TE Bvwg Beschluss 2020/10/14 W217 2235687-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.10.2020
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Entscheidungsdatum

14.10.2020

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W217 2235687-1/3E

BESCHLUSS!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Angela SCHIDLOF sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Nemetschke Huber Koloseus Rechtsanwälte GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 12.08.2020, OB: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses in nicht-öffentlicher Sitzung beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Frau XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführerin) beantragte am 29.04.2020 einlangend unter Beilage eines Konvolutes an medizinischen Befunden die Ausstellung eines Behindertenpasses.

1.1.    In der Folge holte die belangte Behörde nachstehendes Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin ein. Frau Dr. XXXX führt in ihrem Sachverständigengutachten vom 06.07.2020, basierend auf der persönlichen Begutachtung der Beschwerdeführerin, Folgendes aus:

„Anamnese:

Siehe auch VGA vom 07.11.2017: koronare Herzkrankheit, Zustand nach Myocardinfarkt 2014 mit kardiopulmonaler Reanimation, Zustand nach Stenting der LAD mit gutem Langzeitergebnis, Bluthochdruck 40% Depression 20%, Struma nodosa, Autoimmunthyreopathie 10% Gesamt-GdB 40%

Derzeitige Beschwerden:

Ich leide an Kreuzschmerzen, das linke Knie ist operiert worden, ich habe einen Fersensporn links, deshalb habe nehme ich auch eine Krücke. Manchmal habe ich Probleme mit der Luft. Ich habe Angst ich könnte wieder einen Infarkt bekommen

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

SORTIS FTBL 80MG 0-0-1

BLOPRESS TBL 8MG 1/2-0-0

SERTRALIN 1A FTBL 100MG 1-0-0

EUTHYROX TBL 25MCG 1-0-0

PANTOLOC FTBL 40MG 1-0-0

TRITTICO RET TBL 150MG 0-0-2/3

SPIROBENE TBL 50MG y2-0-0

CONCOR COR FTBL 1.25MG 1-0-0

VASTAREL FTBL 35MG 1-0-1

PREGABALiN ACC HKPS 25MG 1-1-1

RANEXA RET TBL 375MG 1-0-1

LiXIANA FTBL 60MG 1-0-0

Sozialanamnese:

verheiratet, 1 Sohn, zuletzt Reinigungskraft derzeit in befristeter Pension für 1 Jahr

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

INTERN KARDSOLOGiSCHE ANGiOLOGISCHE GRUPPENPRAXSS

Dr. XXXX - Dr. XXXX - Dr. XXXX vom 12.03.2020

DIAGNOSE

Z.n. MCI 2/14+ Kammerflimmern

LAD prox. 90%ige Stenose, Versorgung mit bare meta

St.p. Anämie nach protrahierter Reanimation

art. Hypertonie

St.p. Nikotinabusus

V.a. ACE-Hemmer-Unverträg!ichkeit

Hyperiipidämie

reaktive Depression

11-16- gutes Langzeitergebnis LAD

Kein Hinweis auf relevante pAVK

IMT bis 1,0 mm im Bulbus re

VHF

INTERN KARDSOLOGiSCHE ANGiOLOGISCHE GRUPPENPRAXSS

Dr. XXXX - Dr. XXXX - Dr. XXXX vom 24.02.2020

Anamnese:

Patient subjektiv kardial beschwerdefrei, kommt zur geplanten Kontrolle Patientin kommt zur kardialen Kontrolle. Patientin berichtet seit voriger Woche u?ber ein Druckgefu?hl im sternalen Bereich in Ruhe sowie in Belastung und Vertigo. Blutdruck in Selbstmessung eher im hypotonen Bereich.

BEFUND BERICHT:

Bei Vertigo und AV Block I! Wenckebach ad Holter zur weiteren Abklärung, zusätzlich Szinti zum Ausschluß einer ischämischen Ursache

Dr XXXX , FA fu?r Neurologie u. Psychiatrie vom 17.10.2019

leichtes OPS bei Z.n. Reanimation bei Herzstillstand, rez depressive

Episoden, posttraumatische Störung (nach Reanimation), gen.

Angststörung, Epidermoidzyste rechts frontoparietal, KHK,

substituierte Hypothyreose, Lumbago bei chron deg WShrkrankung,

Gonalgie links - OP (Meniskus) geplant

XXXX von 2019-10-24

Durchgefu?hrte Maßnahmen

Am 23.10.2019 Kniearthroskopie links, Resektion Piika mediopateilaris und infrapateliarls,

Knorpelglättung, VKB Healing Response nach Steadman

KH XXXX von 2019-05-18

Diagnosen

KHK -

CAG am 17.5.2019: Z.n. Stentimplantation proximale LAD mit schönem Langzeitergebnis, die

u?brigen Koronargefäße Wandunregelmäßigkeiten

Z.n. Myocardinfarkt 02/2014 mit Kammerflimmern und CPR

(Proximale LAD Stenose 90 % mit Baremetalstent)

Arterielle Hypertonie

Hyperlipidämie

Depressio

Substituierte Hypothyreose

Durchgefu?hrte Maßnahmen

Koronarangiographie am 17.5.2019

Röngtenbefund Linker Vorfuß vom 15.07.2019

Es findet sich ein breitbasiger 7 mm großer plantarer Fersensporn und ein 5 mm kleiner dorsaler

Fersensporn mit zusätzlicher im 1,4 cm großer Weichteilverkalkung im Ansatzbereich der Achillessehne

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

gut

Ernährungszustand:

gut

Größe: 167,00 cm  Gewicht: 90,00 kg  Blutdruck: -/-

Klinischer Status – Fachstatus:

57 Jahre

Haut/farbe: rosig sichtbare Schleimhäute gut durchblutet

Caput: Visus: unauffällig, Hörvermögen nicht eingeschränkt

Thorax. Symmetrisch, elastisch

Cor: Rhythmisch, rein, normfrequent

Pulmo: Vesikuläratmung, keine Atemnebengeräusche, keine Dyspnoe

Abdomen: Bauchdecke: weich, kein Druckschmerz, keine Resistenzen tastbar,

Hepar am Ribo, Lien nicht palp. Nierenlager: Frei.

Pulse: Allseits tastbar

Obere Extremität: Symmetrische Muskelverhältnisse. Nackengriff und Schürzengriff bds. durchführbar, grobe Kraft bds. nicht vermindert, Faustschluß und Spitzgriff bds. durchführbar. Reaktionslose Narbe rechter Ellbogen. Die übrigen Gelenke altersentsprechend frei beweglich. Sensibilität wird als ungestört angegeben

Untere Extremität: Zehenspitzen möglich und Fersenstand links nicht möglich, Einbeinstand bds. durchführbar, beide Beine von der Unterlage abhebbar, grobe Kraft bds. nicht vermindert, freie Beweglichkeit in beiden Hüftgelenken und rechten Kniegelenk, linkes Knie endlagig eingeschränkt, bandstabil, kein Erguss, Sensibilität wird links als vermindert angeben, symmetrische Muskelverhältnisse, keine Varikositas, keine Ödeme bds.

Wirbelsäule: Kein Klopfschmerz, Finger-Bodenabstand im Stehen: 30 cm,

Rotation und Seitwärtsneigung in allen Ebenen endlagig eingeschränkt

Gesamtmobilität – Gangbild:

kommt mit einer Unterarmstützkrücke

freies Gehen gut und sicher möglich, wobei die linke Ferse nicht ab Boden aufgesetzt wird

Status Psychicus: bewußtseinsklar, orientiert, kein kognitives-mnestisches Defizit, Gedankenstuktur: geordnet, kohärent, keine Denkstörung, Konzentration ungestört, Antrieb unauffällig, Stimmungslage ausgeglichen, gut affizierbar, Affekte angepasst, keine produktive Symptomatik

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

 

 

 

 

Lfd.

Nr

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Pos.Nr.

GdB %

1

koronare Herzkrankheit, Zustand nach Myocardinfarkt 2014 mit kardiopulmonaler Reanimation, Zustand nach Stenting der LAD mit gutem Langzeitergebnis, Bluthochdruck

oberer Rahmensatz, da Zustand nach abgelaufenem Herzinfarkt bei erhaltener Linksventrikelfunktion

05.05.02

40

2

Depression

eine Stufe u?ber dem unteren Rahmensatz, da unter Kombinationstherapie stabil

03.06.01

20

3

Degenerative Wirbelsäulenveränderungen

oberer Rahmensatz, da eine mäßiggradige Bewegungseinschränkung in allen Ebenen gegeben ist

02.01.01

20

4

Struma nodosa, Autoimmunthyreopathie

unterer Rahmensatz, da unter Substitutionstherapie euthyreote Stoffwechsellage erzielt werden kann

09.01.01

10

5

Abnützungserscheinungen im linken Kniegelenk

unterer Rahmensatz, da endlagige Einschränkung der Beugung

02.05.18

10

         Gesamtgrad der Behinderung  40 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Das fu?hrende Leiden unter lf. Nr. 1) wird durch die Gesundheitsschädigung unter lf. Nr. 2) bis 5) nicht erhöht, da kein maßgebliches ungu?nstiges funktionelles Zusammenwirken besteht

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Fersensporn links, da Therapieoptionen offen sind

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Gleichbleibend der Leiden des VGA. Hinzukommen von Leiden 3+5

Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:

keine Änderung des GdB

X        Dauerzustand      

1.2.    Mit Schreiben vom 07.07.2020 wurde der Beschwerdeführerin Gelegenheit gegeben, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Eine Stellungnahme langte nicht ein.

2.       Mit Bescheid vom 12.08.2020 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen, da sie mit einem Grad der Behinderung von 40% die Voraussetzungen hierfür nicht erfülle.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde und brachte vor, es sei unverständlich, weshalb trotz zweier gegenüber dem Vorgutachten hinzugekommener Leiden (Leiden 3 und 5) der Gesamtbehinderungsgrad nicht maßgeblich erhöht werde. Den einzelnen festgestellten Leiden werde im angefochtenen Bescheid nicht das tatsächliche Ausmaß der Beeinträchtigung bzw. Behinderung zuerkannt. Insbesondere seien weder die Leiden am Bewegungsapparat – massive degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit umfassenden deutlichen Bewegungseinschränkungen, Schmerzen im linken Knie mit eingeschränkter Beugung - noch die sich aus dem Zustand nach Herzinfarkt und Herz- Operation ergebenden gesundheitlichen Dauereinschränkungen medizinisch und damit auch rechtlich richtig beurteilt worden. Zu Unrecht völlig außer Betracht geblieben sei weiters die diagnostizierte Depression. Diese sei zwar in der Einzelbeurteilung mit 20 % Behinderungsgrad festgesetzt, wirke sich jedoch in der Gesamtfestsetzung des Grades der Behinderung offenkundig nicht erhöhend aus. (Auch) dadurch sei der angefochtene Bescheid mit Mangelhaftigkeit behaftet. Nicht zuletzt in Anbetracht der schweren Herzerkrankung der Beschwerdeführerin sei es unverständlich, dass die Untersuchung lediglich durch eine Allgemeinmedizinerin erfolgt sei und kein Sachverständiger aus dem Gebiet der Inneren Medizin beigezogen wurde. Angesichts des Krankheitsbildes der Beschwerdeführerin fehlten ebenso medizinisch fundierte gutachterliche Einschätzungen von Sachverständigen für Orthopädie sowie für Psychiatrie/Neurologie. Der angefochtene Bescheid, mit dem lediglich 40 % Gesamtbehinderungsgrad festgesetzt werde, stehe schließlich in Widerspruch zu dem Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt vom 09.06.2020, mit welchem der Beschwerdeführerin eine Invaliditätspension, vorerst befristet bis 30.06.2021, zuerkannt worden sei.

3.       Mit Schreiben vom 02.10.2020 langte die Beschwerde samt Fremdakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Gesetzliche Bestimmungen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

2.       Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:

„§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.“

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

In dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin wurde nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 06.07.2020 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden „koronare Herzkrankheit, Zustand nach Myocardinfarkt 2014 mit kardiopulmonaler Reanimation, Zustand nach Stenting der LAD mit gutem Langzeitergebnis, Bluthochdruck“, „Depression“, „degenerative Wirbelsäulenveränderungen“, „Struma nodosa, Autoimmunthyreopathie“ sowie „Abnützungserscheinungen im linken Kniegelenk“ mit 40 v.H. eingeschätzt.

Obwohl die Beschwerdeführerin bereits mit dem Antrag umfangreiche medizinische Beweismittel vorgelegt hat, aus denen sich ergibt, dass bei der Beschwerdeführerin Gesundheitsschädigungen des internistischen, orthopädischen sowie psychiatrischen/neurologischen Formenkreises vorliegen, wurde lediglich ein medizinisches Gutachten durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin eingeholt.

Dieses erscheint nicht ausreichend zur Beurteilung des Beschwerdebildes der Beschwerdeführerin.

Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit des eingeholten Gutachtens an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin erfolgt. Die vorgelegten Beweismittel enthalten konkrete Anhaltspunkte, dass jedenfalls die Einholung von Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Innere Medizin, Orthopädie sowie Psychiatrie/Neurologie erforderlich sind, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.

Das eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin bereits im Antrag jedenfalls auch kardiologische, orthopädische und psychiatrische/neurologische Leidenszustände durch Vorlage von medizinischen Beweismitteln vorgebracht hat, mangels Fachkenntnis nicht ausreichend zur qualifizierten Beurteilung des Gesamtleidenszustandes.

Auch hält die Sachverständige lediglich fest, dass keine relevante ungünstige Leidensbeeinflussung der Leiden 2-5 mit Leiden 1 vorliegt. Ausführungen darüber, wie sie zu dieser Schlussfolgerung kommt, lässt die Sachverständige jedoch vermissen. Das der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist somit auch hinsichtlich der Beurteilung des Gesamtleidenszustandes nicht nachvollziehbar.

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen kann somit nicht von einer Schlüssigkeit des eingeholten Sachverständigengutachtens gesprochen werden.

Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, jedenfalls auch Gutachten der Fachrichtungen Innere Medizin, Orthopädie und Psychiatrie/Neurologie einzuholen.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015).

Im fortgesetzten Verfahren wird sich die belangte Behörde medizinische Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Innere Medizin, Orthopädie und Psychiatrie/ Neurologie – auf Basis fachärztlicher Untersuchungen – einzuholen haben, wobei die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W217.2235687.1.00

Im RIS seit

02.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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