Entscheidungsdatum
30.09.2020Norm
BFA-VG §9 Abs3Spruch
W237 2233583-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Martin WERNER über
die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt IV. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2020, Zl. 1265193400/200470794:
A)
Der Bescheid wird im angefochtenen Umfang aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Mit Bescheid vom 29.06.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des minderjährigen Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.) und erklärte gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung für vorübergehend unzulässig (Spruchpunkt IV.).
2. Am 24.07.2020 erhob der Beschwerdeführer über seinen zur Vertretung im weiteren Verfahren bevollmächtigten Rechtsberater gegen Spruchpunkt IV. dieses Bescheids Beschwerde.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte den Beschwerdeschriftsatz samt Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 31.07.2020 vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, der am XXXX in Wien geboren wurde. Seine Mutter ist ebenso russische Staatsangehörige und stellte für sich und die drei ebenfalls minderjährigen Geschwister des Beschwerdeführers im Oktober 2017 Anträge auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2020 wurden diese Anträge rechtskräftig abgewiesen und die Rückkehrentscheidungen jeweils für „bis zum 01.08.2020“ vorübergehend unzulässig erklärt; das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl setzte seither keine Schritte zur Erlassung von Rückkehrentscheidungen. Dem Vater des Beschwerdeführers kommt eine Aufenthaltsberechtigung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zu.
Spätestens am 03.06.2020 stellte die Mutter des Beschwerdeführers für diesen als seine gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz und legte in diesem Zusammenhang eine Kopie seiner Geburtsurkunde sowie einen Auszug aus dem Zentralen Melderegister vor. Ohne eine Einvernahme mit der Mutter oder dem Vater oder einer sonst dazu bevollmächtigten Person durchzuführen, erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in weiterer Folge den unter Pkt. I. genannten Bescheid.
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen ergeben sich zur Gänze aus dem vorgelegten Verwaltungsakt und sind unbestritten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Der angefochtene Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 15.07.2020 zugestellt. Die am 24.07.2020 per E-Mail an die belangte Behörde übermittelte Beschwerde ist somit gemäß § 7 Abs. 4 erster Satz VwGVG rechtzeitig.
Zu A)
3.1. Nach der mittlerweile ständigen, vom Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, ausgehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG stellt die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits wiederholt hervorgehoben, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. zum Ganzen VwGH 26.06.2019, Ra 2018/11/0092, mwN).
3.2. Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde zur verfahrensgegenständlichen Frage der Erlassung einer Rückkehrentscheidung keinerlei Ermittlungen getätigt:
Nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz wurde der hinsichtlich seines Spruchpunkts IV. angefochtene Bescheid erlassen, ohne zumindest den Vater oder die Mutter des Beschwerdeführers (als dessen gesetzliche Vertreter) einmal einzuvernehmen und zum für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu befragen. Dies wäre bereits in Hinblick auf die – mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsene – Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz im Lichte des § 19 Abs. 2 AsylG 2005 zwingend erforderlich gewesen, erweist sich aber gerade im vorliegenden Fall auch betreffend den Abspruch über eine Rückkehrentscheidung als unabdingbar: Der Vater des Beschwerdeführers ist nämlich zum dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt, weshalb eine Rückkehrentscheidung – auch wenn sie für vorübergehend unzulässig erklärt wird – jedenfalls einen starken Eingriff in das Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Vater im Sinne des Art. 8 EMRK bedeutet. Eine tragfähige Interessenabwägung setzt eine Befragung des Vaters (oder zumindest der Mutter) des Beschwerdeführers zu Art und Ausmaß des gemeinsamen Familienlebens mit dem Vater voraus; dies ist auch im Lichte des bei einer Rückkehrentscheidung zwingend zu berücksichtigenden Kindeswohls des Beschwerdeführers geboten.
3.3. Die Behörde hat damit jeglichen Ermittlungsschritt unterlassen, weshalb die Entscheidung (auch) in ihrem angefochtenen Spruchpunkt betreffend die Rückkehrentscheidung unter einem gravierenden Ermittlungsmangel leidet.
Die Feststellung des maßgebenden Sachverhalts durch das Bundesverwaltungsgericht ist nicht im überwiegenden Interesse der Raschheit gelegen, zumal nicht ersichtlich ist, inwieweit das gerichtliche Verfahren einer persönlichen Befragung des Vaters und/oder der Mutter des Beschwerdeführers schneller als das verwaltungsbehördliche abliefe; ebenso ist insofern keine besondere Dringlichkeit der Rechtssache gegeben, als die den Beschwerdeführer betreffende Rückkehrentscheidung – wie jene seiner Mutter und seiner Geschwister – für vorübergehend unzulässig erklärt wurde und bislang keine weiteren Schritte zur Erlassung von Rückkehrentscheidungen gegenüber der Mutter und der Geschwister des Beschwerdeführers gesetzt wurden. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, dass die Führung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. VwGH 21.11.2019, Ra 2018/10/0090).
3.4. Der angefochtene Spruchpunkt IV. des Bescheids der belangten Behörde vom 29.06.2020 ist sohin gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Rechtssache zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Erlassung eines neuen Bescheids ergeht in Entsprechung der gefestigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung RückkehrentscheidungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W237.2233583.1.00Im RIS seit
03.12.2020Zuletzt aktualisiert am
03.12.2020