TE Bvwg Erkenntnis 2020/4/30 W173 2166619-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.04.2020
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Entscheidungsdatum

30.04.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W173 2166618-1/13E

W173 2166619-1/13E

W173 2166621-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margit Möslinger-Gehmayr als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 2) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 3) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, alle vertreten durch den RA Mag. Julian Motamedi, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 17.7.2017, zu den Zahlen 1) XXXX , 2) XXXX und 3) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 2.12.2019 zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. XXXX (in der Folge 1.BF), XXXX (in der Folge 2.BF) und XXXX (in der Folge 3.BF) reisten im Jänner 2016 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten am 22.1.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den minderjährigen 2.BF stellte die 1.BF als gesetzliche Vertreterin am 22.1.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei ihrer Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Salzburg am 23.1.2016 gab die 1.BF an, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und schiitischen Glaubens zu sein. Sie spreche Dari und habe fünf Jahre die Grundschule in einer afghanischen Schule im Iran besucht. Von ihren Eltern sei ihr Vater bereits verstorben. Sie habe eine Mutter und einen Bruder (35 Jahre). Sie stamme aus XXXX , XXXX in Afghanistan, wo sie am XXXX geboren sei. Vor 20 Tagen sei der Entschluss zur Flucht gefallen. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die 1.BF an, dass sie vor ca. 15 Jahren mit ihren Eltern von Afghanistan in den Iran geflohen sei. Seitdem lebe sie dort und habe dort ihren Mann ( XXXX – 3.BF) kennengelernt, geheiratet und ein Kind ( XXXX – 2.BF) bekommen. Da ihr Mann für den Iran keine Aufenthaltserlaubnis mehr gehabt habe, seien sie als Familie zurück nach Afghanistan gegangen, wo sie sich ca. 3 Monate lang aufgehalten hätten, bevor sie geflohen seien. Wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit hätten sie immer die Taliban bedroht. Sie seien in Gefahr gewesen und deshalb geflüchtet.

Der 3.BF gab im Zuge seiner Erstbefragung am 23.1.2016 an, Hazara schiitischen Glaubens zu sein. Er sei am XXXX in Logar in Afghanistan geboren. Seine Muttersprache sei Dari. Seien Eltern seien ihm unbekannt. Er habe Schwestern ( XXXX XXXX Jahre und XXXX Jahre). Vor drei Monaten sei der Entschluss zur Ausreise gefallen. Er wolle in Österreich bleiben, weil es hier besser sei als in anderen Ländern. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass er Angst vor den Taliban habe, da man entweder für die Taliban kämpfen oder sonst umgebracht werde. Er sei vor 23 Jahren mit seinen Schwestern in den Iran geflüchtet. Seine Eltern seien im Krieg gestorben. Er sei dann im Iran aufgewachsen und habe dort bis vor 3 Monaten gelebt. Dann sei er nach Afghanistan zurück, da sein Aufenthalt im Iran illegal geworden sei. Seine Frau ( XXXX – 1.BF) habe er im Iran kennengelernt und geheiratet. Sein Sohn ( XXXX – 3.BF) sei im Iran geboren. Er sei in jenen Staat (Afghanistan), wo er um sein Leben gefürchtet habe, zurückgereist.

Für den minderjährigen 2.BF wurden von seiner Mutter (1.BF) als gesetzliche Vertreterin keine spezifischen Fluchtgründe vorgebracht.

3. In der Einvernahme durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion Steiermark, am 19.10.2016, führte die 1.BF aus, sie seien im Iran gewesen und seien dann für drei Monate nach Afghanistan gegangen. Es sei schwierig gewesen, dort zu leben. Es sei Krieg gewesen, Leute wären geköpft und Kinder und Frauen vergewaltigt worden. Sie habe das alles nicht selbst gesehen, sondern im Fernsehen verfolgt. Beim Verfolgen der Nachrichten sei sie depressiv geworden. Nachdem sie als kleines Kind Afghanistan verlassen habe und im Iran gelebt habe, sei es für sie sehr schwer gewesen, wieder in Afghanistan zu leben. Sie habe erst ihre schlimmen Kindheitserinnerungen vergessen, die für sie in Afghanistan wieder lebendig geworden seien. Vor Angst habe sie nie aus dem Haus gehen können. Sie hätten gedacht, dass Afghanistan für sie ruhiger und sicherer geworden sei. Das Gegenteil sei aber der Fall gewesen. Sie sei in Kabul geboren, hätten aber in XXXX gelebt. Danach seien sie in den Iran gegangen. Als sie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt sei, hätte sie in Kabul gelebt. Sie habe im Iran fünf Jahre nur eine afghanische Volksschule besucht, die dann von der Regierung geschlossen worden sei. Ihr Mann (3.BF) habe gearbeitet, während sie Hausfrau gewesen sei. Zum Verlassen ihres Herkunftsstaats befragt gab die 1.BF an, nach ihrem Iranaufenthalt nicht mehr gewohnt gewesen zu sein, Vergewaltigungen von Frauen und Kinder zu sehen. Sie habe deswegen Angst um ihr Leben und das ihres Kindes (2.BF) gehabt. Wenn ihr Mann (3.BF) tagsüber zur Arbeit gegangen sei, habe sie um seine Rückkehr gebangt, da es ständig Attentate und Explosionen gegeben habe. Das seien alle Fluchtgründe. Ihr Kind sollte in Sicherheit leben und anders als seine Eltern eine Ausbildung machen können. Auch sollte ihrem Kind keine Entführung – wie sie in Afghanistan vorkommen würden - passieren. Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor dem Krieg und der Unsicherheit in Afghanistan. Es gebe in ihrem Land keine Sicherheit. Das Kind ihres Bruders ( XXXX ) sei mitgekommen, allerdings wisse sie nicht, wo es wohne. In Österreich habe sie einen Deutschkurs absolviert und einen netten österreichischen Nachbar, der sie auf Feste mitnehme. Bei ihrer ersten Befragung habe sie noch erwähnen wollen, dass vor ihrer ersten Flucht aus Afghanistan eine Rakete das Haus ihre Familie getroffen habe und ihr Bruder dabei umgekommen sei. Sie habe ein Splitter an der Hand getroffen.

4. Der 3.BF gab in seiner Einvernahme durch das BFA am 19.10.2016 an, er habe seit seinem 7. Lebensjahr bis 2015 im Iran gelebt. Danach habe er drei Monate in Afghanistan gelebt, wo die Situation schlecht gewesen sei, sodass er das Land verlassen habe. Er komme aus Baraki XXXX Er habe derzeit keine Angehörigen in Afghanistan. Er sei Analphabet und es fehle ihm an einer Ausbildung. Im Iran habe er die Teppichherstellung gelernt und sei in einem Kunststoffherstellungsbetrieb tätig gewesen. In Afghanistan habe er hingegen keine feste Arbeit gefunden und diverse Hilfsarbeiten am Bau durchgeführt. Zu seinen Fluchtgründen führte der BF aus, dass er im Kindesalter nach dem Tot seiner Eltern auf Grund einer Bombe mit seinen zwei Schwestern in den Iran geflüchtet sei. Auf Grund seiner fehlenden Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis sei er immer wieder nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Nach seiner Heirat von ca. vier Jahren sei ein Leben im Iran noch schwieriger geworden, da er im Falle einer Zurückweisung nach Afghanistan seine Frau und sein Kind allein lassen hätten müssen. Im Glauben einer zwischenzeitigen Verbesserung der Lage in Afghanistan sei der Entschluss zur Rückkehr mit seiner Familie nach Afghanistan gefallen. Innerhalb des dreimonatigen Aufenthalts in Kabul hätten sie nicht in ihren Distrikt XXXX zurückgehen können, weil dort die Taliban über die Macht verfügt hätten. Die Lage für Hazara und Schiiten sei in Afghanistan schlecht. Bei Autofahrten werde man aufgehalten und mit seiner Familie geköpft. Da es in Afghanistan an Unterstützungsmöglichkeiten durch andere fehle und es unsicher sei, sei der Entschluss zum Verlassen des Landes gefallen. Dort gebe es Bomben und Explosionen. Bei einer Demonstration für die Rechte von Hazara seien unlängst 85 Menschen durch Attentate umgekommen. Die Vorfälle hätte mit ihm persönlich aber nichts zu tun. Die Taliban würden nicht einmal kleine Kinder wie seinen Sohn in Ruhe lassen und auch diese kleinen Kinder töten oder vergewaltigen. Er wolle nicht, dass seinem Kind so etwas passiere. Zu einer Rückkehr führte der 3.BF aus, dass Hazara in Afghanistan überhaupt nicht als Menschen betrachtet werden würden. Egal wo sie sich aufhalten würden, ihre Familien, Kinder und Frauen seien immer in Gefahr. Er befürchte, dass das Schicksal, das er erlitten habe, auch seine Kinder erleiden müssen. Er habe durch den Tod seiner Eltern keine Ausbildung erhalten und sich kein gutes Leben aufbauen können. In Österreich habe er keine Familienangehörigen. Er habe einen Deutschkurs besucht und sei bei Feierlichkeiten an seinem Wohnort anwesend. Seine älteren Schwestern (35 und 30 Jahre) hätten eine Aufenthaltskarte im Iran. Nach dem Tod seiner Eltern sei er mit ihnen von Logar aus, wo sie gewohnt hätten, mit Nachbarn geflüchtet. Im Iran habe seine Schwester den Sohn dieser Nachbarfamilie geheiratet. Anders als er hätten sie eine Aufenthaltskarte für den Iran. Er selbst habe nach der Heirat keine Dokumente vom Iran erhalten. Die Aufenthaltskarte seiner Ehefrau habe bei der Rückkehr nach Afghanistan seine Gültigkeit verloren.

Von Vorfällen, die ihn persönlich in Afghanistan betroffen hätten, könne er nicht berichten. Aber in Afghanistan könnten Hazara sich nicht einmal innerhalb eines Radius von 10 Kilometer in Sicherheit bewegen. Sie würden aufgehalten, Frauen und Kinder vergewaltigt und getötet. Er sei drei Mal zwischen dem Iran und Afghanistan gependelt, als er ledig gewesen sei. Als ausschlaggebenden Grund für die Flucht nach Europa nannte der BF den sich verschlechternden deprimierten Zustand seiner Frau, die an schlimme Kindheitserinnerungen habe denken müssen. Das Haus ihrer Familie sei durch eine Rakete getroffen worden, wodurch ihr Bruder getötet und sie an der Hand verletzt worden sei. Während seines letzten Aufenthalts sei er in der Früh zur Arbeit gegangen und abends nach Hause gekommen, wobei er jeden Tag durch ein Attentat oder Explosionen ums Leben hätte können. Seine Familie wäre dann auf sich alleine gestellt gewesen. Er habe damals in Kabul in XXXX in einem Haus mit drei Zimmern, die er gemietet habe, gelebt.

Im Rahmen der Einvernahme wurden vom 3.BF Kursbesuchsbestätigungen in Verbindung mit einem Empfehlungsschreiben sowie eine Heiratsurkunde in Kopie vorgelegt.

5. Das BFA hat mit den im Spruch angeführten Bescheiden vom 17.7.2017 die gegenständlichen Anträge der BF (1.BF bis 3.BF) auf internationalen Schutz jeweils bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Den BF wurden gemäß § 57 AsylG 2005 Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurden gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebungen jeweils gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig seien (Spruchpunkt III.) Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. den BF eine Fristen für die freiwilligen Ausreisen gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen eingeräumt. Begründend wurde ausgeführt, dass die BF in ihrer Heimat nicht asylrelevant bedroht oder verfolgt werden würden. Hinsichtlich einer Rückkehr könne keine aktuelle Bedrohungssituation für sie in Afghanistan festgestellt werden. Aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer und mangels sonstiger Anknüpfungspunkte sei auch kein schützenswertes Privatleben entstanden.

6. Gegen die im Spruch angeführten Bescheide vom 17.7.2017 wurde am 1.8.2017 von den BF, zu diesem Zeitpunkt vertreten durch den Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmBH, jeweils fristgerecht eine gleichlautende Beschwerde eingebracht und die gegenständlichen Bescheide in vollem Umfang angefochten. Das Ermittlungsverfahren und die zugrundliegenden Länderfeststellungen seien mangelhaft. Es seien keine Ermittlungen zur Herkunftsprovinz der Eltern der BF erfolgt. Die 1.BF sei nicht zur ihrer westlichen Einstellung und politischen Gesinnung befragt worden. Die BF würden mehrere Risikoprofile erfüllen. Sie seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara ständiger Verfolgung ausgesetzt seien. Dies gelt auch für Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die gegen die Scharia verstoßen würden, sowie Personen, die gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen würden. Es würde den BF der Umstand, den Großteil ihres Lebens im Iran bzw. Österreich verbracht zu haben, negativ ausgelegt. Vor allem sunnitische Extremisten der Taliban würden einen eher westlichen Lebensstil als im Widerspruch zum Islam stehend betrachten. Die BF seien sehr liberal eingestellt. Die 1.BF würde gerne eine Ausbildung zur Kindergartenpädagogin machen. Zudem trage sie gern westliche Kleidung. Weiters würden Extremisten in Afghanistan aufgrund ihres iranischen Akzents sofort erkennen, dass die BF länger im Ausland/Iran gewesen seien und ihnen deshalb eine feindliche politische bzw. gesellschaftlich-religiöse Einstellung unterstellen. Durch ihren Kleidungsstil und vor allem ihren Akzent, sei es ersichtlich, dass sie den Großteil außerhalb Afghanistans gelebt habe. Ebenfalls treffe dies auf den 3.BF zu, der seit seinem siebten Lebensjahr im Iran lebe. Die Lage in Kabul sei für Hazara gefährlich. Die BF seien im Fall der Rückkehr nach Afghanistan dem realen Risiko einer Verletzung von Art. 2 und 2 EMRK ausgesetzt, sodass ihnen subsidiärer Schutz jedenfalls zu gewähren wäre. Den Beschwerden waren Berichte zur Sicherheitslage und der Rückkehrsituation in Afghanistan, sowie Deutschkursbesuchsbestätigungen, Unterstützungserklärungen und diversen Fotografien der BF bei gesellschaftlichen Anlässen angeschlossen.

7. Die gegenständlichen Beschwerden und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 4.8.2017 von der belangten Behörde vorgelegt. Es wurden in der Folge diverse Unterlagen übermittelt. Dazu zählen der Erhalt eines Anerkennungsbeitrages der Marktgemeinde Eggersdorf an den BF 3 für die Monate Juni und Juli 2017 und September für geleistet Arbeiten sowie Teilnahmebestätigungen der BF 1 und des BF 3 am Werte- und Orientierungskurs im November 2017, an Deutschkursen auf Niveau A1 und am Gewaltpräventionskurs vorgelegt. Weiteres wurden Bestätigungen zur Teilnahme der BF 1 am Sportunterricht „Schwimmen“, am Erste-Hilfe-Grundkurs, am Tanzkurs, am Kurs „offener Sport für Frauen“, am Kurs für „Herz-Lunge-Wiederbelegung“, an der „Lerngruppe für Frauen“, an der Veranstaltung „Maser: Impfung schützt-Schadet Impfen?“, am Gemüsebauprojekt und am Projekt für „Hühnerhaltung der young farmers“, am Projekt „Elterngruppe“ und zu ihrer ehrenamtlichen Mitarbeit beim Team „Familie Schneider“ übermittelt. Mit Schreiben vom 11.9.2018 wurde eine Vollmachtsbekanntgabe für den Rechtsanwalt Mag. Julian Motamedi vorgelegt.

9. Am 2.12.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, des Rechtsvertreters der BF, RA Mag. Julian Motamedi, und der Zeugin XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

Die BF gaben eingangs an, keine gesundheitlichen Einschränkungen zu haben. Es fand eine getrennte Befragung der B1 und des BF 3 statt.

Die 1.BF führte eingangs aus, am XXXX geboren zu sein. Trotz ihrer Angabe dieses Geburtsdatums sei der XXXX im Protokoll vermerkt worden. Es sei ihr erst später die falsche Umrechnung aufgefallen. Sie sei afghanische Staatsangehörige und stamme aus dem Bezirk XXXX in der Provinz Logar. Sie sei schiitische Muslimin und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Da sie Afghanistan im Alter von sieben Jahren verlassen habe, sei ihr das Heimatdorf unbekannt. Damals habe Bürgerkrieg geherrscht. Sie habe das Land mit ihren Eltern und ihrem Bruder verlassen und seien von Kabul nach Teheran geflohen. Sie habe im Iran eine Ehe geschlossen und sei dann nach Europa geflohen. Sie spreche muttersprachlich Dari und verstehe auch Farsi. Ein wenig Deutsch habe sie in Österreich gelernt. Sie habe die A1-Prüfung bestanden. Sie sei mit dem 3.BF verheiratet und habe mit ihm ein gemeinsames Kind (2.BF). Der 2.BF sei sechs Jahre alt. Ihr Vater sei verstorben und der Wohnort ihrer Mutter und ihres Bruders sei ihr unbekannt. Bis zu ihrer Eheschließung wären sie gemeinsam in Teheran gewesen. Sie sei in einer sehr konservativen Familie aufgewachsen. Sie habe nur fünf Jahre die Schule besuchen dürfen und immer einen Tschador tragen müssen, da die Mehrheit in Teheran einen Tschador getragen habe. Nach Schließung der Schule durch die iranischen Behörden und auf Grund der großen Entfernung der nächstgelegenen Schule seien ihr Vater und ihr Bruder gegen einen weiteren Schulbesuch gewesen. Sie habe zuhause bleiben müssen, das Haus nicht verlassen und ihre Freunde nicht besuchen dürfen. Ihren Ehemann habe sie bis zur Eheschließung nicht gesehen. Die Ehe sei durch eine Schwägerin arrangiert worden, die die 1.BF auf einer Hochzeitsfeier gesehen und ausgewählt habe. Bei dieser Hochzeitfeier habe die 1.BF ein Kopftuch getragen. Ihre Familie habe die Entscheidung einvernehmlich getroffen. Sie habe ihren Ehemann eine Woche vor der Hochzeit getroffen. Obwohl sie eigentlich nicht heiraten habe wollen, habe sie sich nicht dagegen ausgesprochen und ihre Meinung dazu äußern können, weil ihr Bruder sehr streng gewesen sei. Selbst im Haus habe sie ein Kopftuch und lange Kleidung tragen müssen. Den Mut dagegen zu opponieren, habe sie nicht gehabt. Selbst bei einer Freundin seien die Eltern genauso streng gewesen. Die Verlobung habe sie einfach akzeptiert, weil sie selbst nicht die Entscheidung treffen habe können. Über ihre Zukunft hätten ihr Vater und ihr Bruder entschieden. Dagegen habe nichts sagen dürfen. Die äußere Erscheinung ihres Ehemanns sei positiv gewesen. Im gemeinsamen Haushalt sei er anfangs nicht anders als ihr Bruder und streng gewesen. Sie habe das Haus nicht verlassen, einkaufen oder Freunde besuchen dürfen. Mit der Zeit sei ihr Ehemann anders geworden und danach sei es für sie leichter geworden. Sie habe zu Hause ihr Kopftuch nicht mehr getragen und ihr Mann sie auch nicht mehr so streng wie am Anfang gewesen. Sie habe mit ihrem Ehemann Glück gehabt und liebe ihn sehr. Im Allgemeinen sei eine arrangierte Ehe nicht gut, zumal nicht jede dasselbe Glück wie sie habe. Es gebe viele arrangierte Ehen, die „daneben gehen“ würden. Beispielsweise gebe es Ehemänner, die ihre Frauen schlagen, sie beschimpfen und schlecht über sie reden würden. Bei ihrer Tochter würde sie nie den Ehemann aussuchen oder das erlauben. Ihre Töchter sollten selbst entscheiden können. Sie wolle, dass ihre Tochter jemanden kennenlerne, liebe und selbst entscheide. Sie solle von Anfang an ein glückliches Leben haben. Im Iran habe der 3.BF im Allgemeinen das Geld gehabt und ihr sporadisch für das Einkaufen Geld gegeben. Sie habe in einem gewissen Sinne selbst Entscheidungen treffen können und das sehr geschätzt. Sie wolle nun selbst Entscheidungen treffen, was ihr seit ihrem Leben in Österreich möglich sei. Zum Beispiel dürfe sie lernen, arbeiten und entscheiden, wohin sie gehen wolle. Sie habe nun die Freiheit. Sie habe auch das Kopftuch abgenommen. Am Anfang sei es für ihren Ehemann nicht leicht gewesen, aber er habe aufgegeben, dagegen zu sein. Sie trage seit einem halben Jahr kein Kopftuch und besuche Freunde und Freundinnen. Sie habe sowohl männliche als weibliche Freunde. Sie habe sogar mit ihren Freundinnen Salzburg für zwei Nächte besucht. Sie gehe schwimmen, fahre Fahrrad und helfe auch ehrenamtlich beim Roten Kreuz als Schneiderin. Sie habe in Österreich das Schneidern gelernt und dürfe hier auf eigenen Beinen stehen. Darunter verstehe sie, zu arbeiten, Geld zu verdienen und nicht darauf zu warten, dass ihre jemand Geld gebe. In Afghanistan würde sie die alten Traditionen nie wieder annehmen und auch nicht mehr erleben wollen. Wenn sie wieder nach Afghanistan zurückkehren würde, würde sie ihr Selbstbewusstsein, ihre Freiheit verlieren und dort nicht mehr arbeiten, schwimmen oder Fahrrad fahren dürfen. Sie müsste dort auch wieder lange Kleidung und eine Burka tragen. Die religiösen Leute würden dort diese Kleidung tragen. Ihre Familie sei sehr religiös. Ihr Mann sei nicht mehr so konservativ, seitdem er in Österreich sei, aber im Iran sei er es schon gewesen. Sie glaube, es hänge davon ab, wo er sich befinde. Ihr Leben sei einfacher geworden, aber einen Tschador habe sie immer tragen müssen. Sie habe mit der Zeit offen mit ihm sprechen können und sein Verhalten habe sich im Lauf der Zeit verbessert. Ihr Mann habe im Iran in einer Plastikfirma gearbeitet. Er habe am frühen Morgen das Haus verlassen und sei abends wieder zurückgekommen. Er habe illegal im Iran gelebt und Angst vor der iranischen Polizei gehabt. Er habe Schmiergeld zahlen müssen, sodass sie beschlossen hätten, freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren. Das sei zweieinhalb Jahre nach ihrer am 28.6.2012 geschlossenen Ehe gewesen. Sie hätten ca. 3 Monate in Kabul gelebt und die Sicherheitslage sei sehr schlecht gewesen. Täglich habe sich ihre Lage verschlechtert. Sie hätten zurück in den Iran gehen müssen und seien dann nach Europa geflüchtet. Ihr Mann hätte sonst nach Syrien in den Krieg gehen müssen oder wäre nach Afghanistan abgeschoben worden. In Afghanistan habe ihr fleißiger Mann irgendwie Arbeit gefunden, aber es sei nicht leicht gewesen. Er habe ein paar Tage in einer Bäckerei gearbeitet. Ihr Ehemann habe zwei im Iran lebende Schwestern. Mit diesen sei er nach dem Tod seiner Eltern gemeinsam in den Iran geflohen, wo sie als Familienoberhaupt aufgetreten seien. Er habe keine Schule besucht und im Iran arbeiten müssen. Sie hätten die Flucht nach Österreich mit Familienersparnissen finanziert. Sie seien 2016 nach Österreich gekommen. Sie arbeite in Österreich einmal in der Woche als Schneiderin. Zwei Mal im Monat gehe sie beim Roten Kreuz ehrenamtlich arbeiten und fünf Tage die Woche besuchen sie den Deutschkurs. In ihrer Freizeit gehe sie schwimmen, Fahrrad fahren und treffe Freundinnen. Aktuell würden sie außerhalb der Stadt XXXX leben. Sie hätten mit eigenem Geld Tickets kaufen müssen, da der Deutschkurs in XXXX stattfinde. Als sie noch in der Nähe von XXXX gewohnt hätten, habe es keinen Deutschkurs gegeben. Sie habe sich bemüht und nachgefragt, ob sie eine Schule besuchen könne, aber ihr sei gesagt worden, dass sie zu alt dafür wäre. Danach habe sie sich bemüht, eine Lehre oder Ausbildung anzufangen. Sie wolle in einem Friseursalon als Friseurin oder Kosmetikerin arbeiten. Sie habe auch nachgefragt, es gebe nämlich einen Friseursalon in der Nähe ihres Wohnorts. Sie hätten ihr gesagt, dass sie zuerst B1 Niveau erreichen und danach eine dreijährige Ausbildung machen müsse. Sie habe die Prüfung für den Pflichtschulabschluss leider noch nicht bestanden. Sie wolle in Zukunft ihren Pflichtschulabschluss absolvieren. In deutscher Sprache konnte die 1.BF gebrochen und nachvollziehbar von ihrem Sohn erzählen.

Weiters führte die 1.BF aus, nach dem Aufstehen bringe sie ihren Sohn in den Kindergarten. Wieder zu Hause erledige sie ihre Hausaufgaben und gehe einkaufen. Auf Grund der Entfernung von der Stadt XXXX müsse sei um 12 Uhr Richtung XXXX losfahren, um zum dort um 13:30 Uhr beginnenden Deutschkurs, der bis 15:00 Uhr dauere, rechtzeitig zu gelangen. Danach gehe sie mit Freunden in die Stadt, um einen Spaziergang zu machen und dann wieder nach Hause zu kommen. Sie sei zuständig für das, was außerhalb erledigt werden müssen während ihr Ehemann sei zuständig für das, was im Haushalt zu erledigen sei. Sie gehe einkaufen und erledige Behördenwege. Ihr Mann sei meistens zu Hause, koche für sie und erledige den Haushalt. Er arbeite aktuell jede 2.Woche bei der Gemeinde und gehe auch zwei Mal pro Woche in einen Deutschkurs. Sie habe einen Neffen in Österreich, der mit ihnen als Minderjähriger eingereist und mittlerweile volljährig sei. Sie hätten ständig Kontakt und würden sich besuchen. Er absolviere als subsidiär Schutzberechtigter eine Lehre. In Afghanistan habe sie keine Verwandten. Im Fall einer Rückkehr befürchte sie, dass sie ihre Rechte als Frau verliere, zumal es in Afghanistan habe den Frauen an Rechten fehle. Frauen hätten dort nur Pflichten. Dort wäre es ihr nicht möglich, ihre Freundinnen zu treffen oder schwimmen zu gehen. Es fehle ihr an Freiheit und sie müsse immer eine Burka tragen. Der 2.BF habe dieselben Fluchtgründe wie sie. Wegen der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan könnte er dort nicht die Schule besuchen. In Österreich könne er alles machen, was ihm zustehe. Selbst wenn er in Afghanistan einen Beruf erlernen könnte, herrsche in Afghanistan Krieg. Auf Fragen ihrer Rechtsvertretung führte die 1.BF aus, dass sie zum Schwimmen einen Bikini trage und sich ihr Sohn seine Religion selbst aussuchen könne. Zurzeit sei er noch im Kindergarten und sei für keinen Religionsunterricht angemeldet. Sie wolle ihn nicht zwingen. Sie würde es sich in Österreich nicht gefallen lassen, dass ihr Mann sie schlage und würde die Polizei rufen.

Der 3.BF bestätigte, mit der 1.BF seit der im Iran stattgefundenen Hochzeit 2012 verheiratet zu sein und einen gemeinsamen Sohn (2.BF) zu haben. Seine ältere Schwester, die die Funktion eines Familienoberhauptes eingenommen und damals in Teheran ebenso wie seine Schwiegereltern in XXXX gelebt habe, habe die Verlobung arrangiert. Er sei mit der Wahl einverstanden gewesen. Er habe zwei Schwestern. Seine älteste, 36-jährige Schwester habe sich um ihn als 7-jährigen nach dem Tod ihrer Eltern in Logar im Bürgerkrieg gekümmert. Sie seien gemeinsam mit der Nachbarfamilie in den Iran geflüchtet. Die Familie seiner Ehefrau habe er erst bei der Verlobung kennengelernt. Sie stamme auch aus Logar und sei in den Iran wegen des Bürgerkrieges geflüchtet, bei dem der Bruder der 1.BF getötet und seine Ehefrau im Handbereich verletzt worden sei.

Er sei XXXX geboren, afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Muslim, Hazara und spreche muttersprachlich Dari. Er spreche auch Farsi und habe in Österreich ein wenig Deutsch gelernt. Er sei in Teheran mit seinen Schwestern bei der Nachbarsfamilie aufgewachsen und habe keine Schule besucht. Er sei Analphabet. Er sei von Beruf Bäcker und habe auch Teppiche geknüpft, als er noch klein gewesen sei. Die letzten 10 Jahre habe er in einer Plastikfabrik gearbeitet. Er sei illegal im Iran gewesen. Seine beiden verheirateten Schwestern hätten wegen ihres Familienstandes einen Aufenthaltstitel gehabt. Er sei ledig gewesen und habe keinen Aufenthaltstitel bekommen. Nach seiner Eheschließung hätten sich die Gesetze geändert. Ein Afghane hätte im Iran keinen Aufenthaltstitel bekommen. Anders als seine Ehefrau hätten er und sein Sohn keinen Aufenthaltstitel bekommen. Seine Schwestern und er hätten im Iran bei der Nachbarsfamilie, die mit ihnen aus Afghanistan geflüchtet sei, vom Teppichknüpfen gelebt. Nach der Heirat seiner Schwestern sei er allein gewesen und habe bei den jeweiligen Arbeitsstätten gelebt. Nach seiner Heirat habe er mit seiner Ehefrau in einer Wohnung zusammengelebt.

Er sehe sich im Allgemeinen als sehr liberal. In der afghanischen oder iranischen Gesellschaft müsse man ein bisschen konservativ sein, da man sich der Gesellschaft anpassen müsse. Es gelte die gesellschaftlichen Zwänge, wie z.B. das Tragen eines Tschadors, einzuhalten. Käme man dem nicht nach, würde der Ehemann beschimpft, die Ehe nicht wahrzunehmen. Er habe sich den gesellschaftlichen Zwängen angepasst. Seine Frau(1.BF) sei im Iran Hausfrau gewesen und habe den Haushalt geführt. Als sein Sohn eineinhalb Jahre alt gewesen sei, sei der Entschluss gefallen, zurück nach Afghanistan zu gehen. Im Iran sei das Leben nicht leicht gewesen. Er sei illegal dort gewesen und Afghanen seien ständig angehalten, festgenommen und nach Syrien in den Krieg geschickt worden. Nur mit der Bezahlung von sehr viel Schmiergeld sei man freigekommen. Es habe die Varianten gegeben, zurück nach Afghanistan geschoben zu werden oder in den Krieg nach Syrien zu gehen. Im Iran habe er von 7 bis 19 Uhr in der Plastikfirma gearbeitet. Die Gesellschaft im Iran sei auch sehr streng. Eine Frau habe bei Verlassen des Hauses einen Tschador oder ein Kopftuch tragen müssen. Als sie nach Afghanistan zurückgekehrt seien, sei es schlechter gewesen, als sie gedacht hätten. Sie hätten dann ca. drei Monate in der Stadt Kabul gewohnt. Er habe ein wenig Ersparnisse gehabt und außerdem als Tagelöhner gearbeitet. Sie hätten aufgrund der schlechten Sicherheitslage und auch aufgrund des immer schlechter werdenden psychischen Zustands seiner Frau Afghanistan wieder Richtung Iran verlassen. Im Iran hätte seine Frau in der Umgebung ihres Hauses zumindest einkaufen gehen können, was in Kabul nicht möglich gewesen sei. Er habe es ihr auch nicht erlaubt, weil es die Gesellschaft in Kabul so verlange. Er habe keine Verwandten in Afghanistan.

In Österreich lebe der Sohn seines Schwagers. Er habe in Österreich einen Deutschkurs besucht, arbeite als gemeinnützig bei der Gemeinde und lebe von der Grundversorgung. Seine Frau besuche aktuell einen Deutschkurs und verlasse täglich um 12 Uhr das Haus, um den um 15 Uhr beginnenden Deutschkurs rechtzeitig zu erreichen. Danach gehe sie mit ihren Freundinnen rund eineinhalb Stunden spazieren und komme dann nach Hause. Er bereite den Sohn für den Kindergarten und das Frühstück vor. Wenn seine Frau nicht zu Hause sei, passe er auf das Kind auf. Die meiste Hausarbeit erledige er, weil seine Frau den Deutschkurs besuche und beim Roten Kreuz sei. Der gemeinsame Sohn (2.BF) gehe derzeit bis Mittag in den Kindergarten. Danach hole er ihn ab und kümmere sich um ihn. Sein Sohn sollte wie die Nachbarskinder in eine öffentliche Schule gehen.

Da er Analphabet sei, falle ihm das Lesen und Schreiben in Deutsch sehr schwer. Das Sprechen sei ok. Er habe die A1 Prüfung nicht bestanden, weil er beim Lesen und Schreiben nicht gut genug gewesen sei. Der BF konnte von seinem Kind in deutscher Sprache eine gute Beschreibung abgeben.

In Österreich wolle er eine Lehre absolvieren und als Bäcker arbeiten. Im Fall einer Rückkehr habe er Angst um die Zukunft seiner Ehefrau und seines Sohnes. Seine Frau und sein Sohn würden die Freiheit und das Recht auf das, was ihnen zustehe, verlieren. Er müsse die Regeln achten, die in der Gesellschaft vorgehen. Er könne nicht seiner Frau das gewähren lassen, was hier in Österreich möglich sei. In Afghanistan sei er verpflichtet, seine Frau entsprechend der Tradition zu behandeln. Würde er dem nicht nachkommen, würde er von der Gesellschaft und dem Imam beschimpft. Er würde als ein Schwächling gelten. Auf Frage seines Rechtsvertreters gab der BF an, dass seine Frau das Geld verwalten würde. Wege mit dem Kind, wie z.B. Arztwege, erledige seine Frau.

Die als Zeugin einvernommene Frau XXXX gab an, die BF seit ihrer Ankunft in XXXX im Asylheim zu kennen. Sie sei damals ehrenamtlich tätig gewesen und habe die BF anfangs bei Einkäufen begleitet und mit ihnen Deutsch gelernt. Insbesondere die 1.BF habe sie näher kennenlernen können. Die 1.BF habe an Tanzkursen teilgenommen. Sie habe mit ihr mehrere Stadtfahrten unternommen. Die 1.BF sei ihr seit April 2016 bekannt. Damals habe die 1.BF noch ein Kopftuch getragen und sei sehr zurückhaltend gewesen. Nunmehr habe sie sich als junge Frau den österreichischen Traditionen angepasst. Sie habe bereits ihr Kopftuch abgelegt und trage eine moderne Frisur. Die 1.BF gehe allein aus und vertrete nunmehr ein Gedankengut, das ihren Willen bestätige, sich als Frau entfalten und wie eine österreichische Frau leben zu wollen. Aufgrund der Distanz von ihrem nunmehrigen Wohnort sei es schwieriger geworden, sich persönlich zu treffen. Sie würde sich mit der 1.BF in Deutsch über Whatsapp verabreden und manchmal in XXXX treffen. Die 1.BF habe sich heute besonders gestylt. Sonst trage sie normale Kleidung wie andere Österreicher auch.

Im Zuge der Verhandlung wurde von den BF Fotografien zu ihrer Teilnahme bei gesellschaftlichen Anlässen, diverse Sprach- und weitere Kursteilnahmebestätigungen sowie Nachweise über ehrenamtliche Tätigkeiten vorgelegt. Weiters wurde eine Stellungnahme zur Sicherheitslage und Rückkehrsituation in Afghanistan eingebracht. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass die 1.BF westlich orientiert sei und das Bundesverwaltungsgericht die Wohnsituation der BF in Afghanistan, die Ausbildungs- und Berufswünsche der 1.BF, die Ehesituation der 1.BF und ihre westliche Orientierung zu ermitteln habe.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1      Zu den Beschwerdeführern:

Die BF (1.BF bis 3.BF) tragen die im Spruch genannten Namen, sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an, sind schiitischen Glaubens und sprechen Dari. Die 1.BF und der 3.BF sind verheiratet und die leiblichen Eltern des 2.BF.

Die 1.BF und der 3.BF verließen ihre afghanische Heimatprovinz Logar bereits im Kindesalter. Sie sind in Teheran im Iran aufgewachsen und haben 2012 in Teheran geheiratet. Der 2.BF ist am 15.12.2013 geboren. Im Jahr 2015 hat die Familie den Iran verlassen und daraufhin für drei Monate in der Stadt Kabul gelebt, bevor sie zurück in den Iran und daraufhin nach Österreich ausgereist sind.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die 1.BF hat im Iran für fünf Jahre die Schule besucht. Ein weiterer Schulbesuch war ihr aufgrund der Schulschließung durch die afghanischen Behörden und ihr konservatives familiäres Umfeld nicht möglich. Sie war im Iran Hausfrau und hat keine Erwerbstätigkeit ausgeübt.

Die 1.BF will in Österreich in einem Friseursalon als Friseurin oder Kosmetikerin arbeiten. Sie hat sich bereits über die Voraussetzungen informiert, kann aber noch keinen Pflichtschulabschluss bzw. ein Niveau auf B1 für die deutsche Sprache vorweisen.

Die 1.BF hat eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1 bestanden.

Seit ihrer Ankunft in Österreich übt die 1.BF regelmäßig ehrenamtliche Tätigkeiten aus, nimmt aktiv am österreichischen Gesellschaftsleben teil und besucht verschiedene Sport- und Sprachkurse.

Die 1.BF hat während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in der Familie und Gesellschaft steht in Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die 1.BF hat eine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung ist wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden.

Den übrigen BF (2.BF bis 3.BF) droht in Afghanistan keine konkrete individuelle Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

1.2      Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019)

Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.4.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.5.2019). Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14. November 2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004, USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.1.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.6.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.1.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.6.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.8.2019) – bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 8.9.2019) – mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als “Marionette“ des Westens betrachten – auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.8.2019; vgl. NZZ 12.8.2019; DZ 8.9.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.1.2019; vgl. DP 28.1.2019, MS 28.1.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigten Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.5.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehreren Warlords, statt (Qantara 12.2.2019; vgl. TN 31.5.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.2.2019; vgl. NYT 7.3.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.3.2019; vgl. WP 18.3.2019).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die „große Ratsversammlung“ (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.5.2019).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5. bis 8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

Tab. 1: Anzahl sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan lt. INSO 2016-8.2019, monatlicher Überblick (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf INSO-Daten (INSO o.D.)
2016         2017    2018     2019

Jänner  2111    2203     2588    2118

Februar 2225    2062     2377    1809

März    2157    2533     2626    2168

April   2310    2441     2894    2326

Mai      2734    2508     2802    2394

Juni    2345    2245     2164    2386

Juli    2398    2804     2554    2794

August  2829    2850     2234    2443

September 2493    2548     2389    -

Oktober 2607    2725     2682    -

November 2348    2488     2086    -

Dezember 2281    2459     2097    -

insgesamt 28.838  29.866  29.493  18.438

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433. Die folgende Grafik der Staatendokumentation schlüsselt die sicherheitsrelevanten Vorfälle anhand ihrer Vorfallarten und nach Quartalen auf (BFA Staatendokumentation 4.11.2019):

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierun

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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