TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/25 W165 2216441-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.09.2020
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Entscheidungsdatum

25.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
FPG §55a

Spruch

W165 2216441-1/32E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ilse LESNIAK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.02.2019, Zl. 16-1101837906/160063002, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 25.07.2019 und 17.01.2020, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 AsylG 2005 sowie §§ 46, 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste Anfang des Jahres 2016 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 08.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner polizeilichen Erstbefragung am selben Tag gab der BF in der Sprache Farsi befragt an, dass er afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und schiitischer Moslem sei. Er sei am XXXX geboren, stamme aus der Provinz XXXX und habe neun Jahre die Grundschule besucht. In Afghanistan würden seine Mutter, ein Bruder sowie zwei Schwestern leben. Ein weiterer Bruder sei verschollen und sein Vater bereits verstorben.

Den Entschluss zur Ausreise habe er vor zwei Monaten gefasst, tatsächlich ausgereist sei er vor einem Monat. Sein Zielland sei Finnland gewesen, da er gehört habe, dass man dort leichter Asyl bekomme. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, dass seine Mutter ihn überredet habe, Afghanistan zu verlassen, da sein Vater ermordet worden und sein Bruder verschollen sei. Was er im Falle der Rückkehr befürchte, könne er nicht sagen, aber es sei dort alles sehr unsicher.

1.2. Der BF wurde am 06.04.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA), in der Sprache Dari zu seinen persönlichen Verhältnissen und seinem Fluchtgrund befragt. Dabei korrigierte er seine Angaben in der Erstbefragung dahingehend, dass er die Schule nicht neun, sondern sieben Jahre besucht habe und am XXXX geboren sei. Seine Mutter und Geschwister würden sich in Afghanistan aufhalten und habe er zu ihnen einmal in der Woche über Facebook Kontakt. Seine Familie besitze ein Haus, ein Grundstück und zwei Geschäfte, wobei seine Mutter das Land bewirtschafte und die Geschäfte vermietet seien. Er habe seit seinem 13. Lebensjahr als Motorradmechaniker gearbeitet. Sein Vater sei vor elf Jahren verstorben, sein Bruder seit sieben Jahren verschollen.

Zu seinen Fluchtgründen führte der BF im Wesentlichen aus, dass die Geistlichen in seinem Gebiet von seinem Alkoholkonsum erfahren und seine Mutter vor die Wahl gestellt hätten, ihn wegzuschicken, andernfalls die ganze Familie wegmüsse. Er sei dann nach XXXX gefahren, wo ihn die Taliban angehalten, festgenommen, in eine Moschee gebracht und dort dazu befragt hätten, warum er Alkohol trinke. Er habe dies zwar zunächst geleugnet, doch hätten sie ihn so lange geschlagen, bis er sein Handy entsperrt habe und ihm dieses abgenommen worden sei. Darin hätten sie Fotos von Partys gesehen, wo er betrunken gewesen sei und hätten ihm gesagt, dass er bestraft werden müsse. Danach sei er von der Moschee zu einem entfernten Dorf gebracht worden, wo er in einem Stall gefesselt worden sei. In der Nacht habe er die Fesseln an der Steinmauer gerieben, bis sie gerissen seien und habe er über ein kleines Fenster ins Freie gelangen können. Es habe mehrere Stunden gedauert, die Fesseln zu lösen. Von dort sei er mit einem Auto, das er angehalten habe, in das Gebiet XXXX , anschließend mit einem Taxi weiter nach XXXX und schließlich über eine andere Route nach XXXX zurück, wo er sich zwei Monate zu Hause versteckt gehalten habe. Währenddessen habe er einen Schlepper gefunden, der ihn in XXXX in einem Hotel abgeholt habe.

1.3. Mit Parteiengehör vom 03.01.2019 und 21.01.2019 erhielt der BF (erneut) Gelegenheit, binnen einer Frist von zwei Wochen zu einer allfälligen Änderung seiner Fluchtgründe sowie zu seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich Stellung zu nehmen.

In seiner Stellungnahme vom 26.01.2019 führte der BF dazu im Wesentlichen aus, dass sich die Lage in seiner Herkunftsprovinz grundlegend verändert habe, da die Taliban eingefallen seien. Da diese sämtliche Wege kontrollieren würden, sei es schwer, aus der Provinz herauszukommen. Auch in XXXX habe es einige Anschläge gegeben und sei fast die ganze Stadt zerstört worden. Besonders schlimm sei es in Kabul, wo es etwa Anschläge auf einen Vorbereitungskurs für Schüler, auf einen Schaukampf in einem Fitnesscenter sowie eine Militärakademie in XXXX gegeben habe, wobei jeweils mehrere Menschen getötet worden seien. Da er, vor allem auch aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, Angst um sein Leben habe, wolle er nicht nach Afghanistan zurückkehren. Demgegenüber lebe seine Tante in Salzburg und habe er in Österreich viele Freunde gefunden. Am 13.06.2018 habe er eine Lehrstelle als Koch begonnen. In seiner Freizeit treffe er sich mit Freunden und gehe Fußball spielen oder Schi fahren.

1.4. Mit Bescheid vom 19.02.2019 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) ab, erkannte den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.). Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 AsylG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf das BFA Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in dessen Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe dem BF keine Gefahr, die eine Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der BF verfüge im Heimatstaat über familiäre Anknüpfungspunkte sowie Berufserfahrung als Motorradmechaniker, sei volljährig, gesund und erwerbsfähig. Er könne Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat erreichen, ohne einer besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Der BF erfülle auch nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG und stehe der Erlassung einer Rückkehrentscheidung sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer, des Fehlens von familiären Bindungen im Inland und seines unsicheren, ausschließlich auf den unberechtigten Antrag auf internationalen Schutz gestützten Aufenthalts, nicht entgegen. Aufgrund der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

1.5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 20.03.2019, mit der der Bescheid in vollem Umfang angefochten wurde. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften infolge eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens, mangelhafter Länderfeststellungen sowie mangelhafter Beweiswürdigung und eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorliegen würden. Nach Wiedergabe des Fluchtvorbringens führte der BF aus, dass eine ordnungsgemäße Überprüfung der vorgelegten und beglaubigt übersetzten Tazkira seitens der Behörde nicht vorgenommen, sondern diese in der Beweiswürdigung mit der Begründung gewertet worden sei, dass es unzählige afghanische Dokumente mit gefälschtem Inhalt gebe. In weiterer Folge verwies der BF auf die in Afghanistan allgemein herrschende Sicherheitslage und führte aus, die Behörde hätte im Zusammenhang mit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat die individuelle Lage des BF im Falle der Rückkehr unter Berücksichtigung sämtlicher aktueller Länderberichte beurteilen müssen. Die mangelhafte Beweiswürdigung sei auf die Zugrundelegung unvollständiger Länderberichte sowie darauf zurückzuführen, dass die Behörde bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des BF eine allfällige Traumatisierung nicht berücksichtigt habe. Da der Vater des BF bereits verstorben und sein ältester Bruder verschollen sei, könne der BF im Falle der Rückkehr nicht mit voller Gewissheit auf ein funktionierendes familiäres Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen. Der BF habe seit über drei Jahren nicht mehr in Afghanistan gelebt, trinke Alkohol und besuche die Moschee nicht regelmäßig, was eine Reintegration in Afghanistan deutlich erschwere. Er habe eine Lehre als Koch begonnen, lebe in einer vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Unterkunft, wo er auch verpflegt werde, sei daher selbsterhaltungsfähig und habe etliche gemeinnützige Tätigkeiten verrichtet, weshalb sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich überwiege.

1.6. Am 25.07.2019 fand eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt. Der BF wurde in Anwesenheit seiner zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaterin ausführlich zu seinen Fluchtgründen, seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie seiner Integration in Österreich befragt und legte Unterlagen zu seiner Integration vor. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

1.7. Mit Schriftsatz vom 14.10.2019 legte der BF eine Bestätigung über die regelmäßige Teilnahme an einem katholischen Glaubenskurs vor, führte dazu aus, dass er sich in der Phase Erstverkündung/Vorkatechumenat befinde und verwies auf die Beschwerdeverhandlung vom 25.07.2019, in welcher er angegeben habe, dass er an den Islam nicht glaube und seiner Ansicht nach der Islam eine Lüge und der Grund dafür sei, weshalb in Afghanistan so viele Menschen sterben würden. Er habe sich schrittweise vom Islam abgewandt und sei nun aus tiefster Überzeugung Christ. Zum Beweis seiner innerlichen Überzeugung vom Christentum beantragte der BF die neuerliche Durchführung einer Beschwerdeverhandlung.

Mit Parteiengehör vom 25.10.2019 wurde der BF aufgefordert, innerhalb einer Frist von einer Woche allfällige Glaubenszeugen, wie den Leiter des katholischen Glaubenskurses und den Pfarrer der Wohnsitzgemeinde, namhaft zu machen und gab der BF mit Schriftsatz vom 29.10.2019 deren Namen und ladungsfähige Adressen bekannt.

1.8. Am 22.11.2019 wurde dem BF das Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 13.11.2019 übermittelt und brachte der BF dazu am 25.11.2019 eine schriftliche Stellungnahme ein, in der im Wesentlichen eine sich stark verschlechternde Sicherheitslage für Angehörige der Volksgruppe der Hazara, eine problematische Arbeitsmarktsituation, die Auswirkungen der Dürre auf die Ernährungslage, die Bedeutung von Netzwerken für Rückkehrer sowie die Verfolgungsgefahr im Falle des Abfalls vom Islam vorgebracht wurden.

1.9. Am 10.01.2020 leitete das BFA den seitens des BF im Hinblick auf die Neuregelung bezüglich Asylwerbern in der Lehre vorgelegten Lehrvertrag des BF an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG), weiter. Dem Lehrvertrag ist zu entnehmen, dass der BF am 13.06.2018 eine Lehre im Lehrberuf Koch begonnen hat (Lehrzeit drei Jahre, tatsächliche Lehrzeit 13.06.2018 bis 12.06.2021).

1.10. Am 17.01.2020 fand eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung, zum Thema Konversion, vor dem BVwG unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt, in welcher der BF in Anwesenheit seiner zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaterin ausführlich zur Motivation bzw. dem auslösenden Moment für den Glaubenswechsel, seinen religiösen Aktivitäten und seinem Wissen über die neue Religion befragt wurde. Darüberhinaus wurden die beantragten Glaubenszeugen einvernommen. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

1.11. Mit Schreiben vom 21.01.2020 wurde dem BF das Merkblatt des BFA zur Hemmung der Frist für die freiwillige Ausreise bei Asylwerbern in aufrechtem Lehrverhältnis übermittelt.

1.12. Mit Schreiben vom 09.03.2020 legte der BF eine Bestätigung vom 02.03.2020 vor, wonach am 01.03.2020 die Zulassungsfeier zur Aufnahme in die katholische Kirche stattgefunden habe und die Aufnahme in die katholische Kirche/Erwachsenentaufe voraussichtlich am 20.10.2020 in der Wohnsitzpfarre erfolgen werde.

1.13. Mit Schreiben vom 04.09.2020 wurde dem BF die Fassung des LIB Afghanistan vom 13.11.2019 inkl. letzter KI vom 21.07.2020 mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt. Weiters erging die Aufforderung, allfällige noch nicht vorgelegte Integrationsunterlagen vorzulegen und gegebenenfalls familiäre oder private Rücksichten darzulegen.

Mit Schreiben vom 16.09.2020 wurden eine Bestätigung des Kursleiters des Glaubenskurses über die Teilnahme des BF am Glaubenskurs samt Bekanntgabe des nunmehr für 25.10.2020 geplanten Tauftermins sowie ein Schreiben des Koordinationsbüros der österreichischen Bischofskonferenz für Katechumenat und Asyl betreffend coronabedingte Verschiebungen von Erwachsenentaufen und Unterbrechungen von Taufvorbereitungen vorgelegt. Mit Schreiben vom 17.09.2020 wurden - in unleserlicher Qualität - ein Zertifikat diplomierter Käsekenner, ein Jahreszeugnis einer Fachberufsschule für Tourismus und Handel, eine Notenmitteilung einer Fachberufsschule für Tourismus und Handel und eine Teilnahmebestätigung am schulischen Religionsunterricht vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschrift der Erstbefragung am 08.01.2016, die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA am 06.04.2018 sowie die Beschwerde vom 20.03.2019;

?        Länderfeststellungen der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, die EASO – Country Guidance Afghanistan vom Juni 2018 (insb. Auszug: Seiten 21-25 III. Subsidiärer Schutz und Seiten 98-109 V. Innerstaatliche Schutzalternative), die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018 zur Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif aufgrund anhaltender Dürre, eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 12.10.2018 [a-10737] zu den Folgen von Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif;

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG am 25.07.2019 und 17.01.2020;

?        Einvernahmen des Leiters des vom BF besuchten Glaubenskurses sowie des Pfarrers seiner Wohnsitzgemeinde als Zeugen im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 17.01.2020;

?        Einsicht in die vom BF vorgelegten Unterlagen (insb. zu seiner Integration und dem vorgebrachten Religionswechsel).

2. Feststellungen:

2.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht darüber hinaus Farsi sowie etwas Deutsch und Englisch.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er stammt aus der Provinz XXXX und lebte zuletzt gemeinsam mit seiner Mutter, einem Bruder und zwei Schwestern bis zu seiner Ausreise in einem Haus im Dorf XXXX im Distrikt XXXX . Der BF besuchte zumindest sechs Jahre die Schule und begann mit 13 Jahren eine Ausbildung zum Motorradmechaniker, die zwei Jahre dauerte. Währenddessen wurde er von seiner Mutter unterstützt. Anschließend übte der BF diesen Beruf bis zu seiner Ausreise aus und verdiente seinen Lebensunterhalt selbständig. Die Familie des BF besitzt landwirtschaftliche Grundstücke, die von seiner Mutter bewirtschaftet werden sowie zwei Geschäftslokale in der nahegelegenen Stadt in guter Lage, die vermietet sind. Die wirtschaftliche Situation der Familie ist gut.

Die Mutter und Schwestern des BF halten sich weiterhin im Heimatdorf auf, sein Bruder studiert in Kabul und der BF hat zu seiner Familie im Heimatdorf einmal pro Woche Kontakt. Darüber hinaus leben zwei Tanten und ein Onkel des BF in Kabul und besteht zu den Tanten ebenfalls einmal wöchentlich Kontakt. Zu seinem Onkel hat der BF keinen Kontakt. Weiters hat der BF alle ein bis zwei Monate Kontakt zu seinen im Heimatdorf lebenden Freunden.

Der BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Der BF ist gesund und befindet sich nicht in medizinischer Behandlung.

Der BF zählt weder aufgrund seines Alters zu einer Risikogruppe in Bezug auf eine Covid-19-Erkrankung noch hat er relevante Vorerkrankungen. Die diesbezügliche Lage in Afghanistan ist weiters nicht dergestalt, dass jedem Afghanen allein aufgrund der Covid-19-Pandemie eine Rückkehr unzumutbar wäre.

Der BF fasste den Entschluss, Afghanistan zu verlassen im Herbst 2015 und reiste etwa zwei Monate später über Pakistan und den Iran in die Türkei. Anschließend begab sich der BF über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Kroatien im Jänner 2016 illegal in das österreichische Bundesgebiet und stellte am 08.01.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält sich der BF aufgrund eines vorläufigen Aufenthaltsrechts als Asylwerber im österreichischen Bundesgebiet auf.

Der BF hat abgesehen von einer Tante, die in Salzburg lebt, keine Familienangehörigen in Österreich. Er besuchte in der Zeit von Oktober 2016 bis Juni 2018 diverse Kurse (darunter Deutsch A2 und B1 Integrationskurse, einen Werte- und Orientierungskurs sowie einen Pflichtschulkurs). Von Jänner bis Ende März 2018 verrichtete er gemeinnützige Arbeiten bei einer Gemeinde, ist Mitglied in einer Hobby-Fußballmannschaft und geht in seiner Freizeit Schifahren. Seit 13.06.2018 absolviert der BF eine Kochlehre und erhält eine Lehrlingsentschädigung in Höhe von EUR 634,18 monatlich. Derzeit lebt er in einer von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Privatunterkunft. Seit 26.09.2019 besucht der BF einmal wöchentlich einen Glaubenskurs in der Landeshauptstadt und nahm bis Mitte Dezember des Vorjahres regelmäßig an den Sonntagsgottesdiensten in seiner Pfarrgemeinde teil. Einmal besuchte der BF den Familiengottesdienst mit anschließendem Pfarrcafe. Zudem unterstützte der BF die Pfarre unentgeltlich bei diversen Aufräumarbeiten und Ähnlichem. Am 08.12.2019 fand die Aufnahme des BF in die Taufvorbereitung (Katechumenat) seiner Wohnsitzpfarre statt. Im März 2020 fand die Zulassungsfeier zur Aufnahme des BF in die katholische Kirche statt. Der coronapandemiebedingt verschobene Tauftermin ist nunmehr für 25.10.2020 geplant.

Der BF verfügt über freundschaftliche Kontakte zu Österreichern und ist um seine Integration bemüht. Es liegen keine strafrechtlichen Verurteilungen vor.

2.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

In der Erstbefragung wurde als Fluchtgrund angegeben, dass der Vater des BF ermordet worden und ein Bruder verschollen sei. In der Einvernahme vor dem BFA wurde ein abweichender Fluchtgrund einer Entführung des BF durch die Taliban infolge Kenntniserhalt der Taliban von dessen Alkoholkonsum und Partyleben angegeben.

Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Geistlichen seines Dorfes von seinem Lebenswandel Kenntnis erhalten und von seiner Mutter verlangt hätten, ihn wegzuschicken bzw. dass er von den Taliban festgenommen, in eine Moschee verbracht und geschlagen, anschließend in einem Stall gefesselt worden wäre und aus diesem Grund das Land verlassen habe.

Der BF hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er im Fall einer Rückkehr von den Taliban in ganz Afghanistan verfolgt und getötet würde.

Ebenso wenig hat der BF glaubhaft gemacht, dass er aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert sei und ihm Verfolgung, Gewalt oder Diskriminierung von erheblicher Intensität aufgrund seiner Religionszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder einer (ihm unterstellten) politischen Gesinnung drohen würden.

Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst in irgendeiner Art und Weise Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

2.3. Zur Rückkehrsituation des BF in seinem Herkunftsstaat:

Es liegen keine Hinweise vor, dass der kinderlose und ledige BF nicht in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt etwa durch Gelegenheitsarbeiten zu erwirtschaften und nicht arbeitsfähig wäre. Der volljährige und gesunde BF hat in Afghanistan zumindest sechs Jahre die Schule besucht und nach einer vorangegangenen Ausbildung mehrere Jahre als Motorradmechaniker gearbeitet. Während der Ausbildung wurde er von seiner Mutter unterstützt, anschließend war er in der Lage, seinen Lebensunterhalt zur Gänze selbständig zu bestreiten. In Österreich absolviert der BF eine Lehre zum Koch, bestreitet seinen Lebensunterhalt aus seinem daraus erwirtschafteten Einkommen und lebt in einer von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Unterkunft. Über seine bereits im Herkunftsstaat erworbene Qualifikation hinaus verfügt der BF somit über zusätzlich gewonnene Berufserfahrung, auf die er im Falle der Rückkehr zurückgreifen kann. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF ausschließen könnten, konnten nicht festgestellt werden. Zudem lebt die Familie des BF weiterhin in Afghanistan in ihrem Heimatdorf und kann angenommen werden, dass die Angehörigen den BF zumindest marginal unterstützen können, zumal die wirtschaftliche Situation der Familie als gut beschrieben wurde.

Der BF kommt aus der Provinz XXXX . Die Lage in der Provinz XXXX ist relativ volatil und die sichere Erreichbarkeit des Heimatdorfes des BF nicht gewährleistet. Aufgrund der vorliegenden Länderberichte wird somit festgestellt, dass dem BF eine Rückkehr in seine unmittelbare Heimatprovinz aufgrund der dort herrschenden relativ volatilen Sicherheitslage nicht zumutbar ist.

Gegenständlich stehen dem BF jedoch zumutbare innerstaatliche Flucht- beziehungsweise Schutzalternativen in den Städten Kabul oder Mazar-e Sharif zur Verfügung. In Kabul leben zwei Tanten sowie der Bruder des BF, zu denen er regelmäßig Kontakt hat und kann angenommen werden, dass ihn diese zumindest bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche unterstützen können. In Mazar-e Sharif verfügt der BF demgegenüber zwar über kein familiäres oder soziales Netzwerk, kann aber als junger und arbeitsfähiger Mann, der an keinen lebensbedrohlichen gesundheitlichen Erkrankungen leidet, in dieser Stadt auf Grund der dort herrschenden Versorgungs- und Sicherheitslage Fuß fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten führen, wie es auch andere Landsleute zu führen vermögen. Zudem kann auch in diesem Fall angenommen werden, dass ihn seine im Herkunftsstaat lebenden Familienangehörigen zumindest finanziell unterstützen können. Der BF kann die Städte Kabul und Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen. Der BF kann bei einer Rückkehr diverse Unterstützungsleistungen staatlicher und nichtstaatlicher Natur in Anspruch nehmen.

2.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Unter Bezugnahme auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 13.11.2019), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, sowie dem „EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2018“, der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018: „AFGHANISTAN - Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif aufgrund anhaltender Dürre“ und die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 12.10.2018 [a-10737] zu Afghanistan: „Folgen von Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif: Landflucht als Folge der Dürre; Auswirkungen der Dürre/Landflucht auf die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln, auf die Wohnraumbeschaffung und die Situation am Arbeitsmarkt für Neuansiedler (insbesondere von RückkehrerInnen)“ werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des BF individuell betreffende Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan bzw. in Ghazni und Mazar-e Sharif (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„1. Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

[…]

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020).

Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

[…]

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

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Stand 29.6.2020

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

[…]

Stand: 18.5.2020

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In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Herat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

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2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

[…]

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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