TE Bvwg Beschluss 2020/10/13 W265 2234844-1

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Veröffentlicht am 13.10.2020
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Entscheidungsdatum

13.10.2020

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W265 2234844-1/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Christina MEIERSCHITZ als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 08.07.2020, betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 06.02.2020 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses beim Sozialministeriumservice (in der Folge auch als belangte Behörde bezeichnet).

Die belangte Behörde gab in der Folge ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie unter Anwendung der Bestimmungen der Einschätzungsverordnung in Auftrag. In dem auf einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 04.06.2020 basierenden Gutachten vom 08.06.2020 wurde Folgendes – hier in den wesentlichen Teilen wiedergegeben – ausgeführt:

„Anamnese:

Anm.: etwas eingeschränkte Anamneseerhebung auf Grund der Sprachbarriere

Ca. 2014 habe er einen Selbstmordversuch im Geburtsland unternommen (Schnitte Handgelenk), er habe da Probleme gehabt, sei aber nicht psychiatrischer Behandlung gewesen.
Seit 4 Jahren habe er mit der Psyche Probleme und sei in Behandlung.

Derzeitige Beschwerden:

Es gehe ihm nicht gut, auch mit den Nerven.

Er habe auch Schmerzen. Wenn er nervös sei habe er Schmerzen im Rücken bis ins linke Bein an der Rückseite ausstrahlend.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Rheumesser i.m. bei Hausarzt
Quetialan XR 50 0-0-1
Trittico 150 0-0-2/3
Sertralin 50 1-0-0
Escitalopram 30 1-0-0
Tramadolor 50 0-0-1
Seractil f. 1-2/ Tag
Psychiater: alle paar Monate

Sozialanamnese:
Wurde im Iran geboren

Er sei Moslem gewesen, Muttersprache kurdisch, 2015 sei er zum Christentum konvertiert.
Er habe Schwierigkeiten im Geburtsland gehabt.
Seine Eltern starben als er 20 Jahre war, lebte dann bei Großmutter.
Seit 2016 in A, positiver Asylbescheid.

Schulbildung im Geburtsland: 14 Jahre Schule und Ausbildung zum Mechaniker, arbeitet 5a als Mechaniker
In Österreich: Praktikum 6 Wochen als Automechaniker 8/2019

Er sei alleine in Österreich, er habe ein Zimmer gemietet seit 6 Monaten. Sein Mieter wolle, dass er das verlasse, er wisse nicht genau warum.
Einkünfte: Er bekomme jetzt seit kurzem vom AMS Geld (380 Euro).

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Anwesenheitsbestätigung in der Ordination Nerven FA XXXX 03 12 2019 13:45- 14:40

Psychologischer Befund Mag. Penn 04 11 2019 (Anm.: unvollständig):
Zusammenfassung und Behandlungsvorschlag:

XXXX kognitive Leistungsfähigkeit ist aktuell, nonverbal gemessen, weit unter dem Normbereich angesiedelt, das Arbeitstempo ist verlangsamt. Im Hinblick auf eine mittelgradige depressive Episode wird um eine Optimierung der medikamentösen Behandlung ersucht (ICD-10 F32.1).

Befund Psychiater XXXX 11 06 2019:
Diagnose(n):
mittelschwer depressive Episode
Vd. auf PTSD DD: emotional instabile Persönlichkeitsstörung

1. Psychotherapie empfohlen 2. Einleitung einer antidepressiven Therapie mit Sertralin 50mg 1/2-G-O (über potentielle

Nebenwirkungen und Beeinträchtigung hinsichtlich der Verkehrstauglichkeit wurde aufgeklärt) 3. Kontrolle hierorts in 4 Wochen

Befund Psychiater XXXX 23 06 2016:
Fragestellung: Therapie und Verlaufskontrolle

Zwischenanamnese: subjektiv Wunsch nach Einbettzimmer- seit 6 Monaten Christ (wurde in Heidenreichstein konvertiert)

Neurologisch: milde Verspannungen der paravertebralen Muskulatur sonst frei Psychiatrisch: keine Auffälligkeiten- ständig müde mit und ohne Medikamente Diagnosen:
Z n. Suizid-Versuch vor 2 Jahren Militärdienst
durch die Struktur damals stabilisiert
Rückenschmerzen
FA - Therapie:
ESCITALOPRAM HEX FTBL 10MG 30ST- hat er pausiert
DEPAKINE CHR.RET FTBL 500MG 50ST- hat er pausiert
event. Einzeltherapie - Medikamente nicht sinnvoll
auflösen des religiösen Konflikts
Struktur war in der Vergangenheit hilfreich

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:
30-jähriger in gutem AZ

Ernährungszustand:

gut

Größe: 160,00 cm  Gewicht: 55,00 kg  Blutdruck:

Klinischer Status – Fachstatus:

voll mobil, blande Narbe am linken Handgelenk keine Paresen

MER stgl. mlh.
Motilität erhalten

Gesamtmobilität – Gangbild:
kommt frei gehend alleine zur Untersuchung, kommt mit ÖVM

Status Psychicus:

Durch Sprachbarriere etwas beeinträchtigt.

Kooperativ und freundlich, soweit gut auskunftsfähig, bewußtseinsklar, voll orientiert, kein schwerwiegendes kognitiv- mnestisches Defizit, Gedankenductus: geordnet, kohärent; Konzentration und Antrieb unauffällig; Stimmungslage bedrückt, stabil, wenig affizierbar; Affekte: angepasst, keine produktive Symptomatik

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

depressive Störung, Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung, verminderte Leistungsfähigkeit

2 Stufen über unterem Rahmensatz, da schon dauerhafte affektive und somatische Störungen vorliegend.

03.05.01

30


Gesamtgrad der Behinderung          30 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

--

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

---

Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:

X Dauerzustand

…“

Mit Schreiben vom 08.06.2020 brachte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer dieses Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Wahrung des Parteiengehörs gemäß § 45 AVG zur Kenntnis und räumte die Möglichkeit einer Stellungnahme ein.

Mit Eingabe vom 02.07.2020 legte der Beschwerdeführer aktuelle Befunde vor.

Die befasste Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie nahm in einer ergänzenden Stellungnahme vom 07.07.2020 zu den erhobenen Einwendungen Stellung und führte aus wie folgt:

„Antwort(en):

Sachverständigengutachten 04 06 2020: depressive Störung, Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung, verminderte Leistungsfähigkeit GdB 30% aktuell: Im Zuge des Parteiengehörs wurden vom AW neue medizinische Befunde nachgereicht:

1.) Ordinationsdokumentation Orthopädin XXXX 01/2020- 03/2020:

AD VERORDNUNG: Lordoloc-Mieder ....

2.) Diagnose und Therapiebestätigung Psychiater XXXX 01 07 2020:

seit 25.05.2020 in meiner Behandlung.

Diagnose: Mittelgradige depressive Episode{F32.1}

3.) Anwesenheitsbestätigung Nerven FA XXXX 13 01 2020 11:00- 11:45

die restlichen Befunde waren schon am Untersuchungstag vorliegend.

Die Beschwerden des Bewegungsapparates erreichen aus neurologischer Sicht keinen Grad der Behinderung, da keine relevanten neurologischen Ausfälle vorliegend. Es ergibt sich keine andere Einschätzung.“

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 08.07.2020 wies die belangte Behörde den Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab. Mit einem Grad der Behinderung von 30 % erfülle der Beschwerdeführer nicht die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien der Beilage, die einen Bestandteil der Begründung bilde, zu entnehmen. Dem Beschwerdeführer sei mit Schreiben vom 08.06.2020 Gelegenheit gegeben worden, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Aufgrund seiner im Zuge des Parteiengehörs erhobenen Einwände vom 02.07.2020 sei eine abermalige Überprüfung durch die ärztliche Sachverständige durchgeführt und festgestellt worden, dass sich hieraus keiner Änderung der ursprünglichen Gesamteinschätzung ergebe. Die Ergebnisse des Begutachtungsverfahrens seien als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt worden. Mit dem Bescheid wurden dem Beschwerdeführer das ärztliche Sachverständigengutachten vom 08.06.2020 sowie die Stellungnahme vom 07.07.2020 übermittelt.

Mit Schreiben vom 14.08.2020 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid fristgerecht die gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin brachte er im Wesentlichen vor, im Bescheid und SV-Gutachten seien lediglich seine psychiatrischen Beschwerden berücksichtigt worden. Zudem seien sie nur im Ausmaß von 2 Stufen über dem unteren Rahmensatz berücksichtigt worden. Seine Beschwerden aus dem orthopädischen Bereich seien nur erwähnt worden, obwohl körperliche Funktionseinschränkungen vorliegen würden. Er leide seit mehr als einem Jahr an Funktionsstörungen der linken unteren Extremität. Bislang liege ein Befund vom 07.08.2020 vor und er sei in laufender orthopädischer Behandlung. Er könne sich zeitweise nicht bücken, nur erschwert gegen und leide häufig unter erheblichen Schmerzen. Er ersuche um Berücksichtigung des Gesamtausmaßes seiner psychischen und physischen Funktionseinschränkungen.

Mit Schreiben vom 08.09.2020 legte die belangte Behörde die Beschwerde und den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor, wo diese am selben Tag einlangten.

Das Bundesverwaltungsgericht erteilte dem Beschwerdeführer mit Erledigung vom 23.09.2020 einen Mängelbehebungsauftrag aufgrund des Fehlens der eigenhändigen Unterschrift der Beschwerde.

Mit am 07.10.2020 eingelangter Mängelbehebung brachte der Beschwerdeführer eine eigenhändig unterschriebene Beschwerde mit dem bereits oben wiedergegebenen Inhalt ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (in der Folge VwGVG) hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, ist vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auszugehen. Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.

Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Wie der Verwaltungsgerichtshof im oben angeführten Erkenntnis ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Es steht fest, dass bei der von der belangten Behörde veranlassten medizinischen Untersuchung durch die Sachverständige der belangten Behörde, kein von der belangten Behörde bestellte/r Dolmetscher anwesend gewesen ist, sondern dass die psychiatrische Untersuchung auf Deutsch durchgeführt wurde und dabei im Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie vom 08.06.2020 sowohl unter dem Punkt Anamnese „etwas eingeschränkte Anamneseerhebung auf Grund der Sprachbarriere“ sowie unter dem Punkt Status Psychicus „durch Sprachbarriere etwas beeinträchtigt“ festgehalten wird.

Die Muttersprache der beschwerdeführenden Partei ist Kurdisch und nicht Deutsch. Zwar versteht die beschwerdeführende Partei Deutsch, diese ist jedoch offensichtlich nicht in der Lage, komplexe Sachverhalte, wie beispielsweise Angaben zum Status Psychicus, in einer Fremdsprache zu schildern. Dies lässt sich auch bei der Durchsicht des medizinischen Sachverständigengutachtens vom 08.06.2020 erkennen, zumal die Sachverständige sowohl bei der Anamneseerhebung sowie bei der Erhebung des Status Psychicus auf die Sprachbarriere hinweist.

Für den Fall, dass Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine zu vernehmende Person der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist, hat die ermittelnde Behörde dem von sich aus nachzugehen und weitere Ermittlungen in dieser Richtung anzustellen (vgl. VwGH 8.11.2016, Ra 2016/09/0098). Nachdem die beschwerdeführende Partei iranischer Staatsbürger ist und sich erst seit 2016 in Österreich aufhält, liegen ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass davon auszugehen war, dass dieser der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig ist. Dies ist auch darin belegt, dass die medizinische Sachverständige ausführte, dass es während der Untersuchung zu Verständigungsproblemen auf Grund der Sprachbarriere kam.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 23.11.2017, Ra 2016/11/0160, zur Frage, ob auch bei einem Sachverständigenbeweis bei mangelnder Deutschkenntnis ein Dolmetscher beizuziehen ist, ausgeführt, dass je nach dem Ergebnis dieser Ermittlungen die Behörde die Beiziehung eines Dolmetschers - auch im Rahmen der Befundaufnahme durch einen Sachverständigen - zu veranlassen hat, oder, falls sie dies nicht für erforderlich hält und demgemäß davon Abstand nimmt, schlüssig zu begründen hat, warum die Beiziehung eines Dolmetsch (ungeachtet der gegebenen Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit seiner Beiziehung) nicht notwendig sei.

Die belangte Behörde führte in der Begründung des angefochtenen Bescheides nicht aus, weswegen sie von der Beiziehung einer/s Dolmetschers/in absah. Es ist jedoch die Aufgabe der belangten Behörde festzustellen, ob die beschwerdeführende Partei in der Lage ist, einer medizinischen Untersuchung in deutscher Sprache, welche nicht deren Muttersprache ist, zu folgen, oder nicht. Derartige Ermittlungen unterblieben.

Dies bedeutet, dass im gegenständlichen Verfahren auch bei einer Befragung im Rahmen einer Befundaufnahme durch einen Sachverständigen ein/e Dolmetscher/in beizuziehen gewesen wäre, um dem Gebot des § 39a AVG, dessen Befolgung für ein mängelfreies Verfahren unabdingbar ist, zu entsprechen. Es entspricht nicht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit eines Verfahrens (fair trial), sprachunkundigen Personen keinen Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, somit ist das Ermittlungsverfahren der belangten Behörde mit einem groben Verfahrensmangel behaftet.

Folglich wird die belangte Behörde im fortgesetzten Verfahren ein neues medizinisches Sachverständigengutachten aus der Fachrichtung Psychiatrie/Neurologie basierend auf einer neuerlichen persönlichen Untersuchung der beschwerdeführenden Partei einzuholen haben, wobei dafür zu sorgen ist, dass bei dieser Untersuchung ein/e Dolmetscher/in für Kurdisch anwesend ist.

In medizinischen Sachverständigengutachten wird unter Einbeziehung aller vorliegenden medizinischen Befunde zu beurteilen sein, welche Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate dauern werden, bei der beschwerdeführenden Partei vorliegen. Sollte eine zu bisherigen Untersuchungsergebnissen abweichende Diagnose erstellte werden, ist dies ausführlich zu begründen.

Die Ergebnisse sind in einem medizinischen Sachverständigengutachten zusammenzufassen. Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die beschwerdeführende Partei mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt als mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der beschwerdeführenden Partei noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Von der Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wird gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen, zumal aus dem Beschwerdeakt ersichtlich ist, dass eine mündliche Erörterung der Rechtssache mangels ausreichender Sachverhaltserhebungen und Feststellungen der belangten Behörde eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W265.2234844.1.00

Im RIS seit

02.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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