Entscheidungsdatum
20.07.2020Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W250 2198791-1/22E
W250 2198746-1/20E
W250 2198789-1/18E
W250 2198785-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. am XXXX , 2.) XXXX , geb. am XXXX alias XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. am XXXX alias XXXX und 4.) mj. XXXX , geb. am XXXX alias XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.05.2018 1.) zur Zl. XXXX , 2.) zur Zl. XXXX , 3.) zur Zl. XXXX , und 4.) zur Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.06.2020, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
XXXX , XXXX und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind traditionell miteinander verheiratet und die Eltern der männlichen Dritt- und Viertbeschwerdeführer. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste mit dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer in das Bundesgebiet und stellte am 25.04.2017 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer reiste mit einem weiteren Sohn in das Bundesgebiet zu seiner Familie nach und stellte hier am 24.05.2017 den Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 26.04.2017 wurde die Zweitbeschwerdeführerin durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftliche erstbefragt. Die Zweitbeschwerdeführerin gab betreffend ihre Fluchtgründe an, den Iran verlassen zu haben, weil die iranische Regierung von ihrem Mann verlangt habe ihren Sohn nach Syrien in den Krieg zu schicken. Der Erstbeschwerdeführer hätte aufgrund seiner Stelle als Lehrer auch andere überreden sollen in den Krieg nach Syrien zu gehen. Da die Familie dies nicht gewollt habe, und sie Angst um ihr Leben gehabt hätten, hätten sie schließlich den Iran verlassen.
Am 25.05.2017 fand die niederschriftliche Erstbefragung des Erstbeschwerdeführers durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Der Erstbeschwerdeführer gab betreffend seine Fluchtgründe an, dass seine Eltern und seine Schwester von seinen Feinden getötet worden seien. Er sei deshalb mit seinem älteren Bruder nach Mazar-e Sharif gezogen. Sein Bruder sei von seinen Feinden ebenfalls getötet worden, weshalb der Beschwerdeführer im Jahr 1375 (entspricht 1996) mit seiner Frau in den Iran gezogen sei. Im Iran habe man den Erstbeschwerdeführer nach Syrien in den Krieg schicken wollen. Da er dies nicht wollte, habe er mit seiner Familie den Iran verlassen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst vor seinen Feinden.
3. Am 18.04.2018 fand eine Einvernahme des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt bezeichnet) statt, bei der der Erst- sowie die Zweitbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen betreffend Afghanistan im Wesentlichen angaben, dass sie in Mazar-e Sharif geheiratet und mit dem Bruder des Erstbeschwerdeführers in einem Haus gelebt haben. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers habe in Mazar-e Sharif mit Grundstücken gehandelt. Er habe dann aufgrund der Grundstücke Probleme mit zwei Neffen des ehemaligen Bürgermeisters von Mazar-e Sharif und einem Dritten aus der Regierung bekommen. Eines Tages sei das Haus des Bruders des Erstbeschwerdeführers beschossen worden. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin seien zu einem Freund des Bruders des Erstbeschwerdeführers geflohen, der Bruder des Erstbeschwerdeführers sowie zwei Personen der Feinde seines Bruders seien bei dem Angriff getötet worden. Die Grundstücke seines Bruders seien von dessen Feinden in Besitz genommen worden. Der Beschwerdeführer sei danach von den Feinden seines Bruders bei seinem Schwiegervater – der ebenfalls in Mazar-e Sharif gelebt habe -, gesucht worden. Mit der Hilfe des Freundes seines Bruders seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin schlepperunterstützt in den Iran gereist. Als Karzai zum zweiten Mal Präsident Afghanistans geworden sei, habe der Erstbeschwerdeführer einen Rechtsanwalt in Afghanistan beauftragt um die Hinterlassenschaft seines Bruders – die Grundstücke und Häuser – zurück zu erhalten. Der Erstbeschwerdeführer sei davor gewarnt sich mit diesen Personen anzulegen. Der Rechtsanwalt des Erstbeschwerdeführers habe herausgefunden, dass die Grundstücke seines Bruders bereits mehrfach weiterverkauft und bebaut worden seien. Dem Rechtsanwalt sei gedroht worden, wegen dieser Sache nicht nochmals zu kommen. Im Falle einer Rückkehr würden die Beschwerdeführer von den Feinden des ältesten Bruders des Erstbeschwerdeführers getötet werden.
4. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass keine asylrelevante individuelle Verfolgungsgefährdung in Afghanistan glaubhaft gemacht worden sei. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin seien mobil, gesund und arbeitsfähig und würden über Berufserfahrung verfügen. Zudem könnten sie Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer würden aufgrund ihrer Rückkehr im Familienverband mit ihren Eltern in keine aussichtslose Lage geraten. Die Beschwerdeführer würden in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben verfügen, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.
5. Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und vorgebracht, dass die Beweiswürdigung des Bundesamtes nicht nachvollziehbar sei, zumal der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe sehr ausführlich und plausibel vorgebracht habe und es zu keinen Widersprüchen gekommen sei. Das Bundesamt sei seiner Ermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen, zumal es unterlassen habe eigene Recherchen anzustellen und sich mit dem individuellen Vorbringen sachgerecht auseinanderzusetzen. Im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan sei der Beschwerdeführer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung durch die Feinde seines Bruders ausgesetzt. Da der Erstbeschwerdeführer der Letzte seiner Familie sei und die Feinde seines Bruders in Afghanistan über viel Macht verfügen würden, könne der Beschwerdeführer nicht nach Afghanistan zurückkehren. Aus diesem Grund sei auch keine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben. Dem Erstbeschwerdeführer sei aufgrund der Blutfehde seines Bruders wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie Asyl zuzuerkennen. Erschwerend komme hinzu, dass er der schiitischen Glaubensgemeinschaft sowie der Volksgruppe der Hazara angehöre. Dem Beschwerdeführer sei es auch nicht möglich staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Die Beschwerdeführer würden in Afghanistan zudem über keinerlei soziale Kontakte verfügen und der Dritt- sowie der Viertbeschwerdeführer seien im Iran geboren, weshalb sie mit den afghanischen Sitten und Gebräuchen nicht vertraut seien. Den Beschwerdeführern sei zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren.
6. Am 12.07.2019 und 25.09.2019 wurden medizinische Unterlagen der Beschwerdeführer vorgelegt.
Mit Schreiben vom 11.05.2020 und 10.06.2020 wurden Unterlagen betreffend die Integration der Beschwerdeführer in Österreich in Vorlage gebracht.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.06.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist mit der Zweitbeschwerdeführerin seit 1995 traditionell verheiratet (W250 2198791-1 = BF 1 AS 53; Verhandlungsprotokoll vom 19.06.2020 = VP, S. 9 f, 24). Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX alias XXXX . Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben gemeinsam vier Söhne, den am XXXX alias XXXX geborenen Drittbeschwerdeführer XXXX (im Verhandlungsprotokoll als BF 4 geführt), den am XXXX alias XXXX geborenen Viertbeschwerdeführer XXXX (im Verhandlungsprotokoll als BF 5 geführt) sowie XXXX (im Verhandlungsprotokoll als BF 3 geführt), der das Geburtsdatum XXXX führt und sich aktuell in Deutschland aufhält sowie XXXX , der in Schweden aufhältig ist (BF 1 AS 3, 46).
Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum muslimisch-schiitischen Glauben (BF 1 AS 1, 46; W250 2198746-1 = BF 2 AS 1, 43; VP, S. 8, 22).
Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist dort zunächst aufgewachsen. Als er ca. 8 Jahre alt war, zog der Erstbeschwerdeführer nach dem Tod seiner Eltern und seiner Schwester mit seinen beiden älteren Brüdern nach Mazar-e Sharif. Der Beschwerdeführer hat dort acht Jahre lang die Schule besucht und nebenbei gemeinsam mit seinen Brüdern gearbeitet. Sie haben im Sommer selbstgemachtes Eis und im Winter Suppe verkauft (BF 1 AS 1, 48 f; VP, S. 8 f).
Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in der Provinz Kunduz geboren und ist dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern (zwei Brüder und eine Schwester) aufgewachsen. Als sie ca. 3 Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie in den Iran, wo sie bis zu Beginn der 10. Schulstufe die Schule besucht hat. Im Alter von ca. 16 Jahren kehrte die Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihren Eltern zurück nach Afghanistan. Sie wohnte mit ihren Eltern in Mazar-e Sharif, wo sie 1373 (entspricht 1994) den Erstbeschwerdeführer kennenlernte (BF 2 AS 7, 43, 46; VP, S. 21 f, 28).
Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin heirateten im Sommer 1374 (entspricht 1995) in Mazar-e Sharif. Die Zweitbeschwerdeführerin zog nach der Heirat zu ihrem Mann in das Haus dessen Bruders (VP, S. 9, 24, 28). Anfang des Jahres 1375 (entspricht 1996) reisten der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin in den Iran. Der Erstbeschwerdeführer arbeitete dort die ersten zwei Jahre als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle. Dann arbeitete er bis 1388 (entspricht 2009) in einer Schuhfabrik als Fließbandarbeiter. Danach war der Erstbeschwerdeführer für die Reinigung und Instandhaltung einer Moschee im Iran zuständig (BF 1 AS 48 f; VP, S. 9). Die Zweitbeschwerdeführerin hat den Beruf der Schneiderin sowie den Beruf der Pflegerin gelernt. Sie war im Iran zuhause als Schneiderin tätig (VP, S. 22; BF 2 AS 46). Die vier Söhne des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin wurden im Iran geboren (VP, S. 32; Niederschrift der Einvernahme von XXXX , S. 3).
Die Beschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am 25.04.2017 (Zweit- bis Viertbeschwerdeführer) bzw. 24.05.2017 (Erstbeschwerdeführer) einen Antrag auf internationalen Schutz (BF 1 AS 1 ff; BF 2 AS 7 ff).
Eine Schwester und ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin leben im Iran. Die Schwester der Zweitbeschwerdeführerin ist verheiratet und hat Kinder. Ihr Ehemann und ihre Kinder kommen für den Lebensunterhalt durch ihre Arbeit auf Baustellen und in der Landwirtschaft auf. Sie lebt legal aufgrund eines Aufenthaltstitels im Iran. Der Bruder der Zweitbeschwerdeführerin im Iran arbeitet in einer Plastikfabrik. Er lebt illegal im Iran (VP, S. 23 f).
Ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin lebt in der Türkei und arbeitet in einer Verpackungsfabrik (VP, S. 23).
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
1.2.1. Nach dem Umzug des Erstbeschwerdeführers mit seinen Brüdern nach Mazar-e Sharif lebten diese zunächst in einem gemieteten Zimmer eines Saraj (ähnlich einem Hostel). Die Brüder des Erstbeschwerdeführers fanden nach kurzer Zeit eine Arbeit in einem Eissalon bzw. im Winter Suppenküche, wo der Erstbeschwerdeführer nach der Schule ebenfalls aushalf. Dem Erstbeschwerdeführer und seinen Brüdern ging es auch aufgrund des Verkaufs des Hauses und der Nutztiere seiner Eltern gut. Der zweitälteste Bruder des Erstbeschwerdeführers, XXXX , heiratete in Mazar-e Sharif und zog dann mit seiner Frau in den Iran. Der älteste Bruder des Erstbeschwerdeführers, XXXX , handelte in Mazar-e Sharif neben seiner Tätigkeit in einem Eisgeschäft mit Immobilien. Er bekam deshalb Probleme mit XXXX , XXXX und XXXX , drei Anhängern des Gouverneurs der Provinz Balkh, da deren Gruppe den Großteil des Baulandes in Mazar-e Sharif kontrolliert. Der älteste Bruder des Erstbeschwerdeführers wurde von diesen bedroht. Der älteste Bruder des Erstbeschwerdeführers lebte zu dieser Zeit im selben Haus wie der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin. Ende des Jahres 1374 (entspricht 1995) wurde auf das Haus des ältesten Bruders des Erstbeschwerdeführers von den drei Feinden seines Bruders und dessen Anhänger geschossen als der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin und sein Bruder im Haus waren. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin flüchteten über das Nachbargrundstück auf die dahinterliegende Straße, wo sie ein herankommendes Auto anhielten und den Lenker baten, sie zum Freund des Bruders des Erstbeschwerdeführers zu bringen. Der Bruder des Erstbeschwerdeführers schoss aus dem Fenster seines Zimmers auf die Angreifer. Er sowie zwei Angreifer kamen dabei ums Leben. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin versteckten sich ca. 12 Tage beim Freund des Bruders des Erstbeschwerdeführers. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin teilte ihnen mit, dass die Feinde des Bruders des Erstbeschwerdeführers zweimal bei ihm waren und nach dem Erstbeschwerdeführer gesucht haben. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin reisten deshalb in den Iran.
Als Karzai zum zweiten Mal zum Präsidenten Afghanistans gewählt wurde (November 2009) kontaktierte der Erstbeschwerdeführer einen Rechtsanwalt in Kabul um die Grundstücke und Häuser, die sein ältester Bruder damals besessen hatte, zurückzuerhalten. Der Rechtsanwalt erfuhr bei seinen Erkundigungen, dass die Grundstücke schon mehrfach weiterverkauft wurden. Er wurde bei seinen Recherchen von den Feinden des ältesten Bruders des Erstbeschwerdeführers bedroht, weshalb er keine weiteren Schritte mehr unternahm.
2018 wurde der zweitälteste Bruder des Erstbeschwerdeführers, der vom Iran in die Türkei reisen wollte, an der Grenze von der Polizei angehalten und nach Afghanistan abgeschoben. Der zweitälteste Bruder des Erstbeschwerdeführers hat sich sodann wegen Geldproblemen beim Rechtsanwalt, den der Erstbeschwerdeführer wegen der Grundstücke beauftragt hatte, nach den Feinden seines älteren Bruders erkundigt. Er wurde eines Tages von Männern in Polizeiuniform abgeholt als er bei der Arbeit war und kam nicht mehr nachhause. Der Leichnam seines Bruders, der später gefunden wurde, wies Einschusslöcher im Kopf und in der Brust auf. Die Schwägerin des Erstbeschwerdeführerin floh nach der Beerdigung des Bruders des Erstbeschwerdeführers wieder in den Iran.
Der Erstbeschwerdeführer ist aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Bruders – zumal er dessen einziger überlebende Familienangehöriger ist – wegen Rache der zwei getöteten Anhänger sowie um Blutrache für die beiden Brüder des Erstbeschwerdeführers zuvorzukommen und aus Schutz der rechtswidrig erworbenen Grundstücke in Afghanistan Lebensgefahr durch die Feinde seines ältesten Bruders ausgesetzt.
Dem Erstbeschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung, zumal er insbesondere in Mazar-e Sharif und Kabul von den Feinden seines ältesten Bruders aufgefunden werden kann und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht in der Lage sind, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.
1.2.2. Den Beschwerdeführern droht keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan wegen ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit keiner physischen und/oder psychischen Gewalt ausgesetzt.
1.2.3. Dem Dritt- und dem Viertbeschwerdeführer ist es weder unmöglich noch unzumutbar, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren noch droht ihnen aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan physische und/oder psychische Gewalt.
In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Mazar-e Sharif faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn dem Dritt- und Viertbeschwerdeführer eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden den Dritt- und Viertbeschwerdeführer in Mazar-e Sharif in die Schule schicken und diesen eine Schulbildung ermöglichen.
1.2.4. Die Beschwerdeführer sind allein aufgrund der Tatsache, dass sie sich im Iran aufgehalten haben (Erst- und Zweitbeschwerdeführerin) bzw. im Iran geboren worden sind (Dritt- und Viertbeschwerdeführer) und sich in der Folge in Europa aufgehalten haben, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt. Afghanischen Staatsangehörigen, die aus dem Iran bzw. Europa nach Afghanistan zurückkehren, droht in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthaltes außerhalb Afghanistans keine psychische und/oder physische Gewalt.
1.2.5. Die Zweitbeschwerdeführerin ist in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.
Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie verfügt nur über geringe Deutschkenntnisse. Sie kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und die Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Es ist keine Eigeninitiative der Zweitbeschwerdeführerin erkennbar.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.3.1. Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 18.05.2020 - LIB, Kapitel 2).
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 5).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).
1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 2).
Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 3).
Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 2).
Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 2).
1.3.2. Taliban
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 3).
Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 3).
Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 3)
Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 3).
Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.3.3. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.3.4. Provinzen und Städte
1.3.4.1. Provinz Ghazni:
Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktya und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze. Es leben im Zeitraum 2019-20 ca. 1.338.597 Menschen in Ghazni. Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken (LIB, Kapitel 3.12).
Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung. Die Ghazni-Paktika-Autobahn steht unter Taliban-Kontrolle und ist für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt, wobei die Aufständischen weiterhin Druck auf die Kabul-Kandahar-Autobahn ausüben, bzw. Straßenkontrollen durchführen (LIB, Kapitel 3.12).
Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben (LIB, Kapitel 3.12).
Aufgrund der Präsenz von Taliban-Aufständischen in manchen Regionen der Provinz, gilt Ghazni als relativ unruhig, so standen Ende 2018, acht Distrikte der Provinz unter Kontrolle der Taliban, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft. In der Provinz mehr sind Taliban und Al-Qaida-Kämpfer aktiv, als in anderen Provinzen. Die Sicherheitslage in der Provinz hat sich verschlechtert und die Taliban erlitten bei jüngsten Zusammenstößen schwere Verluste (LIB, Kapitel 3.12).
Im Jahr 2019 gab es 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) in der Provinz Ghazni. Dies entspricht einer Steigerung von 3% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordattentate, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Kämpfen am Boden (LIB, Kapitel 3.12).
Ghazni war neben Helmand und Farah zwischen Februar und Juni 2019 eines der aktivsten Konfliktgebiete Afghanistans. Mehr als die Hälfte aller Luftangriffe fanden in diesem Zeitraum in den Provinzen Helmand und Ghazni statt. In der Provinz kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Bei manchen militärischen Operationen werden beispielsweise Taliban getötet. Außerdem kommt es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften. Auch verlautbarte die Regierung im September 2019 nach wie vor Offensiven gegen die Aufständischen in der Provinz zu führen, um das Territorium der Taliban zu verkleinern (LIB, Kapitel 3.12).
1.3.4.2. Kunduz
Die Provinz Kunduz war schon immer ein strategischer Knotenpunkt; sie verbindet den Rest Afghanistans mit seiner nördlichen Region und liegt in der Nähe einer Hauptstraße nach Kabul. Somit liegt die Provinz Kunduz im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Tadschikistan, im Osten an die Provinz Takhar, im Süden an die Provinz Baghlan und im Westen an die Provinz Balkh. Die Provinzhauptstadt ist Kunduz (Stadt) (LIB, Kapitel 3.21).
Die Bevölkerung von Kunduz beträgt für den Zeitraum 2019-20 ca. 1.113.676 Personen, davon 356.536 in der Stadt Kunduz. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara, Aymaq und Pashai (LIB, Kapitel 3.21).
Die Sicherheitslage der Provinz hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Sowohl 2015 als auch 2016 kam es zu einer kurzfristigen Einnahme der Provinzhauptstadt Kunduz City durch die Taliban und auch Ende August 2019 nahmen die Taliban kurzzeitig Teile der Stadt ein. Kunduz war die letzte Taliban-Hochburg vor deren Sturz 2001. Die Taliban waren im Jahr 2018 in den Distrikten Dasht-e-Archi und Chahar Darah aktiv, wo sich die staatliche Kontrolle auf kleine Teile der Distriktzentren und einige benachbarte Dörfer beschränkte. Aqtash, Calbad und Gultipa standen im November 2018, weitgehend oder vollständig unter der Kontrolle der Taliban (LIB, Kapitel 3.21).
Außerdem soll eine aufständische Gruppe namens Jabha-ye Qariha ("die Front derer, die den Quran auswendig gelernt haben", die Qaris), die als Militärflügel von Jundullah bekannt ist, im Distrikt Dasht-e-Archi aktiv sein. Obwohl Jundullah eine unabhängige Gruppe ist, ist sie mit den Taliban verbündet (LIB, Kapitel 3.21).
In den vergangenen Monaten sind Zellen der Islamischen Staates in der nördlichen Provinz Kunduz aufgetaucht; auch soll der IS dort Basen und Ausbildungszentren unterhalten (LIB, Kapitel 3.21).
Im Jahr 2019 gab es 492 zivile Opfer (141 Tote und 351 Verletzte) in der Provinz Kunduz. Dies entspricht einer Steigerung von 46% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Luftangriffen (LIB, Kapitel 3.21).
Ende August 2019 starteten die Taliban in Kunduz-Stadt eine Großoffensive mit mehreren Hundert Kämpfern. Dabei konnten sie das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt einnehmen. Die Kämpfer verschanzten sich in Häusern und lieferten sich Gefechte mit dem afghanischen Militär. Schon im April 2019 hatten sie Ziele in der Stadt Kunduz angegriffen, wobei dieser Angriff von den Sicherheitskräften zurückgeschlagen wurde. Manchmal kommt es durch Talibanaufständische zu sicherheitsrelevanten Vorfällen auf der Verbindungsstraße Kunduz-Takhar In Kunduz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen durch die afghanischen Sicherheitskräfte; dabei werden unter anderem auch Aufständische getötet; und Luftangriffe durchgeführt (LIB, Kapitel 3.21).
1.3.4.3. Herat-Stadt:
Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 3.15).
Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.15). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).
Die Berichterstattung über den Anstieg an Gewalt habe teilweise nicht gerade zu einem klaren Verständnis der Situation beigetragen, und zwar aus zumindest zwei Gründen. Erstens würden die meisten Berichte Vorfälle, die sich in der Stadt ereignet hätten, mit jenen, die sich draußen in den Distrikten der Provinz Herat ereignet hätten, vermengen, sodass man zu dem Schluss kommen könnte, dass sie alle Teil eines einzigen Trends einer sich verschlechternden Sicherheitslage seien. Die Sicherheitslage in der Stadt und in den Distrikten sei jedoch unterschiedlich. Während einige Distrikte, wie beispielsweise Schindand, unsicher seien, weil sie zwischen Regierung und Taliban umkämpft seien, gebe es in der Stadt in den letzten Jahren überwiegend kriminelle und sicherheitsrelevante Vorfälle, jedoch mit Sicherheit keine groß angelegten Angriffe oder offenen Kämpfe, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen bringen würden (ACCORD Herat vom 23.04.2020).
Im März 2020 wurden im Rahmen der Corona-Pandemie im Iran Baustellen geschlossen, weshalb mehr als 100.000 afghanische Arbeiter nach Afghanistan zurückgekehrt sind, da diesen klar ist, dass sie im Iran niemals eine medizinische Behandlung erhalten würden, sollten sie sich infizieren. Der Distrikt Herat steht mit 332.020 IDPs und 36.987 RückkehrerInnen an erster Stelle jener 25 Distrikte Afghanistans, die die größte Zahl an Binnenvertriebenen (internally displaced persons, IDPs) und RückkehrerInnen beherbergt. Diese Distrikte sind potenziell anfällig für soziale Instabilität, die durch den großen Zustrom von RückkehrerInnen und IDPs verursacht wird. Diese hätten dort nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Lebensgrundlagen, was die Reintegrationsaussichten gefährdet und sekundäre Vertreibung provoziert (ACCORD Herat vom 23.04.2020).
Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Aufgrund der Corona-Pandemie ist der Zugang zur Grundversorgung, der in der Stadt im Allgemeinen besser ist als in den Siedlungen, mit jedoch mit großen Herausforderungen verbunden. Derzeit ist die Dienstleistungsinfrastruktur in Herat überstrapaziert. Die eingeschränkt vorhandenen Dienstleistungen müssen nicht nur die BewohnerInnen der Stadt Herat versorgen, sondern auch die beträchtliche Zahl von IDPs und RückkehrerInnen, die in der Provinz leben (ACCORD Herat vom 23.04.2020).
Viele Afghanen arbeiten als Tagelöhner. Angesichts der Tatsache, dass in Städten wie Herat und Kabul Ausgangssperren verhängt wurden („cities like Herat and Kabul going into lockdown“), und der Möglichkeit, dass andere urbane Zentren folgen könnten, müssen sich viele Menschen entscheiden entweder hungrig zu Hause zu bleiben oder eine Ansteckung zu wagen und sich nach draußen auf Arbeitssuche zu begeben (ACCORD Herat vom 23.04.2020).
Weit verbreitete Konflikte und die schwere Dürre haben über 150.000 Menschen gezwungen, aus ihren Dörfern im Nordwesten Afghanistans zu fliehen und in der Stadt Herat Schutz zu suchen. Ihr Zustand ist nach wie vor äußerst prekär, da sie mit Nahrungsmittelmangel und begrenztem Zugang zur Gesundheitsversorgung konfrontiert sind. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind unzureichend und in Bezug auf Unterkünfte, Wasser und sanitäre Einrichtungen besonders schlecht. Ein Jahr später ist zwar die Dürre vorbei, aber die Menschen können wegen der anhaltenden Unsicherheit nicht nach Hause zurückkehren (ECOI Herat und Mazar-e Sharif).
Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Aus Europa in eine der Städte Afghanistans, darunter Kabul, Herat oder Masar-e Scharif zurückkehrende Personen, die in diesen Städten keine Familie haben, die sie aufnehmen würden, irren aufgrund der Corona-Pandemie meist von Teehaus zu Teehaus. Einige hätten vielleicht genügend finanzielle Mittel um in der Stadt eine Wohnung mieten zu können, doch das setzt soziale Referenzen voraus. Andere würden unter einer Brücke schlafen. Aus Europa Zurückkehrenden sei es so gut wie nicht möglich in einer der informellen Siedlungen Unterschlupf zu finden oder sich dort ein Zelt aufzustellen, wenn sie dort keine Familien hätten, die bereit seien sie aufzunehmen. Die informellen Siedlungen hätten nichts mit Flüchtlingslagern gemein, in denen für die EinwohnerInnen gesorgt würde. Es handle sich um Siedlungen, in denen es vonseiten Hilfsorganisationen auf geringem Niveau Versuche gebe, die größten Missstände etwas zu lindern. Die Rückkehrenden aus Europa seien jedoch im Gegensatz zu anderen Rückkehrenden schon deshalb isoliert, weil ihr Aufenthalt in Europa aus Sicherheitsgründen nicht bekannt werden dürfe (ACCORD Herat vom 23.04.2020).
1.3.5. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.3.6. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 22).
Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 22.1).
Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.3.7. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 1% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 17).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischen ist. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 17.3).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB, Kapitel 17.3).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der Haushalts vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (LIB, Kapitel 17.3).
Während des Jahres 2018 intensivierte der IS Angriffe gegen die Hazara. Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel 17.3).
1.3.8. Religionen
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten und c.a 10 – 19% Shiiten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 16, 16.1).
Die Schiiten Afghanistans sind mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren lokale Diskriminierungsfälle (LIB Kapitel 16.1).
In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt. Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (LIB Kapitel 16.1).
1.3.9. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 19.1).
1.3.10. Situation für Rückkehrer
Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).
Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).
Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).
Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).
Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:
- Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)
- Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten,