt an einer Verbundenheit mit den rechtlich geschützten Werten fehlte. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass das Strafgericht den Strafrahmen bei weitem nicht ausnützte und sich die BF im Rahmen ihrer strafgerichtlichen Verurteilung erstmals in Haft befand und dem Erstvollzug im Allgemeinen eine erhöhte spezialpräventive Wirkung zuzubilligen ist. Die Verurteilung erfolgte im September 2019 und hat sich die bis dahin strafgerichtlich unbescholtene 29jährige BF seitdem wohlverhalten.

Dem Aufenthalt der BF in Österreich mit einer strafrechtlichen Verurteilung im unteren Strafausmaß kommt nicht eine solche Bedeutung zu, dass schon deshalb das Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG angenommen werden könnte. Selbst der Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs 1 zweiter Satz FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") iVm § 66 Abs 1 letzter Satzteil FPG ("schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit") ist nicht erfüllt.

Das persönliche Verhalten der BF ist daher nicht geeignet, den qualifizierten Gefährdungsmaßstab einer „nachhaltigen und maßgeblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich“ zu verwirklichen.

Ihr Sohn und die beiden Brüder sowie eine Schwester leben ebenfalls im Bundesgebiet. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten zusammen und wird von diesem sowie ihrem Sohn derzeit finanziell unterstützt, weswegen von einem stabilen sozialen Umfeld auszugehen ist. Sie spricht ausreichend Deutsch, ist sozial integriert und pflegt einen Freundeskreis.

Da die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen die BF im Ergebnis nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in Stattgebung der Beschwerde aufzuheben. Dies bedingt auch die Gegenstandslosigkeit des der BF gewährten Durchsetzungsaufschubes.

Da der entscheidungswesentliche Sachverhalt somit nicht klärungsbedürftig ist, entfällt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG.

Zu Spruchteil B):

Die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose ist im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die Revision ist nicht zu zulassen, weil sich das BVwG an der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientieren konnte und keine qualifizierte Rechtsfrage iSd Art 133 Abs. 4 B-VG zu lösen hatte.


Schlagworte

Aufenthaltsverbot Behebung der Entscheidung Durchsetzungsaufschub EWR-Bürger Gegenstandslosigkeit strafrechtliche Verurteilung Unionsrecht Voraussetzungen VwGH Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G310.2225996.1.00

Im RIS seit

03.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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