Entscheidungsdatum
09.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W253 2145058-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Andreas Duensing, Rechtsanwalt in 1010 Wien gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.07.2019 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 09.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am nächsten Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er stamme aus dem Distrikt XXXX , aus dem Dorf XXXX und habe zwölf Jahre die Grundschule in XXXX besucht und eine dreijährige Ausbildung als Krankenpfleger absolviert. Er sei ledig und seine Kernfamilie bestehe aus seinen Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüdern. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, er habe im Rahmen seiner Ausbildung als Krankenpfleger, eine zweimonatige Praxis absolviert, wo er unter anderem Verbände angelegt und ähnliche Tätigkeiten ausgeübt habe. Er sei eines Tages auf seinem Heimweg von den Taliban verschleppt worden. Anschließend sei er von den Taliban in seinem Heimatdorf gefangen gehalten worden und habe verletzte Talibananhänger behandeln müssen. Die Taliban hätten gewollt, dass er sich ihnen anschließe und deren Verwundete weiterhin versorge. Nachdem er sechs Tage lange gefangen gehalten worden sei, habe er die Flucht mit einem anderen Gefangenen ergreifen können. Am nächsten Tag seien die Taliban zu seinen Eltern gekommen und hätten seinen Vater verletzt, wovon er telefonisch erfahren habe. Daraufhin sei er geflüchtet.
3. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 01.03.2016 legte der Beschwerdeführer seinen Studentenausweis, sein Diplom, sein Maturazeugnis und seine Tazkira vor und führte zusammenfassend aus, dass er in Kabul geboren worden sei und bis zu seiner Flucht im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX gewohnt habe. Er habe eine dreijährige Krankenpfleger-Ausbildung absolviert und im Anschluss eine zweimonatige verpflichtende Praxis absolviert. Seine Familie bestehe aus seinen Eltern, seinen zwei Schwestern und zwei Brüdern sowie aus vier Onkeln und zwei Tanten.
Befragt zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass er nach seiner Ausbildung (Lehre) und Absolvierung einer zweimonatigen Praxis als Krankenpfleger, Leute im Dorf behandelt habe. Er habe ihnen z.B. Spritzen oder Seren verabreicht und kleinere Wunden versorgt. Da die Dorfbewohner dort ungebildet seien, hätten sie ihn Doktor genannt.
Als er sich eines Tages nach einem Besuch in einer Moschee auf den Heimweg gemacht habe, sei er von zwei Taliban angehalten worden. Sie hätten ihm ein Messer an den Hals gehalten und hätten zu ihm gesagt, er solle sich nicht bewegen. Nachdem sie ihm seine Gegenstände weggenommen hätten, hätten sie ihn mit dem Auto zu einer Qala gebracht. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, die dort liegenden Verletzten zu versorgen, was er auch getan habe. Am sechsten Tag hätten die Taliban eine Information erhalten, seien daraufhin unruhig geworden und seien, bis auf einen Wächter und einen Jugendlichen, von dort weggefahren. Er habe die Flucht mit dem Jugendlichen ergreifen können und sei mittels Anhalter nach Kabul zurückgefahren. Danach habe er sich zwei Tage lang bei seiner Tante in XXXX aufgehalten.
Nachdem er seine Familie angerufen habe, habe er erfahren, dass die Taliban bei seiner Familie zu Hause gewesen seien und seinen Vater nach dem Aufenthalt des Beschwerdeführers gefragt hätten. Nachdem sein Vater den Taliban gesagt habe, dass er den Aufenthalt des Beschwerdeführers nicht kenne, hätten sie ihn mit einem Messer verletzt. Daraufhin seien seine Eltern zu ihm bzw. seiner Tante gekommen und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Die Eltern würden seitdem bei seiner Tante leben.
Auf den Vorhalt, dass es nach dem Erkenntnisstand der belangten Behörde keine Taliban in Kabul gebe, gab der Beschwerdeführer an, dass er selber wisse, dass es keine Taliban in Kabul gebe. Jedoch hätten die Taliban überall Spione.
Auf die Frage, ob dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe drohen würde, führte er aus, dass er ausschließlich von den Taliban bedroht werde. Von der afghanischen Regierung oder einer sonstigen bestimmten Gruppe werde er nicht verfolgt.
Zu seinen Bindungen in Österreich befragt, gab er an, dass er einen Deutschkurs besuche. Sonst mache er in Österreich nichts.
Auf die Frage, ob der Beschwerdeführer gesund sei, gab er an, dass er eine Lebererkrankung gehabt habe, diese jedoch in Österreich erfolgreich behandelt worden sei. Ansonsten sei er gesund.
4. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Der Begründung des gegenständlichen Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer vorgebrachte individuelle Bedrohung, auf Grund von Widersprüchen und Sinnwidrigkeiten bei den Einvernahmen, als nicht glaubwürdig erachtet habe. Der Beschwerdeführer könne auch nach Kabul zurückkehren.
5. Mit am 13.01.2017 eingelangtem Schreiben erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid und machte die Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend. Der Beschwerdeführer führte im Wesentlich aus, dass entgegen den Ausführungen der belangten Behörde sehr wohl eine wohlbegründete Furcht iSd Genfer Flüchtlingskonvention vorliege, welche letztlich auch fluchtauslösend gewesen sei. Es würden sich aus den beiden Einvernahmen keine Widersprüche hinsichtlich seiner Fluchtgründe ergeben. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde sei ihm Asyl zu gewähren, zumal er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, wegen einer von den Taliban unterstellten politischen und religiösen oppositionellen Einstellung, eine Verfolgung durch diese zu befürchten habe.
6. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 19.01.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
7. Mit E-Mail vom 12.02.2018 wurde vom Beschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt.
8. Mit Schreiben vom 10.05.2019 legte der VMÖ seine Vollmacht nieder.
9. Am 27.05.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des unvertretenen Beschwerdeführers, einer Dolmetscherin für die Sprache Dari und einem Vertreter der belangten Behörde statt, in welcher der Beschwerdeführer angab, in seiner Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein. Er wolle vor der anwesenden Dolmetscherin und der Schriftführerin über seinen Missbrauch nicht reden.
Auf die Frage des Richters, warum der Beschwerdeführer nicht schon in einem früheren Verfahrensstadium über seinen Missbrauch erzählte, gab er an, dass er danach bis dato nicht explizit gefragt worden sei. Er sei am Schulweg von mehreren Personen vergewaltigt worden. Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.
10. Mit Schreiben vom 27.06.2019 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Vollmachtsverhältnis des Beschwerdeführers für das Asylverfahren zu Mag. Andreas Duensing, Rechtsanwalt in 1010 Wien, angezeigt. Im Rahmen dieses Schreibens äußerte sich der Beschwerdeführer zusammengefasst wie folgt: Er habe mittlerweile sehr gut Deutsch in Österreich gelernt und könne mit den erworbenen Deutschkenntnissen sogar bei Veranstaltungen, bei denen anderen Fremden Deutsch gelehrt wird, helfend tätig sein. Er habe sich zudem sozial und kulturell sehr integriert und engagiert sowie eine Vielzahl von Freunden gewonnen. Die in der Äußerung erwähnten Integrationsschritte wurden durch eine Vielzahl von Schreiben und Bestätigungen untermauert.
11. Am 25.07.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine nicht öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, seinem Rechtsvertreter und einem Vertreter der belangten Behörde statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Im Rahmen dieser Verhandlung legte der Beschwerdeführer einen ambulanten Arztbrief des Universitätsklinikum St. Pölten vor, aus dem hervorgeht, dass bei dem Beschwerdeführer die angeborene Krankheit Crigler-Najjar-Typ II bestehe. Die Prognose der Krankheit sei relativ gut und könne rein symptomatisch therapiert werden. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung von Dr. med. Hosseini Zekra, Arzt für Allgemeinmedizin in 3107 St. Pölten/Viehofen vor, wonach beim Beschwerdeführer diffusus Effluvium, Laryngitis und Crigler Najar II diagnostiziert worden seien. Außerdem legte er eine Bestätigung für die Teilnahme am crosstalk „Einführung in die Erste Hilfe -Farsi/Dari & Deutsch“ des Roten Kreuzes als Bescheinigungsmittel vor.
Befragt zu seinen Fluchtgründen, führte der Beschwerdeführer zunächst aus, dass seine Aussagen bei den Einvernahmen der Wahrheit entsprechen würden. Er habe bei einer Rückkehr nach Afghanistan Angst um sein Leben. Er sei auch bereit Selbstmord zu begehen, bevor er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Er wolle zuvor jedoch für seine Rechte kämpfen. Er wolle mit den Taliban nicht zusammenarbeiten, sondern mit seinem erlernten Wissen der Gesellschaft einen Nutzen bringen. Wenn es in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif keine Taliban geben würde, könnte er dort arbeiten. Wenn er in einer der oben genannten Orte arbeiten würde, wäre er jedoch wieder schnell bekannt und die Taliban würden ihn finden und umbringen. Der Unterschied zu anderen Krankenpflegern sei, dass er bereits einmal von den Taliban mitgenommen worden sei.
Auf die Frage des Richters, ob er vermute, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan wieder vergewaltigt werden würde, führte er aus, dass man in Afghanistan, wenn man eine Arbeit haben möchte, entweder über Beziehungen oder Geld verfügen muss. Wenn man beides nicht habe, müsse man das tun was von einem verlangt werde um einen Job zu bekommen. Das letzte Mal sei er im Jahr 2015 vergewaltigt worden.
In Österreich habe er keine Verwandte. Er habe sich Deutsch selber in Österreich beigebracht und unterrichte im „Café Diversity“, wo er Flüchtlingen auf Dari lesen und schreiben und gemeinsam mit seiner Lehrerin auch Deutsch beibringe. Des Weiteren arbeite er im Kulturhaus als Sänger und mache einen Tanzkurs im Festspielhaus. Er spiele zudem auch Gitarre in einer Musikschule in St. Pölten. Er habe auch bereits viele Freundschaften in Österreich geschlossen. Er sei jetzt ohne Religionsbekenntnis, habe aber noch keine andere Religion angenommen und befinde sich diesbezüglich auf der Suche. Zu seiner Familie in Afghanistan habe er keinen Kontakt mehr.
Am Ende der Verhandlung wurde dem Vertreter des Beschwerdeführers die Möglichkeit eingeräumt, zu den vorliegenden Berichten und Feststellungen eine allfällige schriftliche Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen einzubringen.
12. Mit Schreiben vom 31.07.2019 (hg eingelangt am 07.08.2019) nahm der Beschwerdeführer zu den Feststellungen und Länderberichten Stellung. Dazu führte der Beschwerdeführer aus, dass die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul keine innerstaatliche Fluchtalternative darstellen würden und begründete dies mit den aktuellen Berichten des UNHCR. Zudem führte der Beschwerdeführer aus, dass er in Österreich vollkommen sozial integriert sei, sehr viele Freunde und Bekannte hätte, an verschiedensten kulturellen Einrichtungen und sozialen Institutionen teilnehme und eine Abschiebung mit einer Bedrohung seiner Grundrechte verbunden wäre.
13. Am 15.07.2020 wurde dem Beschwerdeführervertreter und der belangten Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019 mit zuletzt eingefügter Kurzinformation vom 29.06.2020 sowie der EASO Bericht Guidance Afghanistan von Juni 2019 übermittelt und ihnen eine Frist zur allfälligen Stellungnahme von einer Woche eingeräumt.
14. Mit Urkundenvorlage vom 18.08.2020 legte der Beschwerdeführer zwei Bestätigungen (ausgestellt von der Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich und vom Magistrat der Stadt St. Pölten) über den Austritt aus der islamischen Kirche vor und verwies auf die akute Gefährdungslage des Beschwerdeführers. Dem Beschwerdeführer drohe im Falle einer Rückkehr der Tod.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte am 09.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit eingelangtem Schreiben vom 13.01.2017 fristgerecht Beschwerde, woraufhin am 27.05.2019 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung und am 25.07.2019 eine nicht öffentliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters, eines Vertreters der belangten Behörde und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari stattfand, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie seinem Leben in Österreich bzw. seinen Integrationsbemühungen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.
1.2. Zum Beschwerdeführer:
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und wurde zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger. Seine Muttersprache ist Dari. Er gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und wuchs als sunnitischer Moslem auf. Er ist ledig und befindet sich im erwerbsfähigen Alter. Der Beschwerdeführer leidet an einer angeborenen Lebererkrankung (Crigler-Najjar Syndrom Typ II), welche rein symptomatisch therapiert werden kann. Ansonsten ist der Beschwerdeführer gesund.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Mit Stand 02.09.2020 scheinen in Afghanistan 38.196 Fälle und 1.406 Todesfälle auf. Die Feststellungen zu den derzeitigen Informationen betreffend COVID-19 sind amtsbekannt und der weltweiten Gesamtberichterstattung zu entnehmen. Die Feststellungen hinsichtlich der Anzahl der erkrankten und verstorbenen Personen in Afghanistan stammen von der John Hopkins University & Medicine (https://coronavirus.jhu.edu/region/afghanistan, abgerufen am 02.09.2020). Der
Der Beschwerdeführer leidet an keinen Atemwegserkrankungen oder anderen chronischen Krankheiten, wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs oder Fettleibigkeit. Der Beschwerdeführer gehört aufgrund seiner Gesundheit und seines jungen Alters daher nicht der Risikogruppe einer COVID-19 Erkrankung an.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Kabul, aus dem Distrikt XXXX , aus dem Dorf XXXX . Der Beschwerdeführer verfügt über eine zwölfjährige Schulausbildung inklusive Matura in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat anschließend eine dreijährige Krankenpfleger-Ausbildung absolviert und im Anschluss eine diesbezügliche zweimonatige Pflichtpraxis absolviert.
Seine Familie besteht aus seinen Eltern, drei Tanten und sieben Onkeln, deren Aufenthalt nicht festgestellt werden kann. Es kann nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer mit Familienmitgliedern, die sich in Afghanistan, im Iran oder in der Türkei befinden, in Kontakt steht. Es wird jedoch festgestellt, dass sich Verwandte, speziell die Tante mütterlicherseits des Beschwerdeführers, in Afghanistan befinden. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der Unterstützung durch Verwandte in Afghanistan rechnen kann.
Der Beschwerdeführer spricht gut Deutsch und arbeitet freiwillig im Magistrat im Rahmen des „Cafe Diversity“ und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer hat zwar Deutschkurse besucht, Zertifikate über bestandene Prüfungen kann er jedoch keine vorlegen.
Der Beschwerdeführer hat sich sozial und kulturell in Österreich gut integriert. Er besucht regelmäßig das Festspielhaus St. Pölten und ist im Kulturhaus Wagram als Sänger aufgetreten. Er hat auch bereits an verschiedensten kulturellen und sozialen Institutionen und am 15.06.2016 an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen.
Der Beschwerdeführer trat am 31.07.2019 aus der islamischen Glaubensgemeinschaft aus.
In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer individuellen konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von den Taliban bedroht worden ist oder durch seine Flucht eine oppositionelle Haltung gegenüber den Taliban hat erkennen lassen. Weiters kann eine Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban oder staatliche Institutionen in Afghanistan nicht festgestellt werden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer Afghanistan aufgrund einer glaubwürdigen ihn unmittelbar konkret betreffenden Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat.
Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt.
Ein Abfall vom islamischen Glauben kann nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer bezeichnet sich selbst als konfessionslos. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer areligiöse Interessen im Falle der Rückkehr nach Afghanistan (losgelöst vom hier gegenständlichen Verfahren) weiter nachkommen würde oder diese bzw. eine Konfessionslosigkeit nach außen zur Schau tragen würde. Es ist nicht davon auszugehen, dass die afghanischen Behörden und/oder das persönliche Umfeld des Beschwerdeführers von einer areligiösen Überzeugung oder eine Konfessionslosigkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan Kenntnis erlangen würde oder bereits erlangt hätten. Es würde ihm deswegen keine Verfolgung drohen. Der Beschwerdeführer hat sich noch keine andere Religion angenommen. Er hat sich auch noch nicht für eine Glaubensrichtung entschieden. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund der Tatsache, dass er keine religiösen Riten (Beten, Besuch der Moschee) ausübt, in Afghanistan bei einer Ansiedelung in einer Großstadt keine physische oder psychische Gewalt. Der Beschwerdeführer hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Afghanistan als Glaubensabfall gewertet werden würden. Dem Beschwerdeführer droht daher in Afghanistan aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Ausgehend von seinem Alter, seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Schulausbildung, seinem Bildungsstand, seinem Gesundheitszustand sowie den Möglichkeiten, die er durch die Unterstützung seiner Familie hat, ist das erkennende Gericht der Auffassung, dass der Beschwerdeführer im Stande ist, in Afghanistan, insbesondere in seiner Heimatprovinz Kabul, aber auch in Städten Herat und Mazar-e Sharif einer Beschäftigung nachzugehen und damit sich auch eine Existenz in Afghanistan aufbauen kann. Er ist jedenfalls - Arbeitswilligkeit vorausgesetzt - in der Lage für sich selbst auch in Afghanistan eine Situation zu gestalten, die ihm ein menschengerechtes Überleben in Afghanistan gewährleistet, ohne in eine existenzbedrohende Situation zu gelangen, zumal er auch mit einer finanziellen Unterstützung durch Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte rechnen kann. Die Wohnraum- und Versorgungslage ist zwar in diesen Städten sehr angespannt, bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in diesen Städten kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Durch die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Heimatstaat würde dieser - unter Beachtung der Lage im Herkunftsstaat und der individuellen Situation - nicht in den Rechten gemäß Artikel 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt oder würde diese für ihn als Zivilperson nicht eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen.
Dem Beschwerdeführer droht bei seiner Rückkehr in die Städte Kabul, Mazar-e-Sharif oder Herat kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Der Beschwerdeführer hat zunächst die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Mit dieser Unterstützung ist ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Städten Kabul, Mazar-e-Sharif oder Herat, möglich. Seine Existenz könnte er dort - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er wird in der Lage sein, in den Städten Herat, Mazar-e-Sharif oder Kabul eine einfache Unterkunft zu finden. Der Beschwerdeführer kann die Hauptstadt Kabul und die Städte Herat und Mazar-e-Sharif - über Kabul - von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Der Beschwerdeführer wird daher seinen Lebensunterhalt im gleichen Maße, wie die restliche Bevölkerung sichern können. Obwohl die Situation in Afghanistan sich nicht verbessert hat, hat die Gewalt in Afghanistan nicht ein solches Ausmaß erreicht, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erschiene, dass auch der Beschwerdeführer tatsächlich Opfer eines Gewaltaktes werden könnte.
Festgestellt wird, dass es dem Beschwerdeführer möglich sein wird, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative (hier: Kabul und die Städte Herat und/ oder Mazar-e-Sharif) nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hat, da dies allerdings nicht glaubhaft ist, wird die Familie bzw. die Tante, die ihn bis zu seiner Ausreise unterstützt hat, unterstützen können und wiederaufnehmen können. Es wird ihm in Afghanistan gelingen, den Kontakt wiederherzustellen und selbst wenn ihn die Familie nicht mehr unterstützen kann, wird er sein Leben alleine meistern können, zumal er sein gesamtes Leben im Dorf XXXX in der Provinz Kabul verbracht hat und in Kabul-Stadt während seiner Ausbildung wohnte. Es ist davon auszugehen, dass die Familie des Beschwerdeführers bzw. Verwandte nach wie vor im Heimatdorf des Beschwerdeführers leben.
Die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK oder für eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz liegen beim Beschwerdeführer nicht vor. Ein Überwiegen der persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich besteht ebenfalls nicht.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leidet. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers steht einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht entgegen. Er ist trotz der bestehenden, angeborenen Lebererkrankung arbeits- und erwerbsfähig.
1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:
Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 29.06.2020 (LIB),
2. UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
3. EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
1.5.4. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
1.5.5. Christen - Konvertiten:
Ausländische Christen und die wenigen Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (LIB, Kapitel 15.2).
Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum der Abtrünnigen konfiszieren und deren Erbrecht einschränken. Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. In den meisten Fällen versuchen die Behörden Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden. Missionierungen sind illegal. Die öffentliche Meinung stehe Christen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (LIB, Kapitel 15.2).
1.5.6. Apostaten (Abfall vom Islam):
Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).
1.5.7. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.5.8. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).
1.5.9. Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).
Taliban:
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)
Haqani-Netzwerk:
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel 2).
Islamischer Staat (IS/DaesH) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):
Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB, Kapitel 2).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel 2).
Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungszeile bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB, Kapitel 2).
1.5.10. Provinzen und Städte
1.5.10.1 Herkunftsprovinz Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul (49,6 %) am größten (LIB, Kapitel 20).
Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. Nach verschiedenen Quellen gibt es in Kabul ein oder zwei öffentliche psychiatrische Kliniken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.5.10.2. Mazar-e Sharif/ Herat Stadt
Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).
Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).