TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/19 W248 2206254-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2020
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Entscheidungsdatum

19.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W248 2206254-1/18E

schriftliche Ausfertigung des am 20.07.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom 09.08.2018, Zl. 15-1099204502/ 152013025, in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.07.2020 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , geb. XXXX , eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.07.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1        Verfahrensgang:

1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ist afghanischer Staatsbürger und stellte am 16.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Polizeianhaltezentrum Linz am 16.12.2015, gab der Beschwerdeführer an, aus der Provinz Kabul zu stammen. Seine Muttersprache sei Dari. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem zu sein. Er sei ledig und habe keine Kinder. Er habe acht Jahre lang eine Grundschule besucht. Zuletzt habe er als Verkäufer gearbeitet. Der Vater des Beschwerdeführers habe die Schleppung organisiert und die Kosten in Höhe von etwa $ 4.000,- bezahlt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er in Afghanistan keine Zukunft gehabt hätte, zumal er nicht die Schule habe besuchen können. Es herrsche Krieg, sodass er um sein Leben fürchte.

3. Am 20.01.2016 ereignete sich in der Unterkunft des Beschwerdeführers ein Vorfall, im Zuge dessen der Beschwerdeführer aus der Einrichtung verwiesen wurde. Es handelte sich um einen Vorfall unter angeblichem Alkoholeinfluss mit mehreren Personen anderer Volksgruppen und „Bedrohung“ mit einem Messer. Im Zuge der Verlegung des Beschwerdeführers teilte der ältere Bruder des Beschwerdeführers namens XXXX , geboren am XXXX , mit, dass er eine Familienzusammenführung sowie einen Bundeslandwechsel seines Bruders nach Tirol wünsche. Am 12.02.2016 zog der Beschwerdeführer nach Tirol.

4. Am 20.01.2017, 03.02.2017, 11.02.2017, 16.02.2017, 01.04.2017, 28.06.2017, 02.07.2017 und 26.07.2017 wurden Abgängigkeitsmeldungen von Betreuern des Heimes in XXXX bei der Polizei zur Anzeige gebracht.

5. Am 16.11.2016 erstellte XXXX ein Altersgutachten. Darin stellte der Gutachter fest, dass sich das Alter des Beschwerdeführers auf das 14. Lebensjahr eingrenzen lasse. Das Gutachten stützte sich insbesondere auf ein fachexploratorisches Gespräch mit dem Betroffenen, auf eine psychodiagnostische Untersuchung und eine spontane Interaktionsbeobachtung des Betroffenen sowie auf das Aktenstudium. Eine körperliche Untersuchung, insbesondere eine Röntgenuntersuchung der Hand, eine CT-Untersuchung des Brustbeins/ Schlüsselbeingelenks oder eine zahnärztliche Untersuchung wurde offenbar nicht durchgeführt.

6. Am 19.09.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Der Beschwerdeführer gab an, gesund zu sein und keine psychischen oder physischen Probleme zu haben. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass einige Angaben in der Erstbefragung falsch protokolliert worden wären. Er führte berichtigend aus, dass sein Alter und die Altersangaben seiner Geschwister falsch wären. Er habe nur drei Jahre lang eine Grundschule besucht. Weiters stamme er nicht aus Kabul, sondern aus der Stadt Ghazni. Ebenfalls habe nicht sein Vater, sondern seine Mutter die Schleppung organisiert. Hinsichtlich des Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer aus, dass er diesen viel ausführlicher erzählt habe. Das Protokoll sei ihm zudem nicht rückübersetzt worden.

Der Beschwerdeführer gab nunmehr an, am XXXX geboren zu sein. Er führte aus, seine Mutter, seine zwei Brüder und seine drei Schwestern auf der Flucht verloren zu haben. Sein Vater habe in einer Kohlefabrik gearbeitet und sei eines Tages nicht mehr von der Arbeit nach Hause gekommen und sei seitdem verschwunden. Die Familie habe in Ghazni in einem kleinen Haus gewohnt und ein Grundstück besessen. Das Haus sei verkauft worden, um die Flucht finanzieren zu können.

Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass die Familie Schwierigkeiten mit den Taliban gehabt habe. Um welche Schwierigkeiten es sich konkret handelte, konnte der Beschwerdeführer nicht angeben. Die Taliban wären öfters zur Familie in das Wohnhaus gekommen. Der Beschwerdeführer schilderte, dass er einmal persönlich von zwei Taliban entführt und gefoltert worden wäre. Als er noch sehr jung gewesen sei, hätten die Taliban ihm die Augen verbunden und ihn zu einem Waldrand gebracht. Dort hätten sie dem Beschwerdeführer mit einem heißen Eisenspieß die Hände und den Unterarm verbrannt. Anschließend hätten die Taliban den Beschwerdeführer im nächsten Dorf aussteigen lassen. Am rechten Unterarm des Beschwerdeführers befindet sich eine kleine Narbe, die nach Angaben des Beschwerdeführers von diesem Vorfall herrührt. Seine Mutter habe den Kindern aus Angst verboten, in die Schule zu gehen. Die Mutter habe den Entschluss gefasst, Afghanistan zu verlassen. An der türkischen Grenze sei die Familie im Zuge einer Schießerei getrennt worden. Der Beschwerdeführer sei ins Gebirge geflüchtet und habe sich dort versteckt. Nach einer Woche sei er von seinem Schlepper gefunden worden. Dieser habe ihm mitgeteilt, dass sich sein Bruder in Österreich befinde und er den Beschwerdeführer aus diesem Grund nach Österreich bringen werde.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara in Afghanistan verfolgt zu werden.

Befragt zur Anzeige hinsichtlich des Verdachtes der absichtlichen schweren Körperverletzung, des Verstoßes gegen das Suchtmittelgesetz und der schweren Nötigung führte der Beschwerdeführer aus, dass es sich um einen Streit zwischen zwei Jugendlichen gehandelt habe und er sich lediglich verteidigt habe. Mit Drogen habe er nichts zu tun. Befragt zu den Abgängigkeitsmeldungen gab er an, bei Freunden übernachtet zu haben. Bis auf seinen Bruder habe er keine Angehörigen oder Freunde aus Afghanistan.

7. Mit Stellungnahme zur Einvernahme vom 19.09.2017 und zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 03.10.2017 verwies der Beschwerdeführer auf seine Minderjährigkeit, auf die allgemein schlechte Sicherheitslage in Ghazni sowie auf die Situation der Hazara. Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass Kabul aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der schlechten sozioökonomischen Situation nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Er stellte einen Antrag auf Änderung seines Geburtsdatums auf den XXXX , zumal das aktuelle Geburtsdatum, der XXXX , mit jenem seines Bruders XXXX ( XXXX ) in offensichtlichem Widerspruch stehe.

8. Am 15.10.2017, 30.11.2017 und 10.12.2017 wurden erneut Abgängigkeitsmeldungen von Betreuern des Heimes in XXXX bei der Polizei zur Anzeige gebracht.

9. Am 16.02.2018 wurde betreffend den Beschwerdeführer eine Verwaltungsübertretung gemäß § 81 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) (Ordnungsstörung) und § 82 Abs. 1 SPG (aggressives Verhalten) zur Anzeige gebracht. Gemäß der Anzeige vom 19.02.2018 der LPD Innsbruck habe es sich um einen Raufhandel gehandelt, bei welchem etwa 10-12 Personen beteiligt gewesen wären. Es sei niemand verletzt worden. Der Raufhandel habe sich teilweise auf die Fahrbahn verlagert, sodass der Fahrzeugverkehr behindert und dadurch die öffentliche Ordnung gestört worden wäre. Im Zuge der Amtshandlung habe sich der Beschwerdeführer gegenüber den Polizeibeamten aggressiv verhalten. Da der Beschwerdeführer trotz zweifacher Aufforderung, sein aggressives Verhalten einzustellen, sowie der Androhung der Festnahme in der strafbaren Handlung verharrt habe, sei er daraufhin festgenommen worden.

10. Am 27.02.2018 wurde dem BFA der Abschlussbericht der Polizeiinspektion XXXX vom 26.02.2018 übermittelt. Der Beschwerdeführer werde verdächtigt, am 19.12.2017 einem anderen Bewohner des Heimes im Zuge eines Streites ein Glas in das Gesicht geworfen und ihm mit der Faust in das Gesicht geschlagen zu haben. Dadurch habe der andere Bewohner am Kinn geblutet. Der Beschwerdeführer werde weiters verdächtigt, den selben Bewohner mit einem Küchenmesser gefährlich bedroht zu haben. Dabei habe er ihm das Messer an die Brust gehalten, wodurch der Bewohner in Furcht und Unruhe versetzt worden sei.

11. Mit Schreiben vom 30.04.2018 übermittelte das Landesgericht St. Pölten die gekürzte Urteilsausfertigung zu XXXX betreffend den Vorfall vom 20.01.2016. Da das Alter des Beschwerdeführers nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe festgestellt werden können bzw. nicht habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt bereits über 14 Jahre alt gewesen sei, sei der Staatsanwalt von der Anklage zurückgetreten. Der Beschwerdeführer wurde rechtskräftig gemäß § 259 Z 2 StPO freigesprochen.

12. Am 16.05.2018 wurde der Abschlussbericht der Polizeiinspektion Ötz vom 02.05.2018 übermittelt. Der Beschwerdeführer werde verdächtigt, am 22.03.2018 im Zuge einer Auseinandersetzung einen russischen Asylberechtigten mit einem einzelnen Stich, unter Verwendung einer verbotenen Waffe, nämlich eines Springmessers mit einer Klinge, ähnlich einem Kampfmesser, in die untere Bauchgegend gestochen zu haben und diesen dadurch schwer am Körper verletzt zu haben. Das Opfer habe dadurch eine 13cm tiefe Stichverletzung im linken Unterbauch mit Durchstich durch eine Dünndarmschlinge, eine Verletzung des Darmgekröses und Verlauf in den Hinterbauchraum erlitten. Das Verletzungsbild entspreche einer an sich schweren Körperverletzung. Die Art und Weise der Verletzungsbeibringung sei mit Lebensgefahr für das Opfer verbunden. Es sei eine landesweite Funkfahndung nach dem Beschwerdeführer veranlasst worden. Am 28.03.2018 sei der Beschwerdeführer in Wien festgenommen worden. Der Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck auf Verhängung der Untersuchungshaft sei abgelehnt worden.

13. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Das BFA stellte fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Einvernahme vor dem BFA minderjährig gewesen sei. Die Feststellung der Volljährigkeit zum Entscheidungszeitpunkt ergebe sich aus den Angaben des Beschwerdeführers betreffend sein Geburtsdatum am XXXX bei der Erstbefragung. Der Beschwerdeführer habe insbesondere am 23.12.2015 selbst bestätigt, 15 Jahre alt zu sein. Durch die zahlreichen Abgängigkeitsmeldungen und die Tatsache, dass seit dem 16.04.2018 keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet bestehe, habe der Beschwerdeführer gegen seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren verstoßen. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der mangelnden Plausibilität und Nachvollziehbarkeit seiner Angaben jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen worden sei. Der Beschwerdeführer habe in der Erstbefragung eine Bedrohung durch die Taliban nicht erwähnt, sondern lediglich die allgemeine schlechte Sicherheitslage in Afghanistan vorgebracht. Bei der Einvernahme vor dem BFA habe der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen gesteigert und zum ersten Mal vorgebracht, dass es Probleme mit den Taliban gegeben hätte. Plausible und detaillierte Antworten habe der Beschwerdeführer diesbezüglich nicht geben können. Die angebliche Entführung sei vage und allgemein geschildert worden. Auch unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Erstbefragung gebe es keine vernünftigen Gründe dafür, dass der Beschwerdeführer seine eigene Misshandlung nicht erwähnt habe. Die Unklarheiten würden sich auf zentrale Aspekte des Fluchtvorbringens beziehen. Die geschilderte schlepperunterstützte Reise nach Österreich, insbesondere, dass der Schlepper den Beschwerdeführer gesucht und im Gebirge gefunden habe, sei unglaubwürdig und widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung. Insgesamt könne die vorgebrachte Bedrohungssituation offensichtlich nicht den Tatsachen entsprechen, sodass davon ausgegangen werde, dass der Beschwerdeführer den Asylantrag nicht aus wohlbegründeter Furcht gestellt habe. Dem gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers sei somit die Glaubwürdigkeit abgesprochen worden.

Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in seine Herkunftsprovinz Ghazni zurückkehren könne. Nach den dem BFA bekannten Tatsachen sei die Sicherheitslage in den von Hazara kontrollierten Distrikten Ghaznis im landesweiten Vergleich als außergewöhnlich gut zu bezeichnen. Die Angaben des Beschwerdeführers, dass er keine familiären oder sonstigen Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan habe, seien unglaubwürdig, zumal die überwiegende Mehrheit der afghanischen Bevölkerung und sohin auch die Hazara in Großfamilien mit „Clan“-Struktur lebe. Dass die Mutter des Beschwerdeführers ein Einzelkind sei und sein Vater lediglich einen Bruder gehabt habe, sei daher unrealistisch. Daher gehe das BFA davon aus, dass der Beschwerdeführer über Verwandte in Afghanistan verfüge. Insbesondere stamme der Beschwerdeführer aus einem Kulturkreis, in welchem ein großer Wert auf familiären Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung im Familienkreis gelegt werde. Der Beschwerdeführer könne sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan durch seine psychische und physische Reife eine Lebensgrundlage selbstständig aufbauen. Für den Fall, dass sich die Sicherheitslage oder die Erreichbarkeit der Provinz Ghazni in einem Maße ändern sollte, welches eine Rückkehr als unzumutbar erscheinen ließe, könne dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in der Stadt Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative zugemutet werden. Ein schiitisches Religionsbekenntnis stelle zwar abstrakt einen risikoerhöhenden Faktor dar, jedoch sei keine persönliche Gefährdung anzunehmen, zumal der Beschwerdeführer selbst angegeben habe, nie die Moschee besucht zu haben. Es wäre ihm daher zweifellos möglich und zumutbar, auf den Besuch einer schiitischen Moschee zu verzichten, sodass der risikoerhöhende Faktor eliminiert wäre. Der Beschwerdeführer sei in Afghanistan geboren worden und daher mit den kulturellen Gepflogenheiten bestens vertraut. Er sei jung, gesund, arbeitsfähig und spreche eine der Landessprachen auf Muttersprachenniveau. Sonstige risikoerhöhende Merkmale seien nicht festgestellt worden.

Dieser Bescheid wurde am 13.08.2018 bei der Behörde hinterlegt und vom Beschwerdeführer am 24.08.2018 persönlich übernommen.

14. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 13.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.

15. Mit Schreiben vom 20.09.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis V. des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor.

Betreffend das Geburtsdatum des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, er habe wiederholt angegeben, dass sein Geburtsdatum falsch protokolliert worden wäre. Bereits vom Geburtsdatum des älteren Bruders ( XXXX ) könne aufgrund der zeitlichen Nähe abgeleitet werden, dass das Geburtsdatum des Beschwerdeführers falsch protokolliert worden wäre. Das BFA habe jedenfalls das tatsächliche Alter des Beschwerdeführers nicht hinreichend ermittelt. Der Beschwerdeführer verwies weiters auf das Strafverfahren zu Zl. XXXX , bei welchem aufgrund dreier verschiedener Altersgutachten nicht zweifelsfrei habe festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt am 20.01.2016 über 14 Jahre alt gewesen sei. Daraus ergebe sich rechnerisch, dass nicht von einem vor dem XXXX liegenden Geburtsdatum ausgegangen werden könne. Der Beschwerdeführer stellte erneut den Antrag auf Änderung des Geburtsdatums auf den XXXX . Weiters wurde das Fluchtvorbringen wiederholt und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen substantiiert und glaubhaft vorgebracht habe. Die Behörde hätte auf die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers Bedacht nehmen müssen. Dass sich ein Minderjähriger nicht detailliert an Vorfälle erinnern könne, die sich ereignet hätten, als er noch sehr klein gewesen sei, entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung und könne insbesondere nicht als Indiz für seine Unglaubwürdigkeit herangezogen werden. Die Behörde habe auch nicht die Niederschrift der Einvernahme des Bruders berücksichtigt. Dem Bruder sei mit Bescheid vom 06.03.2017 zur Zahl 15-1091817605/151593363 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden. Der Beschwerdeführer verwies auf aktuelle Länderberichte zur Situation in Afghanistan, insbesondere in der Provinz Ghazni, und führte aus, dass sich die Behörde unzureichend mit der aktuellen Situation in seiner Herkunftsprovinz auseinandergesetzt habe. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation ergebe sich, dass die Provinz Ghazni zu den am meisten umkämpften Provinzen zähle. Insbesondere weise die Provinz eine der höchsten Zahlen an verletzten und getöteten Zivilisten auf. Dem Beschwerdeführer wäre eine Neuansiedelung weder in Mazar-e Sharif oder Herat noch in Kabul als innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar. Insbesondere schließe UNHCR Kabul als interne Schutzalternative explizit aus. Der Beschwerdeführer befinde sich weiters im wehrfähigen Alter und weise daher ein erhöhtes Gefährdungspotential für eine Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Gruppierungen auf.

16. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 24.09.2018 mit Schreiben vom 20.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

17. Am 18.01.2019 wurde die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 22.05.2018 zu XXXX übermittelt. Der Beschwerdeführer werde angeklagt, dem XXXX eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) absichtlich zugefügt zu haben, indem er diesem durch einen Stich in den linken Unterbauch mit seinem Springmesser eine tiefe Stichverletzung mit Durchstich durch eine Dünndarmschlinge, eine Verletzung des Darmgekröses und Verlauf in den Hinterbauch zugefügt habe. Im Zuge eines Fußballspieles wären der Beschwerdeführer und das Opfer aufeinander getroffen. Es habe sich ein verbaler Streit entwickelt, sodass die anderen Mitspieler die beiden getrennt hätten. Im Anschluss an das Spiel hätten die Jugendlichen das angrenzende Jugendzentrum besucht. XXXX habe den Beschwerdeführer aufgefordert, mit ihm vor die Türe zu gehen. Dieser Aufforderung sei der Beschwerdeführer gefolgt. Nach gegenseitigen Beschimpfungen habe XXXX den Beschwerdeführer in einen Ellbogenwürgegriff genommen. Anschließend hätten sich beide wechselseitig Schläge versetzt. Nachdem XXXX dem Beschwerdeführer mehrmals mit dem Knie in dessen Gesicht gestoßen habe, habe der Beschwerdeführer plötzlich mit einem Messer zugestochen. Der Beschwerdeführer habe umgehend die Flucht ergriffen. Der Beschwerdeführer habe sich nicht geständig gezeigt. In rechtlicher Hinsicht werde ausgeführt, dass bei aktiver Beteiligung an einem Raufhandel in der Regel kein Notwehrrecht nach § 3 StGB bestehe, außer es handle sich um eine Eskalation durch inadäquate Waffen des Gegners oder bei bereits eingetretener Wehrlosigkeit des Täters.

18. Am 26.01.2019 wurde die Untersuchungshaft über den Beschwerdeführer vom Landesgericht Innsbruck, zu XXXX verhängt.

19. Mit Urteil vom 22.03.2019 des Landesgerichtes Innsbruck, XXXX , rechtskräftig seit 03.04.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB sowie wegen der Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB in Anwendung des § 28 StGB und des § 19 JGG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Gemäß § 43a Abs. 3 StGB wurde ein Teil der Freiheitsstrafe in der Dauer von 16 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Hingegen wurde der Beschwerdeführer hinsichtlich des Vorwurfes in der Anklageschrift, er habe, wenn auch nur fahrlässig, eine verbotene Waffe, nämlich ein Springmesser unbefugt besessen, freigesprochen.

Die Unbescholtenheit, das Alter unter 21 Jahren sowie, dass es sich teilweise um einen Versuch gehandelt habe, wären mildernd gewertet worden. Erschwerend wären die Zusammentreffen von einem Verbrechen und zwei Vergehen, die teilweise Begehung während eines anhängigen Verfahrens sowie die mehrfache Qualifikation bei absichtlich schwerer Körperverletzung gewertet worden.

18. Am 25.11.2019 wurde der Abschlussbericht des Stadtpolizeikommandos Innsbruck 20.11.2019 übermittelt. Der Beschwerdeführer werde mit drei anderen verdächtigt, am 18.06.2019 das Opfer XXXX tätlich angegriffen und ihm mit einem Messer eine Schnittwunde am linken Oberschenkel zugefügt und dadurch verletzt zu haben. Sämtliche Beschuldigte würden in Verdacht stehen, sich zur Straftat verabredet zu haben.

19. Am 20.07.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und die Möglichkeit hatte, diese umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Der Beschwerdeführer führte aus, über den Aufenthalt seiner Familienmitglieder, mit Ausnahme seines Bruders, welcher sich ebenfalls in Österreich befinde, keine Angaben machen zu können. Ob er Verwandte in Afghanistan habe, könne der Beschwerdeführer ebenfalls nicht angeben. Er führte weiters aus, in Afghanistan zwei Jahre lang eine Schule besucht zu haben.

Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der Beschwerdeführer aus, bei der Erstbefragung falsche Angaben gemacht zu haben, da er seine Familie auf der Flucht verloren habe. Er führte zum ersten Mal aus, dass die Familie von den Taliban Drohungen erhalten habe. Aufgrund dieser Drohungen habe die Familie die Flucht ergriffen. Der Beschwerdeführer gab ergänzend an, dass die Taliban zwei bis drei Mal in das Wohnhaus der Familie gekommen wären und die gesamte Familie mit dem Tod bedroht hätten, falls die Söhne nicht mitkommen würden. Befragt, warum der Beschwerdeführer nicht früher davon berichtet habe, führte er aus, die Bedrohungen durch die Taliban bereits in der Einvernahme vor dem BFA ausgeführt zu haben. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte der Beschwerdeführer, durch einen Bombenanschlag getötet zu werden.

Zu seiner persönlichen Situation führte der Beschwerdeführer aus, aktuell bei seinem Bruder zu wohnen. Er arbeite gelegentlich ehrenamtlich für den Kulturverein XXXX .

Mit dem Beschwerdeführer wurde in der mündlichen Verhandlung die wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund der Covid-19 Pandemie besprochen. Es wurden insbesondere die damit in Verbindung stehenden Themenbereiche, wie etwa der Lockdown in Afghanistan, die Schwierigkeit, eine Unterkunft bzw. eine Arbeit zu finden, die Erhöhung der Nahrungsmittelpreise, die ernsthafte Gefahr einer drohenden Hungersnot, die Situation von Rückkehrern sowie, dass derzeit ein Ende der Pandemie nicht vorhersehbar ist, erörtert.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung legte der Beschwerdeführer einen Zwischenbericht seiner Bewährungshelferin vom 10.07.2020 vor. Sie teilte mit, dass sich der Beschwerdeführer mittlerweile bemüht zeige, die ihm angebotene Unterstützung anzunehmen. Die Zusammenarbeit laufe gut, er sei zuverlässig und halte sich an sämtliche Vorgaben.

20. Nach Schluss der Verhandlung verkündete der erkennende Richter das Erkenntnis. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wurde abgewiesen. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wurde stattgegeben, und dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.07.2021 erteilt. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides wurden ersatzlos behoben.

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer weder im Asyl- noch im Beschwerdeverfahren eine drohende Verfolgung bei Rückkehr nach Afghanistan habe glaubhaft darlegen können. Ohne die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie wäre einem jungen, gesunden, arbeitsfähigen, alleinstehenden Mann wie dem Beschwerdeführer, welcher über Schulbildung verfügt, der mit den afghanischen Verhältnissen vertraut ist und eine in Afghanistan gebräuchliche Sprache spricht, eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar.

Aufgrund der aktuellen Länderberichte zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und der Berichte des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, sei dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Der Beschwerdeführer könne derzeit weder in Herat oder Mazar-e Sharif noch an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß fassen und sich dort eine Existenz aufbauen.

21. Am 23.07.2020 beantragte das BFA fristgerecht die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Stellungnahmen, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem und in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2018, letzte KI vom 29.06.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019), das Dossier der Staatendokumentation: Stammes- und Clanstruktur (2016), die ACCORD – Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018, die ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 08.02.2017 betreffend die Situation von Personen mit Tätowierungen, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN vom 16.03.2018: Tattoo-Studios in Kabul, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan - OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 60 (9 July 2020: People confirmed to have COVID-19: 33,908 [as of 2pm, 9 July. Source: Afghanistan Ministry of Public Health - MoPH], Deaths from COVID-19: 957, Samples tested: 78,217 Key concerns: Border crossing areas, in-country testing capacity, protective equipment for frontline workers, commodity prices, messaging and rumour management, international air services) werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wuchs in der Provinz Ghazni auf und lebte dort gemeinsam mit seinen Eltern, seinen zwei Brüdern und seinen drei Schwestern, bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan.

Der Beschwerdeführer hat mehrere Jahre lang eine Schule in Afghanistan besucht. Er hat in Afghanistan als Verkäufer gearbeitet. Wie lange der Beschwerdeführer gearbeitet hat, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, jung, gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist tätowiert.

Der Beschwerdeführer ist nicht unbescholten.

Mit Urteil vom 22.03.2019 des Landesgerichtes Innsbruck, XXXX , rechtskräftig seit 03.04.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB sowie wegen der Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB in Anwendung des § 28 StGB und des § 19 JGG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Gemäß § 43a Abs. 3 StGB wurde ein Teil der Freiheitsstrafe in der Dauer von 16 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Hingegen wurde der Beschwerdeführer hinsichtlich des Vorwurfes in der Anklageschrift, er habe, wenn auch nur fahrlässig, eine verbotene Waffe, nämlich ein Springmesser unbefugt besessen, freigesprochen.

Am 25.11.2019 wurde der Abschlussbericht des Stadtpolizeikommandos Innsbruck vom 20.11.2019 übermittelt. Der Beschwerdeführer werde mit drei anderen verdächtigt, am 18.06.2019 das Opfer XXXX tätlich angegriffen und ihm mit einem Messer eine Schnittwunde am linken Oberschenkel zugefügt und ihn dadurch verletzt zu haben. Sämtliche Beschuldigte würden in Verdacht stehen, sich zur Straftat verabredet zu haben. Ob dieses Ermittlungsverfahren bereits beendet ist, kann nicht festgestellt werden.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer jemals von Taliban persönlich bedroht wurde. Es konnte ebenfalls nicht festgestellt werden, ob die Familie des Beschwerdeführers Probleme mit den Taliban gehabt hatte.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen. Die Eltern des Beschwerdeführers fassten den Entschluss zur Ausreise aus Afghanistan und organisierten die Flucht des Beschwerdeführers.

Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer seine Familie auf der Flucht nach Österreich verloren hat. Sein älterer Bruder XXXX befindet sich als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan als Minderjähriger und reiste schlepperunterstützt nach Europa.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit viereinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 16.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig. Gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 hat er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ex lege verloren. Ihm kommt daher gemäß § 13 Abs. 3 AsylG 2005 faktischer Abschiebeschutz (§ 12 AsylG 2005) zu.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher keine Deutschkurse besucht und keine Deutschprüfung absolviert. Er legte eine Schulbesuchsbestätigung vom 07.12.2016 bis 07.07.2017 vor.

Der Beschwerdeführer wohnt seit Juni 2020 im gemeinsamen Haushalt mit seinem älteren Bruder und wird von diesem unterstützt.

Der Beschwerdeführer ist derzeit nicht in der Grundversorgung. Er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindlichen Arbeitszusagen.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich außer seinem Bruder, in dessen Haushalt er zumindest seit Juni 2020 lebt, weder über Verwandte noch sonstige enge soziale Bindungen, wie etwa eine Ehefrau oder Kinder. Er hat in Österreich keine Sorgepflichten.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Der Beschwerdeführer wäre auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara oder aufgrund seines schiitischen Glaubens einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch einen konkreten Akteur ausgesetzt.

Der Beschwerdeführer wäre bei einer Rückführung nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr, insbesondere durch Zwangsrekrutierung betroffen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.

Der Beschwerdeführer kann daher grundsätzlich nach Afghanistan zurückkehren.

In seiner Herkunftsprovinz Ghazni ist die allgemeine Sicherheitslage volatil. Es kann keine sichere Erreichbarkeit der Herkunftsprovinz gewährleistet werden. Es kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni, aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz, ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht, sodass eine Rückkehr in die Provinz Ghazni nicht möglich ist.

Die Stadt Kabul steht dem Beschwerdeführer nicht als innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Ohne die Berücksichtigung der COVID-19 Pandemie wäre die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zu bejahen, da es sich beim Beschwerdeführer um einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen, volljährigen Afghanen handelt, welcher über Schulbildung und Arbeitserfahrung verfügt.

Es würde dem Beschwerdeführer daher eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung stehen, da er, so wie sich die Umstände in den beiden Städten vor der COVID-19 Pandemie darstellten, wohl in der Lage gewesen wäre, sich trotz der schwierigen Situation grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimatprovinz bzw. in Afghanistan über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte verfügt. Es kann daher ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanzielle Unterstützung von seinen Eltern erhalten würde. Der Beschwerdeführer hat Verwandte im Iran. Ob zu diesen Verwandten Kontakt besteht, bzw. ob diese Verwandte den Beschwerdeführer finanziell unterstützen würden, kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer verfügt jedenfalls über kein soziales Netzwerk in Herat oder Mazar-e Sharif.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie die aktuelle Berichterstattung zur Covid-19 Pandemie in Afghanistan berücksichtigend, ist dem Beschwerdeführer derzeit – zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht - eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Durch die weltweite COVID-19-Pandemie sind exzeptionelle Umstände gegeben, die annehmen lassen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfindet und derzeit von ihm die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Es ist dem Beschwerdeführer derzeit aufgrund der Covid-19 Pandemie nicht möglich, in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, Kabul oder an einem anderen Ort in Afghanistan Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Die aktuellen COVID-19 Fallzahlen haben sich in den letzten Wochen massiv erhöht, wobei diesen aufgrund der geringen Testkapazitäten nur sehr eingeschränkte Aussagekraft beigemessen werden kann. Vielmehr ist von einer sehr hohen Dunkelziffer an sowohl mit dem Covid-19 Virus infizierten Personen als auch bereits daran Verstorbenen auszugehen.

Sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif wurde insbesondere seit Anfang 2020 ein erheblicher Anstieg von Kriminalität und sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet.

Die angeführten Städte verfügen zwar jeweils über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese zumindest nach Mazar-e Sharif weitgehend gefahrfrei erfolgen könnte, jedoch ist die Reisefreiheit bzw. Reisemöglichkeit durch die Covid-19 Pandemie auf unbestimmte Zeit stark eingeschränkt. Der Inlandsflugverkehr wurde noch nicht wiederaufgenommen. Obwohl die internationalen Verbindungen in eingeschränktem Maße von den Fluggesellschaften Turkish Airlines und Emirates sowie den afghanischen Ariana Airlines und Kam Air bedient werden, kann ein Trend zur Normalisierung der globalen Reisefreiheit derzeit nicht erkannt werden.

Zudem bestehen in ganz Afghanistan derzeit auch pandemiebedingte Einschränkungen und damit zusammenhängend kaum Möglichkeiten für einen Afghanen, der in Mazar-e Sharif oder Herat weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügt, in diesen Städten eine Arbeit und/oder eine Unterkunft zu finden. Beides ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert.

Die Situation ist insbesondere in Herat durch die zigtausenden Rückkehrer aus dem von der Covid-19 Pandemie besonders stark betroffenen Iran sehr angespannt. Die afghanischen Grenzen zum Iran wurden nach Ausbruch des Corona-Virus im Iran regelrecht von Rückkehrern überrannt. Seit 01.01.2020 sind 337.871 Personen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt.

Die Grundversorgung war vor der Covid-19 Pandemie in Afghanistan generell – und so auch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat – grundlegend gesichert. Aufgrund der erschwerten Importsituation und der höheren Nachfrage sind die Lebensmittelpreise um bis zu 19% gestiegen. Insbesondere steigen die Kosten der Grundnahrungsmittel um einen hohen, oft zweistelligen Prozentsatz, sodass die Grundversorgung der Bevölkerung in ganz Afghanistan generell nicht mehr gewährleistet ist.

Die Versorgungslage betreffend die Nahrungsmittelversorgung wird in Mazar-e Sharif und Herat mit Stufe 3 „Krise“ (Stufe 1 „Minimal“ – 5 „Hungersnot“) klassifiziert, wonach Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen bzw. nur geringfügig in der Lage sind, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken.

Die Wohnraum-, Arbeitsmarkt- und Versorgungslage in Herat und Mazar-e Sharif war bereits vor der Covid-19 Pandemie angespannt. Es war am Arbeitsmarkt zwar schwierig, da eine große Anzahl an Menschen aus verschiedensten Regionen insbesondere nach Mazar-e Sharif kommen, die größtenteils ebenfalls auf Arbeitssuche sind, aber insbesondere im Bereich der Gelegenheitsarbeiten ohne besondere Vorkenntnisse möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und auf diese Weise ein Einkommen auf dem dort üblichen Niveau zu erzielen.

Seit Beginn der COVID-19 Pandemie ist der Zugang zum Arbeitsmarkt in den beiden Städten sehr beschränkt, da es nur sehr begrenzt offizielle Arbeitsplätze gibt. Da die Aufnahmegemeinden hier mit den gleichen Problemen konfrontiert sind und für sich beanspruchen würden, vorrangig behandelt zu werden, ist es für manche Rückkehrende noch schwieriger, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten, sodass es fast unmöglich erscheint, ohne ein soziales Netzwerk, sowohl eine Unterkunft als auch eine Arbeit zu finden.

Das erkennende Gericht geht weiters davon aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan vermutlich nicht in der Lage wäre, eine Unterkunft zu finden, zumal die Teehäuser in den Städten geschlossen sind.

Der Beschwerdeführer ist zwar anpassungsfähig, es mangelt ihm jedoch an der notwendigen Arbeitserfahrung und Reife, in der noch schwierigeren Situation, welche durch die COVID-19 Pandemie verursacht wurde, sich in einer fremden Großstadt selbstständig eine Arbeit zu beschaffen und seine grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er besitzt keine lokalen Kenntnisse von Herat und/oder Mazar-e Sharif.

Auch wenn es sich bei einigen der aktuellen Einschränkungen, wie etwa dem Flugverkehr, um vorübergehende Einschränkungen handelt, kann auf Grundlage der aktuellen Länderinformationen prognostiziert werden, dass sich die wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere die noch angespanntere Arbeitsmarkt- und Versorgungslage, nicht nur vorübergehend als dramatisch darstellen werden. Das Gericht geht davon aus, dass es sich in Afghanistan nicht nur um eine vorübergehende Verschlechterung insbesondere der wirtschaftlichen Situation im zeitlichen Ausmaß von wenigen Monaten handelt.

Der Beschwerdeführer zählt nicht zur Risikogruppe der Covid-19 gefährdeten Personen (ältere Menschen bzw. Menschen mit Vorerkrankungen), sodass für den Beschwerdeführer Lebensgefahr zwar nicht ausgeschlossen werden kann, zumal auch junge und derzeit gesunde Menschen aufgrund einer Infektion mit dem Covid-19 Virus sterben könnten. Die gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr nach Afghanistan sind aber insbesondere hinsichtlich einer möglichen Mangelernährung aufgrund der nunmehr angespannten Situation und der steigenden Preise von Lebensmitteln nicht absehbar, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden kann, dass der Beschwerdeführer in keine besorgniserregende bzw. lebensbedrohliche Situation geraten würde.

In einer Zusammenschau der aus den spezifischen individuellen Merkmalen des Beschwerdeführers (Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, fehlendes soziales Netzwerk, fehlende lokale Kenntnisse, nur geringe Arbeitserfahrung, mangelnde Reife) resultierenden Erschwernissen unter Berücksichtigung der aufgrund der durch die Covid-19 Pandemie verursachten angespannten und nicht nur vorübergehend verschlechterten Arbeits-, Nahrungs- und Wohnsituation im Herkunftsstaat, ist im Fall des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass er in Mazar-e Sharif oder Herat Fuß fassen und ein Leben ohne unbillige Härte wird führen können. Es ist im Fall einer dortigen Ansiedelung sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung und Kleidung nicht befriedigen wird können und in eine ausweglose Situation gerät.

Ausschlussgründe liegen nicht vor.

2.5      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 29.06.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) und

-        Dossier der Staatendokumentation zur Stammes- und Clanstruktur (2016)

-        ACCORD–Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018,

-        ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,

-        EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie

-        die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 60 (9 July 2020)

-        diverse zitierte Quellen, welche ebenfalls im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan verwendet werden.

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).

Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).

Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).

Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).

Aktuell liegen weiterhin Berichte aus vielen Provinzen über Kampfhandlungen und Anschläge, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, vor. Nach Informationen der New York Times seien im Juli 2020 bisher mindestens 137 Sicherheitskräfte und 51 Zivilisten getötet worden. Beispielhaft seien folgende Ereignisse genannt: Bei einem Feuergefecht zwischen afghanischen und pakistanischen Soldaten wurden am 15./16.07.2020 in der östlichen Provinz Kunar (Distrikt Sarkano) mindestens 20 Zivilisten verletzt oder getötet. Nach afghanischer Darstellung hätten pakistanische Streitkräfte versucht, einen Checkpoint auf afghanischem Gebiet zu errichten. Auch in der Provinz Nangarhar sollen pakistanische Kräfte Checkpoints vor der Grenze zu Pakistan auf afghanischem Gebiet errichtet haben. Während des Besuchs von Präsident Ghani in Ghazni City (Südosten) wurden mehrere Raketen auf die Stadt abgefeuert, wobei vier Zivilisten verletzt wurden. Ein Vertreter des Provinzrats von Ghazni erklärte, dass sechs der neun Distrikte der Provinz belagert würden. Am 19.07.20 wurden in den Provinzen Zabul und Paktika zwei Polizeichefs von Distrikten bei Anschlägen getötet und mehrere Polizisten verletzt.

Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat in den letzten neun Monaten 17 Angriffe auf religiöse Einrichtungen dokumentiert, bei denen 170 Menschen getötet und 272 verletzt wurden. Hervorzuheben seien Angriffe auf zwei Moscheen in Kabul, auf Sikh Tempel in Kabul und Jalalabad, sowie Übergriffe auf Geistliche in Takhar, Parwan, Laghman, Paktia und Helmand. Einen Imam im Dorf Kohna Masjid (Distrikt Dahana-e-Ghori, Provinz Baghlan) sollen die Taliban gefoltert und getötet haben, weil er eine Beerdigungszeremonie für einen lokalen Polizeikommandanten abgehalten haben soll.

Die USA haben mit dem im Friedensabkommen mit den Taliban vereinbarten Truppenabzug begonnen und Soldaten aus den Provinzen Helmand, Uruzgan, Paktika und Laghman zurückgezogen. Gleichzeitig besteht die US-Regierung auf der Erfüllung weiterer Vereinbarungen, wie dem Abschluss der Freilassung von Gefangenen, der Reduzierung der Gewalt sowie der Aufnahme von innerafghanischen Gesprächen. Der Gefangenenaustausch verläuft schleppend. Nach Angaben der afghanischen Regierung seien bisher 4.400 der versprochenen 5.000 gefangenen Taliban freigelassen worden. Hinsichtlich der übrigen 600 Gefangenen verweigert die Regierung die Freilassung, da sie wegen schwerer Verbrechen inhaftiert seien, die Taliban sollten eine neue Liste vorlegen. Die Taliban haben inzwischen 600 von 1.000 afghanischen Sicherheitskräften freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).

2.5.2   Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:

Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.

Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.

Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).

2.5.3   Sicherheitslage im Jahr 2019:

Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:

Provinz

Anzahl Vorfälle

Anzahl Vorfälle mit Todesopfern

Anzahl Todesopfer

Badakhshan

200

95

798

Badghis

325

200

1863

Baghlan

395

184

1465

Balkh

615

269

1821

Bamyan

17

1

2

Daykundi

31

15

189

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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