TE OGH 2020/10/23 8ObS8/20i

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Veröffentlicht am 23.10.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T***** P*****, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF Service GmbH, Geschäftsstelle Graz, 8020 Graz, Europaplatz 12, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17–19, wegen 25.542,50 EUR sA (Insolvenz-Entgelt), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juli 2020, GZ 7 Rs 14/20p-19, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. November 2019, GZ 38 Cgs 108/19v-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.647,18 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 274,53 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war seit 13. 5. 2002 als Angestellte einer Tabaktrafik beschäftigt. Am 23. 11. 2017 verstarb ihr Arbeitgeber. Die Klägerin wurde mit Beschluss des Verlassenschaftsgerichts vom 28. 11. 2017 mit der Begründung, dass noch keine Erbantrittserklärungen vorlägen und zur Weiterführung des Einzelunternehmens dringende Veranlassungen erforderlich seien, zur Verlassenschaftskuratorin bestellt. Der Wirkungskreis der Klägerin beschränkte sich auf die Fortführung der täglichen Geschäfte. Sie war zur Leistung laufender Zahlungen vom Firmenkonto befugt, verfügte dabei aber nicht über einen Kreditrahmen. Die Angestellten arbeiteten wie bisher weiter. Die Lohnverrechnung und Lohnauszahlung wurde von einer Steuerberatungskanzlei durchgeführt; auch die Klägerin erhielt über Veranlassung der Gerichtskommissärin auf diese Weise wie bisher ihr Gehalt ausbezahlt. Die Tabaktrafik des verstorbenen Arbeitgebers ging nie in das Vermögen der Klägerin über und wurde nicht in ihrem Namen weitergeführt.

Am 22. 6. 2018 wurde über die Verlassenschaft des Arbeitgebers das Konkursverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt. Mit Beschluss vom 24. 8. 2018 enthob das Verlassenschaftsgericht die Klägerin auf eigenen Wunsch von ihrer Tätigkeit als Verlassenschaftskuratorin. Nach insolvenzgerichtlicher Anordnung der Schließung des Betriebs kündigte der Insolvenzverwalter das Dienstverhältnis der Klägerin gemäß § 25 IO zum 1. 1. 2019 auf.

Mit Bescheid vom 27. 3. 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Insolvenz-Entgelt für laufende Entgeltrückstände und Beendigungsansprüche in (unbestrittener) Höhe des Klagsbetrags ab. Die Klägerin sei im Anspruchszeitraum aufgrund ihrer Funktion als Verlassenschaftskuratorin keine Arbeitnehmerin gewesen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die von der Beklagten für ihren Standpunkt ins Treffen geführte Rechtsprechung sei nicht einschlägig und im Hinblick auf die Änderung des § 1 Abs 6 Z 1 IESG mit BGBl I 102/2005 (Entfall der Ausnahme der Organe juristischer Personen) auch nicht aufrecht zu erhalten. Weder habe die Klägerin die Trafik als Nachfolgerin übernommen, noch sei die Funktion eines Kurators für die Verlassenschaft des verstorbenen Dienstgebers in jedem Fall mit dem Verlust der Arbeitnehmereigenschaft verbunden. Die Klägerin habe nach den Feststellungen keineswegs ähnlich einem Eigentümer Einfluss auf die Geschicke des Unternehmens ausüben können, sodass ihre Ansprüche nach § 1 Abs 1 IESG gesichert seien.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil seine Entscheidung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abweiche, derzufolge eine Bestellung zum Verlassenschaftskurator jedenfalls zum Wegfall der Arbeitnehmereigenschaft führe.

Die von der Klägerin beantwortete Revision der beklagten Partei ist aus den vom Berufungsgericht dargelegten Gründen zur erforderlichen Klarstellung der Rechtslage zulässig.

Die Revision ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Zur Vermeidung von Wiederholungen ist grundsätzlich auf die vom erkennenden Senat für zutreffend erachteten Ausführungen des Berufungsgerichts zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

2. Die Revision führt ins Treffen, der Oberste Gerichtshof habe in mehreren Entscheidungen die Arbeitnehmereigenschaft eines zum Verlassenschaftskurator bestellten ehemaligen Angestellten des verstorbenen Unternehmers verneint. Diese Rechtsprechung habe weiterhin Gültigkeit, weil einem Verlassenschaftskurator die Verwaltung und Vertretung des Nachlasses zukämen und er damit einen wesentlichen, dem Unternehmer oder Gesellschafter vergleichbaren Einfluss auf das Unternehmen habe.

3. In der Entscheidung 8 ObS 268/98i, auf deren Begründung sich die Beklagte stützt, verneinte der Oberste Gerichtshof die Arbeitnehmereigenschaft einer Witwe, die als Verlassenschaftskuratorin mit der Fortführung des Gastbetriebs ihres verstorbenen Gatten und Arbeitgebers beauftragt wurde. In der Begründung dieser Entscheidung wird ausgeführt, bei unternehmertypischen Handlungen wie der Befugnis, in allen Geschäftsbereichen selbständig entscheiden zu können und damit auch in unmittelbar unternehmerischen Bereichen tätig zu werden, liege kein Arbeitsverhältnis vor. Da die Verlassenschaftskuratorin bei der Fortführung des Unternehmens die Gesamtorganisation innegehabt habe und jedenfalls im ordentlichen Wirtschaftsbereich keiner weiteren Weisung oder Einschränkung durch das Verlassenschaftsgericht unterworfen, für die Unternehmensentscheidungen verantwortlich und durch ihre Stellung nicht persönlich abhängig und weisungsgebunden gewesen sei, habe in ihrem Fall die Ausübung der Arbeitgeberfunktionen überwogen. Ähnlich wie bei den nach § 1 Abs 6 Z 2 IESG ausgenommenen Organmitgliedern, komme es nicht auf die faktische und beachtliche Einflußmöglichkeit an.

4. Seit dem Datum der Entscheidung 8 ObS 268/98i wurden allerdings, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, die maßgeblichen Bestimmungen des § 1 IESG wiederholt novelliert. Nach § 1 Abs 6 Z 2 IESG in der damals geltenden Fassung waren Ansprüche der Mitglieder des Organs einer juristischen Person, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist, von der Entgeltsicherung ausgeschlossen. Dieser Ausschlusstatbestand wurde bereits mit BGBl I Nr 102/2005 ersatzlos aufgehoben. Überdies wurden mit der Novelle BGBl 104/2007 freie Dienstnehmer in den Schutz der gesetzlichen Insolvenz-Entgeltsicherung einbezogen, deren Tätigkeit insbesondere durch das Fehlen der für den Arbeitsvertrag charakteristischen persönlichen Abhängigkeit und durch weitgehende Weisungsfreiheit gekennzeichnet ist (RIS-Justiz RS0021518; RS0027993 – Vorstand einer AG).

5. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass mit diesen wesentlichen Änderungen den tragenden Gründen der Entscheidung 8 ObS 268/98i die vormals bestehende Rechtsgrundlage entzogen wurde.

Die Berechtigung, ein Unternehmen zu verwalten, wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen und es nach außen zu vertreten, kann nach der geltenden Fassung der § 1 Abs 1 und Abs 6 IESG für sich allein nicht mehr zum Ausschluss der Insolvenz-Entgeltsicherung führen (RS0109523 [T6] = 8 ObS 27/07i). Ob sich diese Berechtigung aus einer gesellschaftsrechtlichen Organstellung ergibt (zB Fremdgeschäftsführer einer GmbH), oder aus einer gerichtlichen Kuratorbestellung, spielt dafür keine entscheidende Rolle. Auch die Merkmale der Weisungsunterworfenheit und der persönlichen Abhängigkeit haben durch die Einbeziehung der freien Dienstnehmer in den Kreis der nach § 1 Abs 1 IESG Anspruchsberechtigten insoweit ihre in der früheren Rechtsprechung noch betonte Bedeutung verloren.

6. Andere von der Beklagten für ihren Standpunkt zitierte höchstgerichtliche Entscheidungen, insbesondere 8 ObS 187/00h sind, wie bereits das Berufungsgericht richtig dargelegt hat, nicht einschlägig. Im Unterschied zum vorliegenden Fall war die in jenem Verfahren klagende Partei, nicht nur gerichtlich bestellte Verlassenschaftskuratorin, sondern aufgrund eines Vertrags mit der Monopolverwaltung als Trafikantin Betriebsnachfolgerin des verstorbenen Arbeitgebers.

7. Wenn die Revision weiter ausführt, dass die von einem Verlassenschaftskurator durchzuführenden Tätigkeiten von einem im Vergleich zu einem Arbeitnehmer stark erweiterten Wirkungs- und Einflussbereich auf das Unternehmensgeschehen gekennzeichnet seien und er von keinem Arbeitgeber mehr Weisungen erhalte, ist dies in der dargestellten Allgemeinheit unzutreffend.

Der Wirkungskreis eines Verlassenschaftskurators ist nach § 278 ABGB vom Gericht bestimmt zu bezeichnen. Er kann zwar die gesamte Verwaltung und Vertretung der Verlassenschaft beinhalten, aber auch auf Teilgebiete beschränkt sein.

Handlungen, die über den Rahmen der ordentlichen Verwaltung hinausgehen, bedürfen gemäß § 167 Abs 3 ABGB grundsätzlich der Genehmigung des Verlassenschaftsgerichts, das eine Aufsichts- und Überwachungspflicht trifft (vgl RIS-Justiz RS0008077; RS0008080; Verweijen in Schneider/Verweijen, AußStrG § 156 Rz 32).

8. Nach dem hier festgestellten Sachverhalt war Zweck der Kuratorbestellung der Klägerin die Fortführung der Geschäfte der Tabaktrafik des verstorbenen Arbeitgebers wie bisher. Ihre Befugnisse beschränkten sich auf die Leistung der laufenden Zahlungen vom Firmenkonto, die Durchführung von Bestellungen, Verwaltung der Post und die Funktion als Ansprechpartnerin der anderen Arbeitnehmer. Die Klägerin hatte keinen Kreditrahmen für das Firmenkonto und es war ihr auch nicht erlaubt, größere Zahlungen ohne Rücksprache durchzuführen. Alle Mitarbeiter wussten, was zu tun war; hätte es Probleme mit Mitarbeitern gegeben, hätte die Klägerin ebenfalls bei der Gerichtskommissärin nachgefragt. Die Zahlung der Gehälter erfolgte durch die Steuerberatungskanzlei.

Bei diesem beschränkten Aufgabenkreis der Kuratorin, der nicht über die Pflichten und Rechte einer angestellten Filialleiterin hinausging und weder Führungsaufgaben (insbesondere auch keine Befugnis zur Einstellung oder Kündigung von Arbeitnehmern) noch unternehmerische Entscheidungen beinhaltete, kann hier im Unterschied zu der zitierten Vorentscheidung nicht die Rede davon sein, dass die Klägerin wesentlichen Einfluss auf die Betriebsführung gehabt hätte oder Arbeitgeberfunktionen ausgeübt hat.

9. Auf eine allfällige Weisungsfreiheit der Klägerin im Rahmen der übertragenen Aufgaben käme es wegen der Einbeziehung der freien Dienstverhältnisse in § 1 Abs 1 IESG nicht an. Nach den Feststellungen lag sie aber auch nicht vor, war die Klägerin doch in über das Alltagsgeschäft hinausgehenden Angelegenheiten an die Genehmigung des Gerichts oder der Gerichtskommissärin gebunden.

Die Vorinstanzen sind daher zutreffend von einem fortgesetzten Arbeitsverhältnis ausgegangen.

10. Soweit die Revision ihren Standpunkt, dass die geltend gemachten Ansprüche von der Entgeltsicherung ausgenommen seien, mit einer Analogie zu § 1 Abs 6 lit b IESG über den Ausschluss von Gesellschaftern mit beherrschendem Einfluss argumentiert, entfernt sie sich vom Sachverhalt. Die Klägerin war nicht am Unternehmen des Schuldners beteiligt. Die in der Revision vertretene Ansicht, dass jede theoretisch mögliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung den Ausschlusstatbestand erfülle, ist schon deshalb nicht haltbar, weil sie die Aufhebung des Ausschlusses von Ansprüchen der vertretungsberechtigten Organe unterlaufen würde. Die Eröffnung der Entgeltsicherung für diese Personengruppe, soweit es sich um Arbeitnehmer oder freie Dienstnehmer handelt, entspricht dem Willen des Gesetzgebers und bildet keine der Schließung durch Analogie zugängliche Regelungslücke.

11. Der Revision war daher keine Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs 2 lit a ASGG.

Textnummer

E129935

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBS00008.20I.1023.000

Im RIS seit

02.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.10.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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