TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/18 W159 2196730-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.09.2020
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Entscheidungsdatum

18.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W159 2196730-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, 11.04.2018 Zl. XXXX Wien, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.06.2020 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III.    In Stattgabe der Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) auf Dauer unzulässig ist.

IV.      Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 58 Abs. 2 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung Plus“ erteilt.

V.       In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Pashtunen und sunnitischer Moslem, gelangte illegal ins österreichische Bundesgebiet und stellte am 17.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am gleichen Tag wurde er dazu vor der Landespolizeidirektion (LPD) Niederösterreich, XXXX einer niederschriftlichen Erstbefragung zugeführt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass seine Eltern in Afghanistan von Feinden getötet worden seien, als er ein Kleinkind gewesen sei. Er sei mit seinem Bruder nach Pakistan gereist. Sein Bruder sei weiter nach Österreich gereist. Er sei bei der Frau seines Bruders in Pakistan geblieben. Vor etwa vier Jahren habe sein Bruder seine Frau von Pakistan nach Österreich geholt. Der Beschwerdeführer hätte das Haus der Schwiegereltern seines Bruders verlassen müssen. Er habe in einer Moschee in XXXX bis vor etwa zwei Monaten gewohnt, denn diese sei von den pakistanischen Behörden geschlossen worden. Der Beschwerdeführer sei mit anderen Schülern nach XXXX – Pakistan gebracht worden. Dort hätten sie mit den Taliban zusammenarbeiten müssen. Er habe dies nicht gewollt, deswegen habe er Pakistan verlassen.

Am 29.12.2015 teilte der Verein Menschenrechte Österreich mit E-Mail mit, dass mit dem Beschwerdeführer ein Beratungsgespräch geführt worden sei. Seine Eltern und zwei seiner Brüder seien verstorben. Drei Schwestern würden in Afghanistan leben. Ein Bruder, XXXX lebe in Österreich ( XXXX ). Der Beschwerdeführer stehe seit zwei Tagen mit seinem Bruder in Kontakt. Der Beschwerdeführer habe keine Schule besucht.

Ein Gutachten der medizinischen Universität Wien, Zentrum für Anatomie und Zellbiologie, Abteilung Anatomie, Knochenlabor stellte am 10.06.2016 fest, dass das fiktive Geburtsdatum mit XXXX angenommen wurde. Deim Beschwerdeführer kann zum Zeitpunkt der Asylantragstellung von einem Mindestalter mit 16,87 Jahren ausgegangen werden. Mit 19.06.2016 stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren wurde.

Das Bezirksgericht Wien-Favoriten übertrug mit Beschluss vom 30.08.2016, XXXX , dem Kinder- und Jugendhilfeträger Wien, da keine anderen geeigneten Personen zur Verfügung standen, die Obsorge über den zu diesem Zeitpunkt minderjährigen Beschwerdeführer.

Am 23.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion (RD) Wien, niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu Protokoll, er sei XXXX geboren worden. Er habe sieben Jahre dort gelebt und danach zu seinem XXXX , Pakistan lebenden Bruder gezogen. Sein Bruder hätte bei seinem Schwiegervater gelebt. Er habe vier Jahre mit seinem Bruder zusammengelebt, denn seine Eltern seien verstorben gewesen. Sein Bruder würde nunmehr in Österreich und drei Schwestern in Afghanistan leben. Es würden benfalls fünf Cousins väterlicherseits in Österreich leben. Der Beschwerdeführer gab an, er würde bei seinem Bruder leben.

In Pakistan habe er die Koranschule besucht. In Österreich sei er weiter zur Schule gegangen.

Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischer Moslem.

Sein Vater sei politisch tätig gewesen, er sei Mitglied einer Partei gewesen. Da der Beschwerdeführer noch jung gewesen sei, könne er darüber keine Angaben machen.

Er sei traditionell in Pakistan verheiratet worden. Seine Lebensgefährtin, würde jetzt bei seinen Schwiegereltern in Afghanistan leben.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, sein Vater sei durch unbekannte Täter getötet worden. Seine Mutter sei eines natürlichen Todes gestorben. Er sei mit seinem Bruder nach Pakistan geflüchtet, als er etwa sieben Jahre alt gewesen sei. Da er nicht länger beim Schwiegervater seines Bruders hätte leben können, sei er in ein Waisenhaus - eine Koranschule gezogen. Die Imame hätten den Beschwerdeführer nach XXXX bringen lassen, um ihn als Talibankämpfer auszubilden. Er sei zum Schwiegervater seines Bruders geflüchtet, welcher ihn nach afghanischen Riten verehelicht habe. Die Lehrer der Koranschule hätten den Beschwerdeführer habhaft werden wollen, deswegen sei er geflüchtet.

Es wurde eine Schulbesuchsbestätigung, XXXX für den Zeitraum 04.09.2017 biis 02.02.2018, eine Bestätigung des Lehrgangs Übergansstufe am XXXX für Jugendliche ohne Kenntnisse der Unterrichtssprache Deutsch zur Absolvierung des Pflichtschulabschlusses vom 30.06.2017 sowie diverse Deutschkursbestätigungen in Vorlage gebracht. Der Beschwerdeführe hat die Prüfung ÖSD Zertifikat A2 am 31.05.2017 bestanden.

Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid vom 30.03.2018 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. §§ 3 Abs. 1 bzw. 8 Abs. 1 jeweils iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 leg. cit. nicht (Spruchpunkt III.), erließ gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG; Spruchpunkt IV.), stellte gem. § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und setzte gem. § 55 Abs. 1–3 die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend führte das BFA aus, es sei im gesamten Verfahren keine persönlch gegen die Person des Beschwerdeführers gerichtete Verfolgung für das Heimatland Afghanstan geltend gemacht worden. Da im gesamten Staatsgebiet Afghanistans aufgrund der Länderfeststellungen keine allgemeine Gefahr festgestellt werden hätte können, gehe das BFA davon aus, dass im Heimatstaat des Beschwerdeführers keine individuelle bzw. konkrete Bedrohung i.S. des Art. 2 bzw. 3 EMRK drohe.

Rechtlich begründend führte das BFA zu den Spruchpunkten I. und II. aus, dass der Beschwerdeführer keinen asylrelevanten Fluchtgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf sein Heimatland vorgebracht habe. Der Verwaltungsgerichshof verlange exzeptionelle Umstände für die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art 3 EMRK. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig, könne Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und eine in Kabul fehlende familiäre Anknüpfung führe nicht zu einer Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative bzw. zu einer realen Gefahr einer Verletzung im Sinne des Art. 3 EMRK. Zu Spruchpunkt III. hielt es rechtlich fest, § 57 AsylG 2005 sei nicht erfüllt. In der Begründung zu Spruchpunkt IV. kam das BFA nach Durchführung einer Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würden und daher die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sei. Zu Spruchpunkt V. führte das BFA mit näherer Begründung aus, dass sich keine Gründe nach § 50 Abs. 1–3 ergeben hätten, weshalb die Abschiebung zulässig sei. Spruchpunkt VI. begründete das BFA damit, dass keine Gründe hervorgekommen seien, wonach eine längere als die 14tägige Frist gesetzt hätte werden können.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer durch die XXXX innerhalb offener Frist gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin wird neben einer Wiederholung des Vorbringens und mangelhaften Länderinformationen vorgebracht, dass das BFA die Asylrelevanz bezüglich der Rekrutierung Minderjähriger feststellen hätte müssen. Die Beschwerde führt weiters aus, bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte das BFA erkennen müssen, dass eine Abschiebung eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 3 EMRK bedeuten würde, weshalb das BFA dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten hätte zuerkennen müssen. Zudem sei der Beschwerdeführer so gut in Österreich integriert, dass bei einer Abschiebung Art. 8 EMRK verletzt würde.

Die Beschwerde beantragt, dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten, in eventu, den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu, festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und daher festzustellen, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Aufenthaltsberechtigung (plus) vorlägen und daher ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen sei, in eventu, die oa. Spruchpunkte des Bescheides zu beheben und (gemeint: das Verfahren) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen sowie zur gebotenen Ergänzung des mangelhaft gebliebenen Ermittlungsverfahrens jedenfalls eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen.

Das Bundesverwaltungsgericht führte eine solche antragsgemäß am 30.06.2020 durch. Der Beschwerdeführer erschien mit seiner Rechtsvertretung: XXXX , das BFA hatte bereits in der Beschwerdevorlage die Abstandnahme von der Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung erklärt.

Der Beschwerdeführer hielt die Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht.

Der Beschwerdeführer gab an er sei afghansicher Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Pashtunen an und sei praktizierender sunnitischer Moslem. Er praktiziere das Gebet und würde fasten. Er stamme aus der Provinz XXXX und habe dort bis zu seinem siebenten Lebensjahr gelebt, nachher seien sein Bruder und er nach XXXX , Pakistan gezogen. Er sei nicht mehr nach Afghanistan zurückgekehrt.

In XXXX sei er vier Jahre zur Schule gegangen. In Europa habe er ein Jahr die HTL besucht, eine Übergangsstufe und dann die HAK.

Er habe drei Schwestern und einen Bruder. Sein Bruder würde hier in Österreich und seine drei Schwestern in Afghanistan leben, er habe jedoch keinen Kontakt zu seinen Schwestern.

„Richter: Vorhalt: Ihr XXXX hat bei seiner Einvernahme (AS 181f) nur einen Bruder namens XXXX erwähnt, aber nicht Sie.

Beschwerdeführer: Ich weiß es nicht, warum mein Bruder den Namen XXXX genannt hat. Ich kann es besser erklären: Er ist nach Österreich gekommen, dann hat er versucht seine Familie nachzuholen und auch mich. Ich war dreimal offiziell mit meinem Namen auf der Österreichischen Botschaft in XXXX .“

In Pakistan Pakistan habe er solange sein Bruder dort gewesen sei, bei seinen Bruder und bei der Familie des Schwiegervaters seines Bruders gelebt. Als sein Bruder seine Frau nachgeholt habe, sei er zur Schule XXXX , eine Koranschule mit Internat, geschickt worden.

„Richter: Vorhalt: Ihr Bruder XXXX habe bei seiner Einvernahme auch nichts von einem gemeinsamen Aufenthalt in Pakistan berichtet (AS 182ff).

Beschwerdeführer: Ich weiß nicht den Grund, warum er nicht darüber gesprochen hat. Ich bin 100-%-ig sicher, dass wir beide, gemeinsam nach Pakistan gegangen und auch dort gemeinsam gelebt haben.“

Nachgefragt gab er an, seine Eltern seien verstorben, als er etwa ein Jahr alt gewesen sei. Sein Bruder hätte ihm erzählt, dass Vater Mitglied der Partei Hizbi-e Islami gewesen sei. Der Beschwerdeführer wisse die genaueren Umstände nicht. Auf die Frage des Richters, ob er selbst Probleme mit staatlichen Organen, Behörden in Afghanistan, z. B. Polizei, Militär, Geheimdienst gehabt hätte antwortete er: „Ich war – wie gesagt – ein sehr kleines Kind, höchstens sieben Jahr alt. So zu sagen hatte ich mit denen nichts zu tun gehabt. Wenn wir als Familie mit dem Staat kein Problem gehabt hätten, wäre mein Vater nicht getötet worden. Wenn wir keine Probleme gehabt, hätte weder mein Bruder noch ich die Provinz verlassen müssen.“ Er gab nachgefragt an, soweit er es von seinem Bruder wissen würde, habe es Probleme mit der Partei Hizbi-e Islami gegeben, sein Vater sei Mitglied dieser Partei gewesen. In XXXX , Pakistan, hab er ein Problem in einer Koranschule gehabt, sie hätten beabsichtigt, dass er mit den Taliban zusammenarbeiten sollte. Der Beschwerdeführer erklärte: „Warum ich zur Koranschule gegangen bin, hat seinen kulturellen Grund gehabt. Als junger Mann konnte ich nicht mit der Frau meines Bruders im Haus leben. Ich war jung, sie war jung und die Kultur erlaubt es nicht, deswegen wurde vom Schwiegervater meines Bruders in diese Internatschule geschickt. Später, als der Vorschlag der Taliban gekommen ist, sind wir nach XXXX (Pakistan) geschickt worden, um dort weiterzulernen. Wir sind durch die Lehrer und Gelehrte der Koranschule nach XXXX geschickt worden, dort haben wir gelernt, wie man Explosionsmaterial zu Explosion bringt und wie man einen Selbstmordanschlag tätigt und wie man Waffen benutzt. Ca. zwei Monate waren wir in XXXX . Sobald ich in diesen zwei Monate die Situation wirklich bemerkt habe, wollte ich niemals dort bleiben, weil ich eingesehen habe, dass das gefährlich ist, ich wollte auch nicht mit den Taliban zusammenarbeiten. Ich wollte von XXXX zurück nach XXXX zurück und zwar zum Schwiegervater meines Bruders. Das war wieder ein kulturelles Problem, ich wollte auch nicht mit ihnen zusammenleben.“

Auf die Frage des Richters, ob er verheiratet worden sei, antwortete er, dass der Schwiegervater seines Bruders eine Familie gefunden, die ein junges Mädchen, eine Tochter gehabt hätte. Durch diese familiäre Beziehung hätten sei eine Niqa gemacht, damit sie zusammen sein hätten konnten. Der Beschwerdeführer sei 15 oder 16 Jahre alt gewesen, das Mädchen war schon 21.

„Richter: Vorhalt: Bei der Erstbefragung AS 19 haben Sie angegeben, dass Sie sich im Haus Ihres Schwiegervaters Ihres Bruders aufgehalten haben, beim BFA (AS 139), dass Sie im Haus des eigenen Schwiegervaters gelebt haben, was stimmt jetzt?

Beschwerdeführer: Man hat das falsch verstanden. In den Fall ist beides richtig, ich kann es gut erklären. Wie gesagt ich bin zum Schwiegervaters meines Bruders hingegangen, es war seine Idee mich mit der Tochter eines Bekannten zu verheiraten. Aus diesem Grund war ich nur einer Woche im Haus des Schwiegervaters meines Bruders. Nachgefragt, ich war höchstens zwei Monate dann im Haus meines eigenen Schwiegervaters.“

Der Beschwerdeführer hätte aus der Schule bzw. den Trainingszentrum der Taliban in XXXX nicht entfliehen müssen, sie hätten die Schule verlassen dürfen. Als er sich der Gefährlichkeit seiner Situation bewusst gewesen sei, habe er versucht jeden Cent zu sparen und zu behalten. Als sie eines Tages offiziell einen Tag frei gehabt hätten, sei er mit einem Bus zurück nach XXXX gefahren. Er habe sich bis zu seiner Ausreise, etwa drei Monate in XXXX aufgehalten. Der Schwiegervater seines Bruders hätte ihm ein Mädchen gesucht, damit der Beschwerdeführer bei diesem wohnen könne. Danach habe der Beschwerdeführer im Haus meines Schwiegervaters in XXXX gelebt.

Zum unmittelbaren Anlass seiner Ausreise erzählte der Beschwerdeführer: „Als ich zur nach XXXX gegangen haben, haben mich andere Schüler gesehen, haben die Lehrer und Gelehrter gefragt, was ich da mache, weil sie wussten, dass ich in XXXX war. Natürlich merkte ich es auch, dass die Taliban ein Problem damit hatten, dass ich noch einmal in XXXX war. Ich habe in meiner Zeit in XXXX einige Informationen gesammelt und die Taliban hatte Angst, dass ich diese weiterverbreite. Aus diesem Grund musste ich dann Pakistan verlassen.“

Nachgefragt gab der Beschwerdeführer weiters an er habe keine gesundheitlichen oder psychischen Probleme, er sei gesund, er versuche eine Lehrstelle zu bekommen. Zurzeit besuche er einen B2-Kurs. Er habe auch schon als Dolmetscher ehrenamtlich für XXXX gearbeitet.

Der Beschwerdeführer gab an, er habe mit seinem Bruder etwa acht Monate in einem Haushalt gelebt, danach sei er ausgezogen. Er besuche seinen Bruder hin und wieder, dieser unterstütze ihn aber finanziell nicht. Die Beschwerdeführervertretung ergänzte: „Es gab eine Pflegevollmacht, aber keine ausdrückliche Übertragung der gesetzlichen Vertretung an den Bruder, weil der Beschwerdeführer zwischenzeitig volljährig wurde.“ Der Beschwerdeführer gab des Weiteren an, es würden noch fünf Cousins und deren Familie in Österreich leben. Auch zu ihnen habe er Kontakt.

Auf die Frage des Richters, ob der Beschwerdeführer mit Frau XXXX zusammenleben würden, antwortete der Beschwerdeführer mit nein. Er würde sie seit Ende 2018/Anfang 2019 kennen. Er habe sie in der Handelsakademie XXXX kennengelernt. Sie seien Freunde. Frau XXXX sei in der Ukraine geboren und hätte den Asylstatus zugesprochen bekommen. Er wisse auch, dass sie Muslimin sei. Er habe nicht nach islamischen Recht geheiratet. Sie würden an verschiedenen Adressen wohnen. Sie würde nichts vom Beschwerdeführer benötigen. Sie habe schon vor dem Kind (mj. Sohn des Beschwerdeführers) gearbeitet und sie sei jetzt zu Hause und passe auf das Kind auf und werde von ihrer Familie unterstützt.

Auf die Frage des Richters, welche Ausbildungen der Beschwerdeführer in Österreich gemacht habe, anwortete er: „Ich habe in Österreich mit der HTL-Übergangsklasse begonnen, dann bin ich in die HAK gegangen. Ich war ein Semester in der HAK. Die HAK hat mich nicht gefallen, ich wollte eine Tourismusschule machen oder eine Lehre machen.“ Er habe die Deutschdiplome bis B1 gemacht und habe noch mehr Deutschkursbestätigungen. Den Pflichtschulabschluss habe er aufgrund der Übergangsklasse in der HTL nicht machen müssen. Er hätte sich nunmehr für die Tourismusschule in der Wassermanngasse angemeldet.

Er habe ein Praktikum in einem Studentenheim am XXXX gemacht und habe bei XXXX ehrenamtlich als Dolmetscher gearbeitet. Er habe auch eine Wohnung XXXX

Anmerkung: Der Beschwerdeführer beantwortet einen großen Teil der Fragen auf Deutsch.

In der am 15.07.2020 eingebrachten Stellungnahme bezog sich die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers auf die Entscheidung Nunez, Appl. Nr. 5557/09 des Europäischen Gerichtshofs vom 28.06.2011. Nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention sei bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes als vorrangiger Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz des Vorrangs des Kindeswohls sei zudem in Art. 1 BVG über die Recht von Kindern verankert, wonach „bei allen Kindern betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen (…) das Wohl des Kindes eine vorragige Erwägung sein“ müsse. Eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohls könne demnach zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art. 8 EMRK führen (vgl. auch dazu jüngst VfGH 11.06.2018, E 435/2018 mwN zur Rechtsprechung des EGMR und des VfGH). Die Entscheidung des VfGH vom 25.02.2013, U2241/12 sei auch für den gegenständlichen Fall einschlägig und die rechtlichen Ausführungen seien überwiegend übertragbar. Insbesondere halte der VfGH fest, dass der Kontakt zwische Vater und Sohn über moderne Kommunikationsmittel lebensfremd sei und körperliche Nähe sowie nonverbale Interaktion nicht ersetzen könne. Eine grundrechtskonforme Auslegung gelange unzweifelhaft zu dem Ergebnis, dass eine Außerlandesbringung des Beschwerdeführers mit einer Verletzung des Kindeswohls (VwGH vom 20.09.2017, RA 2017/19/0163, Rz 12 mwN), nicht zuletzt aufgrund der besonders nachteiligen Implikationen für die kindliche Entwicklung, einhergeht und damit eine unverhältnismäßige Maßnahme darstellen würde (vgl. zum Recht eines Vaters auf persönlichen Kontakt mit seinem Kind VwGH 16.05.2012, 2011/21/0277 sowie VwGH 17.04.2013, 2013/22/0088).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, der Volksgruppe der Pashtunen zugehörig und sunnitischen moslemischen Glaubens. Er ist am 17.12.2015 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Nicht festgestellt werden kann eine konkrete Verfolgung des Beschwerdeführers in Afghanistan. Allfälligen Behelligungen kann sich der Beschwerdeführer durch eine Niederlassung in anderen Landesteilen entziehen. Eine konkrete Verfolgung des Beschwerdeführers in Pakistan ist nicht relevant.

Der Beschwerdeführer hat eine sexuelle Beziehung zu einer ukrainischen Staatsbürgerin, die in Österreich den Asylstatus hat. Aus dieser Beziehung ist ein Sohn hervorgangen, der am XXXX in Wien geboren worden ist. Der Beschwerdeführer hat zu der Mutter und zu seinem Sohn so oft es geht Kontakt – am Wochenende und wenn möglich auch unter der Woche. Es kann damit – zumindest ansatzweise – von einem Familienleben gesprochen werden.

Der Bruder des Beschwerdeführers mit seiner Familie und die Cousins des Beschwerdeführers mit ihren Familien leben ebenfalls in Österreich. Auch mit seinen Verwandten steht der Beschwerdeführer regelmäßig in Kontakt.

In Österreich hat der Beschwerdeführer die Deutschprüfungen ÖSD auf B1 Niveau abgeschlossen. Er hat auch einen großn Teil der Befragung während der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.06.2020 in deutscher Sprache beantwortet. Ein vom Beschwerdeführer absolvierter Übergangslehrgang auf der Handelsakademie ersetzt einen allfälligen Pflichtschulabschluss. Der Beschwerdeführer möchte die Tourismusschule in XXXX absolvieren. Er ist für das Schuljahr 2020/21 angemeldet. Der Beschwerdeführer hat ehrenamtlich in einem Studentenheim XXXX geholfen und für die XXXX Übersetzungstätigkeiten gemacht. Mit dem Beschwerdeführer sind Gespräche in deutscher Sprache möglich.

Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu eventuellen afghanischen Verwandten (Schwestern) in seinem Herkunftsland.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende – in Afghanistan derzeit aber noch ohne Meldung großer Fallzahlen aufgetretene – COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört im Hinblick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan und der Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt (Ausschnitte aus den LIB):

1. Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Quellen:

?        AF - Asia Foundation (24.6.2020): Afghanistan’s Covid-19 Bargain, https://asiafoundation.org/2020/06/24/afghanistans-covid-19-bargain/, Zugriff 26.6.2020

?        AJ - al-Jazeera (8.6.2020): Afghan schools, universities to remain closed until September, https://www.aljazeera.com/news/2020/06/afghan-schools-universities-remain-closed-september-200608062711582.html, Zugriff 26.6.2020

?        AnA – Andolu Agency (24.6.2020): Afghanistan resumes international flights amid COVID-19, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/afghanistan-resumes-international-flights-amid-covid-19/1888176, Zugriff 26.6.2020

?        GN – Gulf News (9.6.2020): COVID-19: Emirates to resume regular passenger flights to Kabul from June 25, https://gulfnews.com/uae/covid-19-emirates-to-resume-regular-passenger-flights-to-kabul-from-june-25-1.71950323, Zugriff 26.6.2020

?        HRW - Human Rights Watch (18.6.2020): School Closures Hurt Even More in Afghanistan, https://www.hrw.org/news/2020/06/18/school-closures-hurt-even-more-afghanistan, Zugriff 26.6.2020

?        JHU -John Hopkins Universität (26.6.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 26.6.2020

?        RA KBL – Rechtsanwalt in Kabul (19.6.2020): Antwortschreiben per Mail, liegt bei der Staatendokumentation auf.

?        TN – Tolonews (15.6.2020): Govt Will Resume Bread Distribution: Palace, https://tolonews.com/afghanistan/govt-will-resume-bread-distribution-palace, Zugriff 29.6.2020

?        TN – Tolonews (15.6.2020): Poor Claim ‘Unjust’ Bread Distribution in Jawzjan, https://tolonews.com/afghanistan/poor-claim-%E2%80%98unjust%E2%80%99-bread-distribution-jawzjan, Zugriff 29.6.2020

?        UNHCR – (20.6.2020): Border Monitoring Update COVID-19 Response 14-20 June 2020, https://data2.unhcr.org/en/documents/download/77302, Zugriff 26.6.2020

?        WHO – World Health Organization (25.3.2020): Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report –65, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200325-sitrep-65-covid-19.pdf?sfvrsn=2b74edd8_2, Zugriff 16.4.2020

?        WP - Washington Post (25.6.2020): Coronavirus sweeps through Afghanistan’s security forces, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-security-forces-military/2020/06/24/0063c828-b4e2-11ea-9a1d-d3db1cbe07ce_story.html, Zugriff 26.6.2020

?        XI – Xinhua (23.6.2020): Pakistan receives 1st Afghan export since COVID-19 pandemic, http://www.xinhuanet.com/english/2020-06/23/c_139159139.htm, Zugriff 26.6.2020

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Quellen:

?        AnA – Andalous (21.4.2020): COVID-19 rips through fragile Afghan health system, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/covid-19-rips-through-fragile-afghan-health-system-/1812821, Zugriff 23.4.2020

?        ARZ KBL – Arzt in Kabul (7.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail; liegt bei der Staatendokumentation auf.

?        BBC (9.4.2020): Coronavirus: The porous borders where the virus cannot be controlled, https://www.bbc.com/news/world-asia-52210479, Zugriff 9.4.2020

?        DW – Deutsche Welle (22.4.2020): Coronavirus: Tough times ahead as Afghanistan struggles to manage pandemic, https://www.dw.com/en/coronavirus-tough-times-ahead-as-afghanistan-struggles-to-manage-pandemic/a-53207173, Zugriff 23.4.2020

?        IOM AUT – International Organization for Migration in Austria (27.3.2020): Antwortschreiben per E-Mail.

?        IOM KBL – International Organization for Migration Kabul Chapter (13.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail.

?        IOM – International Organization for Migration (11.5.2020): Return of Undocumented Afghans - Weekly Situation Report (03-09 May 2020), https://afghanistan.iom.int/sites/default/files/Reports/ iom_afghanistan-return_of_undocumented afghans-_situation_report_03-09_may_2020.pdf, Zugriff 13.5.2020

?        NYT – New York Times (22.4.2020): Afghanistan’s Next War, https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/22/magazine/afghanistan-coronavirus.html?search ResultPosition=3, Zugriff 24.4.2020

?        NZZ – Neue Züricher Zeitung (7.4.2020): Die Taliban, dein Freund und Helfer, https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-taliban-betreiben-corona-praevention-ld.1550115, Zugriff 9.4.2020

?        TG – The Guardian (1.4.2020): 'No profit, no food': lockdown in Kabul prompts hunger fears, https://www.theguardian.com/global-development/2020/apr/01/no-profit-no-food-lockdown-in-kabul-prompts-hunger-fears, Zugriff 2.4.2020

?        TG – The Guardian (1.4.2020a): Afghanistan braces for coronavirus surge as migrants pour back from Iran, https://www.theguardian.com/global-development/2020/apr/01/afghanistan-braces-for-coronavirus-surge-as-migrants-pour-back-from-iran, Zugriff 2.4.2020

?        TN – Tolonews (9.4.2020): 40 New COVID-19 Cases in Afghanistan, Total 484, https://tolonews.com/health/40-new-covid-19-cases-afghanistan-total-484, Zugriff 9.4.2020

?        TN – Tolonews (9.4.2020a): Andarabi: All Kabul Roads Will be Blocked, https://tolonews.com/afghanistan/andarabi-all-kabul-roads-will-be-blocked, Zugriff 9.4.2020

?        TN – Tolonews (8.4.2020): Only '300' Ventilators in Afghanistan to Treat COVID-19: MoPH, https://tolonews.com/index.php/afghanistan/only-300-ventilators-afghanistan-treat-covid-19-moph, Zugriff 9.4.2020

?        TN – Tolonews (8.4.2020a): Kabul Clinic Shut Down After Doctor Dies from COVID-19, https://tolonews.com/index.php/health/amiri-medical-complex%E2%80%99s-activities-suspended-health-ministry, Zugriff 9.4.2020

?        TN – Tolonews (7.4.2020): Number of COVID-19 Cases in Afghanistan: 367, https://tolonews.com/health/number-covid-19-cases-afghanistan-367, Zugriff 8.4.2020

?        TN – Tolonews (7.4.2020a): Coronavirus Testing Lab Opens in Kandahar: Officials, https://tolonews.com/health/coronavirus-testing-lab-opens-kandahar-officials, Zugriff 8.4.2020

?        TN – Tolonews (7.4.2020b): 41 Health Workers Test Positive for Coronavirus in Herat, https://tolonews.com/afghanistan/41-health-workers-test-positive-coronavirus-herat, Zugriff 8.4.2020

?        UD – Undark (2.4.2020): With Taliban Help, Afghanistan Girds for a Virus, https://undark.org/2020/04/02/afghanistan-covid-19/, Zugriff 8.4.2020

?        WHO MIT – Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Mazar-e Sharif (10.5.2020): Antwortschreiben per E-Mail; liegt bei der Staatendokumentation auf.

?        WP – Washington Post (20.4.2020): More than a dozen staff members in Afghanistan’s presidential palace test positive for coronavirus, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-presidential-palace/2020/04/20/5836a856-8308-11ea-81a3-9690c9881111_story.html, Zugriff 24.4

2. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (2.9.2019): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2015806/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juli_2019%29%2C_02.09.2019.pdf, Zugriff 11.9.2019

?        AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (15.4.2019): Afghanistan: Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/-/204718, Zugriff 7.6.2019

?        AAN – Afghanistan Analysts Network (17.5.2019): The Results of Afghanistan’s 2018 Parliamentary Elections: A new, but incomplete Wolesi Jirga, https://www.afghanistan-analysts.org/the-results-of-afghanistans-2018-parliamentary-elections-a-new-but-incomplete-wolesi-jirga/, Zugriff 7.6.2019

?        AAN – Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan‘s Paradoxical Political Party System: A new AAN report, https://www.afghanistan-analysts.org/publication/aan-papers/outside-inside-afghanistans-paradoxical-political-party-system-2001-16/, Zugriff 11.6.2019

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?        AJ – Al-Jazeera (7.5.2020): US Afghan envoy to meet Taliban in Qatar in new efforts for peace, https://www.aljazeera.com/news/2020/05/afghan-envoy-meet-taliban-qatar-efforts-peace-200507044349083.html, Zugriff 12.5.2020

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?        CIA – Central Intelligence Agency (24.5.2019): The World Factbook – Afghanistan, htt

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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