Entscheidungsdatum
08.10.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W122 22087601-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gregor ERNSTBRUNNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA: AFGHANISTAN, vertreten durch Dr. Martha LAUFER, p.A. Verein Helping Hands Taubstummengasse 7, 1040 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.07.2020, zu Recht:
A) I. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan erteilt.
II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 15.07.2021 erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
I.1. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 05.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, gestellt.
2. Am 25.10.2015 fand die Erstbefragung des BF statt. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er mit seiner Familie im Iran gelebt habe und sein Vater nach Syrien in den Krieg gezogen sei, weil man ihm danach Dokumente versprochen hätte. Die iranischen Behörden hätten dies jetzt auch mit dem BF und seinen beiden Onkeln vorgehabt. Aus diesem Grund habe er zusammen mit seiner Großmutter und seinen beiden Onkeln den Iran verlassen und sei zusammen mit diesen nach Österreich gegangen.
3. In weiterer Folge wurde der BF am 08.08.2018 vor dem BFA im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen. Zu Beginn legte der BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Seine Familie würde, abgesehen von seinem nach Syrien geschickten Vater, nach wie vor im Iran leben. In Österreich seien seine Großmutter und zwei Onkel mütterlicherseits aufhältig. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen und wisse auch nichts davon, dass er Verwandte in Afghanistan haben würde. Er sei ein afghanischer Staatsangehöriger, der von Geburt an im Iran aufgewachsen sei. Im Iran habe er sich bis zu seiner Reise nach Österreich aufgehalten. Dort sei er fünf Jahre in die Schule gegangen und danach Hilfsarbeiter gewesen. Er sei Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung, aber dies sei im Iran nicht von Bedeutung gewesen und in Afghanistan sei er noch nie gewesen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Im Iran habe er keine Dokumente gehabt. Es gab Schwierigkeiten in Form von Belästigungen sowie, dass man nicht mit Iranern in Schule habe gehen können und in Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan gelebt habe. Dies seien seine Fluchtgründe. In Afghanistan gebe es keine Sicherheit und Hazara würden benachteiligt werden. Er habe dort keine Familienangehörige, kenne die Kultur nicht und spreche keine Landessprache. Auf Nachfrage führte der BF an, dass er mit seiner Großmutter Hazaragi spreche. Zu seiner Familie im Iran habe er rund alle 14 Tage Kontakt.
4. Mit Beschluss eines Bezirksgerichts wurde der Kinder- und Jugendhilfeträger Magistrat der Stadt Wien MA 11 mit der Obsorge für den damals minderjährigen BF betraut.
5. Mit Schriftsatz vom 22.08.2018 übermittelte der gesetzliche Vertreter, vertreten durch die Caritas der Erzdiözese Wien, eine Stellungnahme betreffend die Länderfeststellungen zu Afghanistan.
6. Das BFA hat mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid vom XXXX den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde ausgeführt, dass er mit den afghanischen Traditionen und Gepflogenheiten vertraut sei, weil er im Iran unter Afghanen gelebt habe. Eine asylrechtlich relevante Verfolgung sei nicht gegben, weil sich seine Fluchtgeschichte ausschließlich auf Vorfälle im Iran bezogen habe und er in Afghanistan keine Verfolgung wegen seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu befürchten hätte. Da der BF kurz vor der Volljährigkeit stehen würde, stünde ihm eine zumutbare Rückkehrmöglichkeit sowohl in eine afghanische Großstadt, als auch in die Herkunftsprovinz seiner Familie, Daikundi, offen.
7. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom XXXX ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
8. Gegen den oben genannten Bescheid des BFA richtet sich die beim BFA fristgerecht eingebrachte und mit 25.10.2018 datierte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG), welcher im Wesentlichen wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit bekämpft wurde. Insbesondere hätten seine Volksgruppenzugehörigkeit und seine Religionszugehörigkeit in Bezug auf die Asylrelevanz tiefergehend begründet werden müssen. Ebenso wurde bemängelt, dass die Minderjährigkeit beim BF nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Des Weiteren sei nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass eine Neuansiedlung junger Afghanen, die nie in Afghanistan gelebt hätten und denen kein soziales Netzwerk zur Verfügung stehen würde, aufgrund der vorherrschende Sicherheitslage nicht zumutbar sei und dies daher zur Gewährung von subsidiärem Schutz hätte führen müssen.
9. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 30.10.2018 vom BFA vorgelegt.
10. Am 09.07.2020 erstattete der BF in einem vorbereitenden Schriftsatz ein weiteres Fluchtvorbringen, in welchem er ausführte, dass ihm aufgrund eines Familienkonfliktes Blutrache drohen würde. Dieser Konflikt sei auch dafür ausschlaggebend gewesen, dass seine miteingereisten Verwandten, seine Großmutter und zwei Onkel, in Österreich Asyl gewährt worden sei. Aufgrund seines Aufwachsens im Iran und seiner Minderjährigkeit sei dieser Konflikt für ihn bis dato nicht von Bedeutung gewesen. Mittlerweile sei er sich, aufgrund der erreichten Volljährigkeit und der Zugehörigkeit zur Familie seines Großvaters, der Tragweite dieses Konfliktes bewusst und fürchte ebenfalls, dass er zur Rechenschaft gezogen werde. Im Übrigen wurde noch angeführt, dass auf den BF zahlreiche UNHCR-Risikoprofile zutreffen würden und ihm, in Ermangelung eines sozialen Netzwerks in Afghanistan, aufgrund seiner jahrelangen Abwesenheit jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren sei.
11. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 15.07.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Beisein seiner rechtsfreundlichen Vertreterin persönlich teilnahm. Ein Vertreter der belangten Behörde ist unentschuldigt nicht erschienen.
Zu Beginn der Verhandlung legte der BF eine iransiche Scheidungsurkunde seine Eltern vor und es wurde der asylberechtigte Onkel des BF befragt. Er habe Asyl bekommen, weil er Probleme mit dem Ehemann seiner Tante mütterlicherseits gehabt habe. Der BF führte aus, dass auch er vor dieser Person Angst haben würde. Beide würden aber den Familennamen dieser Person nicht kennen.
Der BF sei gesund, könne aber keine idenditätsbezeugenden Dokumente vorlegen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Der BF sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islam zugehörig. Er sei nie in Afghanistan gewesen und spreche neben Farsi und Hazaragi auch Deutsch. Seine Familienangehörigen würden im Iran leben. Ebenso würden die Geschwister seines Vaters im Iran leben. Diese seien allesamt in der Provinz Daikundi aufgewachsen. Er selbst habe aber nur Kontakt zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Der BF sei im Iran geboren worden und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe fünf Jahre die Schule besucht und als Obstverkäufer gearbeitet. In Österreich habe er die Pflichtschule abgeschlossen und spreche Deutsch af dem Niveau B1. Neben den bereits in Österreich genannten Verwandten würde hier noch eine weitere Tante mit ihrer Familie leben. Sein Großvater sei verstorben, weil er sich in Grundstücksstreitigkeiten mit seinem Schwager befunden habe. In Österreich lebe er von der Grundversorgung und besuche in seiner Freizeit seine Freunde und Verwandten.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater zum Erhalt von Dokumenten nach Syrien in den Krieg gegangen sei. Seine Mutter habe danach Angst um den BF bekommen, sodass sie diesen nach Europa geschickt habe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, dass er von den Taliban oder ISIS getötet werden würde. Er würde aber auch ohne diese Probleme nicht in Afghanistan leben wollen. Auch in den sozialen Netzwerken habe er keinen Kontakt zu in Afghanistan lebenden Personen. Mit seiner Familie habe er zuletzt vor zwei Tagen Kontakt gehabt. Seit Corona gehe es ihr wirtschaftlich nicht besonders gut. Über das Leben in Afghanistan wisse der BF nichts. Er kenne die dortigen Gebräuche und Sitten nicht. Er wisse nur, dass seine Familie aus Daikundi stamme und in dieser Provinz ein Haus gemietet gehabt habe. Er führte aus, dass er seinen Onkel väterlicherseits nie gehsehen habe und 15 Freunde auf Instagram habe, die in Afghansitan leben würden. Über das Verschwinden seines Vaters würde ihm nichts einfallen.
In afghanischen Großstädten würde er sich nicht zurechtfinden, weil er im Iran aufgewachsen sei. Abschließend führte die rechtsfreundliche Vertretung des BF noch aus, dass dieser keine in Afghanistan gesprochene Landessprache spreche und sich die Situation aufgrund von COVID-19 in den afghanischen Großstädten drastisch verschlechtert habe. Dies müsse immer unter der Prämisse betrachtet werden, dass dem BF kein soziales Netzwerk in Afghanistan zur Vergügung stünde und er keine solide Berufsausbildung habe.
Danach folgte der Schluss der Verhandlung und gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG die mündliche Verkündung des Erkenntnisses. Dieses gab der Beschwerde dahingehend statt, dass dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten erteilt wurde. Dem rechtfreundlichen Vertreter des BF wurde eine Ausfertigung der Niederschrift persönlich ausgefolgt, eine Ausfertigung der Niederschrift wurde an das BFA zugestellt.
12. Mit Schreiben vom 20.07.2020 wurde vom BFA fristgerecht die Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses beantragt.
13. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Beweismittel vor:
? ÖSD-Zertifikat B1
? Empfehlungsschreiben
? Schulbesuchsbestätigungen samt Anmeldebestätigung für den Pflichtschulabschluss-Lehrgang
? Sozialbericht, Energie-Führerschein- und Basisbildungszertifikat
? Zeugnis über die Pflichschulabschluss-Prüfung
? Scheidungsurkunde seiner Eltern
I.2. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Sachverhalt)
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgebenden Sachverhalt aus:
a) Zur Person und zum Vorbringen der beschwerdeführerenden Partei
1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , und ist afghanischer Staatsangehöriger. Er wurde im Iran geboren, seine Familie stammt ursprünglich aus der afghanischen Provinz Daikundi. Er gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam und der Volksgruppe der Hazara an.
Der BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung, ist körperlich gesund und arbeitsfähig.
Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger und spricht Farsi auf Muttersprachenniveau. Ferner beherrscht er auch Hazaragi sowie Deutsch auf dem Niveau B1. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist Zeit seines Lebens noch nicht in Afghanistan gewesen. Er wurde bereits im Iran geboren, wo er aufwuchs, fünf Jahre eine Schue besuchte und als Obstverkäufer arbeitete. Er war bis zu seinen Ausreisebewegungen vom Iran nach Europa immer in seinem Geburtsland aufhältig.
Der BF verfügt über kein aufrechtes familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan, welches ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan in finanzieller oder sonstiger Hinsicht unterstützen könnte.
Der BF verfügt über eine einfache Schulbildung und keine Berufsausbildung. Er hat als Minderjähriger in einem Obstladen als Verkäufer mitgearbeitet.
Der BF verfügt über keine Ortskenntnisse in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat.
Der BF reiste im Oktober 2015 unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 05.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Zu den Flucht- und Verfolgungsgründen:
Gründe, die eine Verfolgung des BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus asylrelevanten Gründen maßgeblich wahrscheinlich erscheinen lassen, wurden vom BF nicht glaubhaft gemacht und sind nicht hervorgekommen.
Festgestellt wird, dass der BF in seinem Herkunftsstaat weder vorbestraft ist noch jemals inhaftiert wurde und auch mit den Behörden des Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme hatte. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.
3. Zur Situation als Rückkehrer:
Eine Herkunftsregion des BF kann nicht festgestellt werden. Seine Familie stammt ursprünglich aus der Provinz Daikundi. Dies ist zwar eine als relativ sicher eingestufte Provinz, jedoch ist dem BF eine Rückkehr in diese mangels Vorliegens eines sozialen Netzwerks nicht zumutbar. Der BF kann nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile, wie insbesondere die Städte Herat oder Mazar-e-Sharif verwiesen werden. Dem BF wäre es im Fall einer Niederlassung in Herat oder Mazar-e Sharif nicht möglich, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, so wie es auch seine Landsleute führen können. Im Fall einer dortigen Ansiedlung liefe er Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Kleidung nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose Situation zu geraten.
4. Zur Situation des BF in Österreich:
Der BF lebt seit Oktober 2015 im österreichischen Bundesgebiet.
Der BF hat mit seiner Großmutter, zwei Onkeln und einer Tante in Österreich lebenden Verwandte. Sonstige Familienangehörige befinden nicht im Bundesgebeit.
Der BF hat keine besondere Nahebeziehung oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu einer dauerhaft aufhältigen Person in Österreich. Der BF verfügt auch noch über einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet.
Der BF holte den Pflichschulabschluss nach und besuchte zahlreiche Integrationskurse. Er engagierte sich aber weder freiwillig noch war er in einem Verein Mitglied. Er erlangte das ÖSD Zertifikat B1.
Der BF war zeit seines Aufenthalts in Österreich nicht erwerbstätig und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.
Der BF ist arbeits- und leistungsfähig.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
b) Zur Lage im Herkunftsstaat
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, zuletzt teilaktualisiert am 18.05.2020 und 29.06.2020 (Schreibfehler teilweise korrigiert):
COVID-19:
WHO, Coronavirus, Situation-Report 175, Stand 13.07.2020 (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports)In Afghanistan sind mit Stand 13.07.2020 34451 Erkrankungen und 1010 Todesfälle registriert.
Kurzinformation der Staatendokumentation, Covid-19 Afghanistan vom 29.06.2020
Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.
Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).
In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).
In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).
Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).
Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen
In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).
Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).
Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung
Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).
Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).
Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan
Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).
Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).
Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran
Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).
Quellen:
AF - Asia Foundation (24.6.2020): Afghanistan’s Covid-19 Bargain, https://asiafoundation.org/2020/06/24/afghanistans-covid-19-bargain/, Zugriff 26.6.2020
AJ - al-Jazeera (8.6.2020): Afghan schools, universities to remain closed until September, https://www.aljazeera.com/news/2020/06/afghan-schools-universities-remain-closed-september-200608062711582.html, Zugriff 26.6.2020
AnA – Andolu Agency (24.6.2020): Afghanistan resumes international flights amid COVID-19, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/afghanistan-resumes-international-flights-amid-covid-19/1888176, Zugriff 26.6.2020
GN – Gulf News (9.6.2020): COVID-19: Emirates to resume regular passenger flights to Kabul from June 25, https://gulfnews.com/uae/covid-19-emirates-to-resume-regular-passenger-flights-to-kabul-from-june-25-1.71950323, Zugriff 26.6.2020
HRW - Human Rights Watch (18.6.2020): School Closures Hurt Even More in Afghanistan, https://www.hrw.org/news/2020/06/18/school-closures-hurt-even-more-afghanistan, Zugriff 26.6.2020
JHU -John Hopkins Universität (26.6.2020): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 26.6.2020
RA KBL – Rechtsanwalt in Kabul (19.6.2020): Antwortschreiben per Mail, liegt bei der Staatendokumentation auf.
TN – Tolonews (15.6.2020): Govt Will Resume Bread Distribution: Palace, https://tolonews.com/afghanistan/govt-will-resume-bread-distribution-palace, Zugriff 29.6.2020
TN – Tolonews (15.6.2020): Poor Claim ‘Unjust’ Bread Distribution in Jawzjan, https://tolonews.com/afghanistan/poor-claim-%E2%80%98unjust%E2%80%99-bread-distribution-jawzjan, Zugriff 29.6.2020
UNHCR – (20.6.2020): Border Monitoring Update COVID-19 Response 14-20 June 2020, https://data2.unhcr.org/en/documents/download/77302, Zugriff 26.6.2020
WHO – World Health Organization (25.3.2020): Coronavirus disease 2019 (COVID-19) Situation Report –65, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200325-sitrep-65-covid-19.pdf?sfvrsn=2b74edd8_2, Zugriff 16.4.2020
WP - Washington Post (25.6.2020): Coronavirus sweeps through Afghanistan’s security forces, https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/afghanistan-coronavirus-security-forces-military/2020/06/24/0063c828-b4e2-11ea-9a1d-d3db1cbe07ce_story.html, Zugriff 26.6.2020
XI – Xinhua (23.6.2020): Pakistan receives 1st Afghan export since COVID-19 pandemic, http://www.xinhuanet.com/english/2020-06/23/c_139159139.htm, Zugriff 26.6.2020
Auszug aus: ACCORD-Dokument #2031621 vom 05.06.2020; Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen, Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung):
Am 05.06.2020 veröffentlichte ACCORD eine Fokusrecherche zu Covid-19 in Afghanistan (#2031621) und führte darin unter anderem aus:
„Am 3. Juni 2020 berichtet UNOCHA, dass in Afghanistan 15.451 Personen positiv auf Covid-19 getestet worden seien. Etwa 1.522 Personen hätten sich bislang von der Krankheit erholt und 297 Personen seien verstorben. Insgesamt seien 42.273 Personen getestet worden. Afghanistan habe 37,6 Millionen EinwohnerInnen. Unter den Covid-19-Toten befänden sich 13 MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens. Über fünf Prozent der bestätigten Covid-19 Fälle seien unter MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens aufgetreten. Großteils seien Personen zwischen 40 und 69 Jahren an Covid-19 verstorben.“ Aktuelle Updates zur Covid-19-Lage in Afghanistan können unter www.unocha.org/afghanistan abgerufen werden.
Afghanistan verfügt über „extrem“ geringe Testkapazitäten und kann pro Tag nur 2.000 Fälle täglich testen, d.h. 80 bis 90 % der potenziellen Fälle werden nicht getestet. Die Gesundheitsinfrastruktur war „schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet“. Es herrscht ein akuter Mangel an Einrichtungen, Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (PPE). In Kabul sind hunderte Ärzte und anderes Gesundheitspersonal nach positiven Covid-19-Tests zur Selbstisolation gezwungen gewesen. Veterinärmedizinische Labore in mehreren Städten werden für Covid-19-Testungen umgerüstet. In Herat wurde ein neues Covid-19-Krankenhaus mit 10 Bett errichtet und in Kabul u.a. Studentenwohnheime zu Isolationseinrichtungen umfunktioniert.
Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlungen ist in den von den Taliban und dem IS kontrollierten Gebieten stark eingeschränkt. Die Gesundheitskliniken in den umstrittenen Gebieten sind sogar noch schlechter ausgestattet und wird befürchtet, dass insb. Frauen keinen Zugang haben. Anfang März bezeichnete ein Sprecher der Taliban das Coronavirus noch als Bestrafung Gottes. Nun verfolgen die Taliban in einigen Gebieten eigene Anti-Corona-Kampagnen, stellen Personen unter Quarantäne und verteilen Flugblätter, Seife und Desinfektionsmittel. In einigen Gebieten wurde Mitarbeitern des staatlichen Gesundheitswesens die sichere Durchfahrt zugesichert, in anderen wiederum wurde ihnen der Zugang verweigert.
Die Region Kabul ist am schwersten von Covid-19 betroffen, gefolgt von Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar. Die afghanische Regierung setzt landesweite Maßnahmen, u.a. Lockdowns, zur Eindämmung der Epidemie ein. Die Strenge des Lockdowns ist aber nach Provinz verschieden. Die Stadt Masar-e Sharif, in der Provinz Balkh, wurde am 21.05.2020 erneut unter einen zehntägigen vollständigen Lockdown gestellt, wobei lebensnotwendige Geschäfte (etwa Apotheken und Lebensmittelgeschäfte) weiter geöffnet blieben. Die Konsequenzen für die Nicht-Einhaltung der Maßnahmen reichen von Verprügeln durch Polizisten über Festnahmen und Geldstrafen bis hin zum Ignorieren der Nicht-Einhaltung. Auch sollen Obdachlose aus Kabul weggebracht worden sein.
Einem Bericht zufolge verheimlichen einige AfghanInnen die Symptome des Virus aufgrund einer religiösen Stigmatisierung als Strafe Gottes und weigern sich medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der Stigmatisierung wurden auch schon MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens angegriffen und sind PatientInnen aus der Quarantäne geflohen.
Es wird auch von einer ansteigenden Stigmatisierung und Diskriminierung von MigrantInnen und Rückkehrern aufgrund der Angst vor Übertragung des Virus berichtet. Da aufgrund der Covid-19-Maßnahmen Unterkünfte (Hotels, Teehäuser) geschlossen sind, fehlt es auch an Übernachtungsmöglichkeiten. Familien von Rückkehrern weigern sich regelmäßig sie wieder aufzunehmen.
In mehreren Provinzen ist es zu Protesten gegen die Maßnahmen der Regierung gekommen, auch weil die Verteilung von Nahrungsmittelhilfen ungenügende erfolge. In Herat haben im Mai Ärzte und Personal des Gesundheitswesens demonstriert, weil sie seit drei Monaten keine Löhne mehr erhalten haben.
Aufgrund von Grenzschließungen und Ausfuhrbestimmungen sind Nahrungsmittelpreise, um teilweise bis zu 20 %, in die Höhe gestiegen. Aufgrund der landesweiten Beschränkungen finden auch Tagelöhner weniger Gelegenheitsarbeit und haben daher sinkende finanzielle Mittel um Nahrungsmittel zu kaufen. Ein großer Teil der afghanischen Arbeitskräfte ist auf den informellen Arbeitsmarkt angewiesen, der bei Arbeitsmangel kein Sicherheitsnetz bietet. Die Situation in Afghanistan entwickelt sich zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise.
Die Lockdown-Maßnahmen behindern auch die Mobilität von humanitären Organisationen, die aber trotzdem weiterhin landesweit tätig sind.
Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Gewalt gegen Mädchen und Frauen, insb. häusliche Gewalt, gestiegen ist, weil viele mit den Tätern während des Lockdown eingesperrt sind und keinen Zugang zu Hilfe haben.
Nach einem Bericht von UNOCHA vom 18.05.2020 wurde der kommerzielle Flugverkehr nach Afghanistan, sowie Inlandsflüge, (teilweise) ausgesetzt.
Politische Lage
Letzte Änderung: 18.5.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).
Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).
Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).
Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 22.4.2020
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl e