TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/6 W173 2173817-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.08.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

06.08.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W173 2173817-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.8.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.12.2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in der Folge BF) stellte am 26.12.2016 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Bei der am 27.12.2016 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Burgenland gab der BF an, am XXXX in Ghazni, Afghanistan geboren und afghanischer Staatsbürger zu sein. Er gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und bekenne sich zum muslimischen Glauben sunnitischer Ausprägung. Er sei vor cirka einem Jahr aus Afghanistan geflohen. Er habe zwei Brüder und eine Schwester. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, sein Vater ( XXXX ), der in der afghanischen Armee gewesen sei, sei von den Taliban zur Aufgabe seines Berufes aufgefordert worden, wobei er sich dann ihnen hätte anschließen sollen. Nachdem sein Vater getötet worden sei, sei der BF selbst von den Taliban bedroht und aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Sein Onkel habe die Flucht organisiert. Es seien Angehörige seiner Familie bei den Taliban.

2. Mit 30.1.2017 wurde namentlich genannte Vertreter der Caritas der Diözese XXXX von der zuständigen Behörde zur gesetzlichen Vertretung des damals als minderjährig geführten BF bevollmächtigt.

3. Im Rahmen der Einvernahme durch die belangte Behörde am 17.8.2017 gab der BF zu seiner Einvernahme am 27.12.2016 an, nur neun Monate und nicht ein Jahr auf der Flucht gewesen zu sein. Sein Vater sei zudem ein Jahr vor seiner Ankunft in Österreich verstorben. Zum Schulbesuch betonte er, nicht in die Schule gehen dürfen zu haben.

Der BF führte weiter aus, Paschtu und ein bisschen Deutsch und Englisch zu sprechen. Bislang habe er in Österreich einen Deutschkurs besucht und spiele Fußball mit seinen Freunden. Vor 16 bis 17 Monaten, als er vom Iran in die Türkei gereist sei, habe er mit seiner Familie das letzte Mal Kontakt gehabt. Er habe auch in Österreich keine familiären Beziehungen. Er sei Afghane, sunnitischer Moslem und Paschtune und habe in Afghanistan zuletzt im Dorf XXXX , Gemeinde XXXX , Provinz Ghazni gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern (2 Brüder und eine Schwester) gelebt. Er sei mit der gesamten Familie auch unterwegs gewesen, aber beim Grenzübertritt vom Iran in die Türkei von ihr getrennt worden. Zwei Onkel väterlicherseits und drei Onkel mütterlicherseits würden noch in Ghazni leben. Er habe in der Landwirtschaft gearbeitet und Wassermelonen und Trauben angebaut und geerntet, die er dann in der dortigen Gemeinde verkauft habe.

Seinen Fluchtgrund stützte der BF auf die Bedrohung und Tötung seines als Offizier dem Militär angehörenden Vater, der in Ghazni stationiert gewesen sei, durch die Taliban und die Versuche der Taliban, ihn zu rekrutieren und zum Anschluss zu bewegen. Dabei sei er auch mit seinem Bruder von den Taliban entführt und festgehalten worden. Nach seiner Freilassung habe er das mit seiner Mutter und seinem Onkel mütterlicherseits besprochen. Es sei der Fluchtentschluss mit Unterstützung dieses Onkels getroffen worden. Zu den Länderberichten wurde eine 14-tägige Stellungnahmefrist eingeräumt.

4. Mit Bescheid vom 30.8.2017, Zl XXXX , wies die belangte Behörde unter Spruchpunkt I. den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab. Unter Spruchpunkt II. wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Unter Spruchpunkt III. wurde dem BF eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 leg. cit. bis zum 30.8.2018 erteilt.

Die belangte Behörde stellte fest, dass die Identität des BF als afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und Paschtune nicht feststehe. Er habe in Ghazni mit seiner Familie gelebt, von der er an der türkischen Grenze getrennt worden sei. In Österreich habe er keine Familienangehörige. Seine Onkeln würden in Afghanistan leben. Als lediger Mann sei er dort als Landwirt tätig gewesen. Der BF lebe seit seiner illegalen Einreise von der staatlichen Grundversorgung. Er sei jung, arbeitsfähig und gesund. In Afghanistan sei er keiner individuellen aktuellen Bedrohung oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten ausgesetzt gewesen. Seine Angaben zum Fluchtvorbringen seien nicht glaubhaft gewesen. Dem BF fehle es an einem asylrelevanten Fluchtgrund. Als unbegleiteter Minderjähriger ohne soziales Netzwerk in einer sicheren Provinz in Afghanistan und als Analphabet ohne Schulbildung käme er bei einer Rückkehr in eine aussichtslose Lage. Der BF würde in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfinden. Die Lage in Afghanistan sei als nicht zufriedenstellend zu bezeichnen und nach wie vor als unübersichtlich, respektive unsicher zu erachten. Die Versorgungslage und die allgemeinen Lebensbedingungen seien häufig nur sehr eingeschränkt möglich. Die Erwerbs- und Ausbildungsmöglichkeiten in ländlichen Regionen seien nur sehr eingeschränkt vorhanden. Die Hauptstadt Kabul sei auf Grund der persönlichen Umstände des BF als unbegleiteter Minderjähriger derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative. Ohne Schulbildung und Familienangehörige in einer sicheren afghanischen Provinz würde der minderjährige BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine aussichtlose Lage geraten. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei für ihn daher derzeit unter den dargelegten Umständen unzumutbar, sodass ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten und eine befristete Aufenthalts-berechtigung zu erteilen gewesen sei.

5. In der Stellungnahme vom 31.8.2017 wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF aufgrund der Tätigkeit seines Vaters beim afghanischen Militär ins Visier der Taliban geraten sei und somit einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und seiner politischen Gesinnung wäre. Im Umkehrschluss nach den Blutracheregeln für die Familie bzw. Angehöriger des Getöteten auf Grund der ausgeübten Tätigkeit seines Vaters wäre der BF nächste Zielperson zur Hinrichtung. Es bestehe derzeit keine innerstaatliche Fluchtalternative. Angeschlossen war eine mit 7.7.2017 datierte Bestätigung des BFI über den Besuch des Kurses „Zukunft, Bildung, Steiermark“ für das Sprachniveau A0-A1 durch den BF.

6. Mit Schreiben vom 3.10.2017 erhob der BF Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 30.8.2017 und führte im Wesentlichen aus, dass er entgegen der Ansicht der belangten Behörde sehr wohl aufgrund der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der Familie, als Sohn seines Vaters, von den Taliban verfolgt werde. Nach dem Tod seines Vaters, der für die afghanische Armee gearbeitet habe, hätten sich die individuellen Verfolgungshandlungen der Taliban unmittelbar gegen den BF gerichtet. Aufgrund der Mitgliedschaft seiner Cousins bei den Taliban sei der BF leicht individualisierbar. Die belangte Behörde habe im Rahmen der Beweiswürdigung außer Acht gelassen, dass es sich beim minderjährigen BF um einen Analphabeten mit traumatischen Erlebnissen handle. Dem BF werde aufgrund der Nichtbefolgung der Aufforderung der Taliban eine pro-westliche politische Gesinnung unterstellt. Die Behörde habe die Prinzipien zur amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts verletzt. Die diesbezüglichen Länderfeststellungen seien unzureichend, veraltet und unvollständig. Das Fluchtvorbringen des BF sei ohne Widersprüche, stringent und konsistent vorgebracht worden und drohe dem BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevante Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention.

7. Am 18.10.2017 wurde die Beschwerde vom 3.10.2017 dem Bundesverwaltungsgericht samt Verwaltungsakt zur Entscheidung vorgelegt und unter der Aktenzahl W173 2173817-1 protokolliert.

8. Am 5.7.2018 brachte der BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 AsylG ein. In der am 14.8.2018 durchgeführten Einvernahme durch die belangte Behörde bezog sich der BF auf ein mit 17.4.2018 datiertes Zertifikat ÖSD für Niveau A1, eine mit 12.7.2107 ausgestellt Teilnamebestätigung der Caritas am Kurs „Zusammenleben in Österreich“, auf das Zertifikat vom 7.7.2017 „Zukunft Bildung Steiermark“ und eine Urkunde vom 2.9.2017 zur Teilnahme am 12. Riesenwuzzlerturnier. Er besuche bis März 2019 beim Jugend am Werk in Leasing einen 1-jährigen Kurs, in dem er Englisch, Deutsch, Biologie und Physik lerne. Seine in Ghazni in einem Haus wohnenden Verwandten würden von der Landwirtschaft leben. Seine Familienangehörigen habe er an der iranisch-türkischen Grenze verloren. Er würde gerne Koch werden, wofür er bisher nichts unternommen habe. Er lebe von der Mindestsicherung in einem Garconniere. Er habe viele afghanische Freunde. Sein früherer Betreuer und Freund XXXX lebe in XXXX . Der ihm bekannte XXXX lebe in XXXX . Der BF äußerte den Wunsch in Österreich die richtige Schule zu besuchen, zu arbeiten und eine Lehre machen zu wollen. Er könne keine Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen oder arbeiten. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan könne er sich kein sicheres schönes Leben aufbauen. Es wäre sein Leben überall in Gefahr, da ihn seine Feinde finden würden und er ohne Chance sei.

9. Mit Bescheid vom 22.8.2018, Zl XXXX , wurde dem BF der mit Bescheid vom 30.8.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Seine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.) und sein Antrag vom 5.7.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt III.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt IV.). Ferner wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.). Zur Aberkennung führte die belangte Behörde begründend aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiäre Schutzberechtigten nicht mehr vorlägen, da der BF nun volljährig sei. Es bestehe für ihn die Möglichkeit in Herat, Mazar-e Sharif oder Kabul einen Aufenthalt zu finden. Es bestehe eine sichere Erreichbarkeit per Flugzeug. Der BF sei jung, arbeitsfähig und leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung. Es fehle ihm – anderes als damaliger Minderjähriger - nunmehr an der besonderen Hilfsbedürftigkeit. Er habe Familienangehörige in Ghazni, die ihm Unterstützung zukommen lassen könnten und sei auch finanzielle Rückkehrhilfe möglich. Er verfüge über ausreichend Berufserfahrungen in der Agrarwirtschaft. Eine Rückkehr sei dem BF als männlichen, gesunden, arbeitsfähigen, alleinstehenden Paschtunen mit Arbeitserfahrung zumutbar und würde er dadurch in keine ausweglose Lage gelangen.

10. Der Bescheid vom 22.8.2018 wurde vom BF mit Beschwerde vom 18.9.2018 in allen Spruchpunkten bekämpft. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft. Die von der belangten Behörde herangezogenen Länderfeststellungen seien mangelhaft und würden sich nicht mit der Rückkehrsituation befassen. Auch hätte die Behörde abwarten müssen, bis die Beschwerde betreffend Spruchpunkt I. des Bescheides vom 30.8.2017 – betreffend Asyl – entschieden werde. Dem BF drohe aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage jedenfalls eine Verletzung in seinen Rechten nach Art 2 und 3 EMRK. Die Behörde übersehe auch, dass dem BF aufgrund seines jetzigen Aufenthaltes eine Verfolgung drohe. Aufgrund seines Aufenthaltes in Europa bestehe beim BF die konkrete Gefahr, ins Visier seiner Verfolger zu geraten und dass ihm eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werde. Es bestehe für den BF keine innerstaatliche Fluchtalternative. Der BF habe bloß eine Koranschule besucht und sei danach keiner Tätigkeit nachgegangen, er sei daher wegen mangelnder Ausbildung am Arbeitsmarkt besonders benachteiligt und könne von seinen Familienangehörigen keine finanzielle Unterstützung erwarten. Er besitze außerdem keine Tazkira und sei dies für den Zugang zu Wohnraum, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Bildung nötig. In einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren hätte die Behörde zum Schluss kommen müssen, dass dem BF neuerlich der Status als subsidiär Schutzberechtigter für zwei Jahre gemäß § 8 Abs. 4 AsylG zustehe. Der BF halte sich seit nahezu zwei Jahren durchgehend legal in Österreich auf, habe hier Freunde, strenge sich an, Deutsch zu lernen, sei arbeitswillig und wolle eine Ausbildung zum Koch machen und hier arbeiten. Es liege daher auch ein schützenswertes Privatleben vor, das eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig mache.

11. Die Beschwerde vom 18.9.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 28.9.2018 vorgelegt und unter der Aktenzahl W173 2173817-2 protokolliert.

12. In der vom Bundesverwaltungsgericht am 11.12.2018 durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung im Beisein des BF, dessen rechtlicher Vertretung sowie einem für die Sprache Paschtu bestellten Dolmetscher, an der kein Vertreter der belangten Behörde teilnahm, wurden die unter den Aktenzahlen W173 2173817-1 und W173 2173817-2 protokollierten Beschwerden zu einer gemeinsamen Verhandlung verbunden. Der BF wurde vom erkennenden Gericht eingehend zu seiner Identität, Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu seinen Fluchtgründen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt. Der Rechtsvertreter des BF gab zum aktuellen Länderbericht eine Stellungnahme im Rahmen der Verhandlung ab. Der BF sei asylrelevant verfolgt. Er falle unter das Risikoprofil der aktualisierten Richtlinie von UNHCR. Als 14-15-jähriger Augenzeuge der Ermordung seines Vaters reagiere der BF emotional. Es sei seine Minderjährigkeit zum Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Es seien der EASO Country Guidance und die aktuelle UNHCR-RL zu würdigen. Das mittlerweile erreichte Alter der Volljährigkeit sei nach der Judikatur für eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht ausreichend. Das Verhandlungsprotokoll wurde der belangten Behörde im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

13. Mit Parteiengehör vom 25.2.2020 wurde dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019) zur Kenntnisnahme übermittelt und eine Frist zur Stellungnahme bis zum 17.3.2020 eingeräumt.

14. Mit Stellungnahme vom 17.3.2020 brachte die Rechtsberatung des BF zusammengefasst vor, dass das aktualisierte Länderinformationsblatt eine massive Verschlechterung der Sicherheitslage belege. Insbesondere hätten sich die Angriffe gegen die Hazara intensiviert. Die Beschäftigungsmöglichkeiten könnten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten, sodass persönlichen Beziehungen und Netzwerke eine stärkere Rolle spielen würden. Die Auswirkungen der Dürre und Überschwemmungen hätten kaum Berücksichtigung gefunden. Eine Neuansiedlung in Kabul, Mazar-e-Sharif oder Herat sei nur dann zumutbar sein, wenn es starke familiäre oder soziale Netzwerke gebe, die bei einer Arbeitsplatzsuche oder sonstigen ökonomischen Problemen unterstützend beistehen könnten. Dies ergebe sich aus EASO und UNHCR.

Aus den Ausführungen von Stahlmann (Asylmagazin 8-9/2019) ergebe sich, dass es an ausreichenden Zugang zu Nahrung fehle, die Arbeitslosenrate die weltweit höchste sei und die meisten Kriegstoten vorliegen würden. Um der Verfolgung durch die Taliban zu unterliegen, genüge es, in Europa gewesen zu sein. Der Status als Abgeschobener aus Europa sei neben den allgemeinen Sicherheitsrisiken ursächlich für eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von Gewalterfahrungen. Der Vorwurf des Glaubensabfalls und Bezeichnung als Ungläubiger (Kafir) genüge für eine Verletzung der religiösen und sozialen Erwartungen. Die vorherrschende Wohnsituation mache es unmöglich, eine Unterkunft zu erlangen. Es bestehe ein extremer Mangel an existenziellen Ressourcen wie Arbeit, Obdach und medizinische Versorgung. Eine Besserung sei absehbar nicht zu erwarten.

Hinzu kämen die Binnenvertriebenen. Dadurch werde die Existenzgründung unmöglich gemacht. Die Sicherheitslage sei im gesamten Land volatil und der aktuelle COI lege dar, dass der BF einer hohen Gefahr ausgesetzt werde, als Zivilist Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Weder Herat noch Mazar-e Sharif seien stabile und langfristig sichere Orte und zumutbare Fluchtalternativen. UNHCR bringe klar zum Ausdruck, dass auch Kabul keine innerstaatliche Fluchtalternative sei.

Auch in Bezug auf Mazar-e Sharif und Herat belege das Gutachten Stahlmann, dass mangels eines sozialen Netzwerks der Zugang zu grundlegenden Rechten und Ressourcen faktisch nicht möglich sei. Der von Trump geschlossene „Friedensvertrag“ mit den Taliban führe zu einer weiteren Destabilisierung und dass die afghanische Regierung nicht in die Friedensgespräche eingebunden worden sei, zeige eindeutig auf, dass sie nicht in der Lage sei, gegenwärtig Schutz vor Verfolgung zu bieten. Kabul, Mazar-e Sharif und Herat würden als innerstaatliche Fluchtalternativen ausfallen.

15. Zu den vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des Parteiengehörs mit Stand 18.5.2020 übermittelten Länderberichten brachte der BF mit Schreiben vom 22.6.2020 vor, dass im Hinblick auf den COVID-19-Ausbruch auf Grund der Auswirkungen in Zusammenhang mit der allgemeinen prekären Gesundheits-, Hygiene- und Versorgungslage nach der derzeitigen Situation eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Die Zahl der Erkrankten habe sich in den letzten 10 Tagen verdoppelt. Bis zu 50% der Bevölkerung würde sich mit COVID-19 auf Grund der Sozialstruktur anstecken. Stahlmann verweise darauf, dass ein Großteil der Bevölkerung Vorerkrankungen aufweise und zur Risikogruppe gehöre. Der Lockdown sei am 21.5.2020 verlängert worden. Laut Stahlmann würden Rückkehrer stigmatisiert und von medizinischer Versorgung ausgeschlossen. Sämtliche Binnenflüge seien eingestellt. Der Preis von Grundnahrungsmittel sei seit Beginn des Lockdowns signifikant gestiegen. Laut Stahlmann seien insbesondere Tagelöhner in Afghanistan stark hungergefährdet. Arbeiten würden nur über soziale Netzwerke vergeben. Die Stadt Herat sei über den internationalen Flughafen nicht erreichbar. Es liege ein massiver Anstieg an krimineller Gewalt vor. Der Zugang zu Grundversorgung sei sehr eingeschränkt. Es fehle an Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen, sodass der Zustand unterhalb des humanitären Mindeststandards liege. Herat sei ein COVID-19 Hotspot. Mazar-e Sharif sei über den internationalen Flughafen erreichbar. Der Binnenflugverkehr sei auf unbestimmte Zeit eingestellt. Europarückkehrer seien mit Problemen konfrontiert. In nicht angerkannten Siedlungen bestehe kaum Zugang zu Wasser, Sanitäranlagen und humanitärer Hilfe. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sei sehr beschränkt. Die Städte Herat, Mazar-e Sharif seien nicht über den Luftweg erreichbar. Es gebe keinen Hinweis, dass sich die Situation kurz oder mittelfristig verbessere. Auch junge Erwachsene hätten mit schwerem Verlauf der Krankheit zu rechnen.

16. Zur Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen des Parteiengehörs zu den aktuellen Länderberichten Stellung zu nehmen, brachte der BF mit Schreiben vom 27.7.2020 vor, dass sich seit der letzten Stellungnahme am 22.6.2020 zur allgemeinen Lage in Afghanistan kaum etwas geändert habe. Die Sicherheitslage sei in ganz Afghanistan nach wie vor volatil. Es werde auf die Einschätzungen von UNHCR und EASO verwiesen. Kabul scheide als IFA grundsätzlich aus. Die Taliban seien dort sehr aktiv und sichtbar. Bei den Rückkehrern werde die Arbeitslosigkeit als massives Problem gesehen. Sie würden diskriminiert. Sie würden als verwestlicht betrachtet und als eigene Risikogruppe gewertet. Soziale Netzwerke seien unentbehrlich. Der Arbeitsmarktzugang hänge maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Der BF verfüge über kein soziales oder familiäres Netzwerk. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei die COVID-Pandemie zu berücksichtigen und mit der Gesundheits-, Hygiene- und Versorgungslage eine Rückkehr nicht zumutbar. Es seien bereits 33.594 Infizierte und 936 Tote zu verzeichnen. Es könnte die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen. Der Lockdown sei bis 6.6.2020 verlängert worden. Rückkehrer seien im Zusammenhang mit COVID-19 stigmatisiert und von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Ihnen würde medizinische Behandlung teilweise verweigert. Binnenflüge seien in Afghanistan eingestellt. Reisen innerhalb von Afghanistan seien derzeit nicht möglich. Preise von Grundnahrungsmittel seien seit Lockdownbeginn signifikant angestiegen. Tagelöhner seien derzeit in Afghanistan stark hungergefährdet. Die Stadt Herat verzeichnet einen massiven Anstieg an krimineller Gewalt. Der Zugang zu Grundversorgung sei dort sehr eingeschränkt. Es fehle an Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen und würden Zustände unterhalb des humanitären Mindeststandards liegen. Herat sei wegen der Nähe zum Iran COVID-19 Hotspot. Mazar-e Sharif sei derzeit über den Flughafen im Binnenverkehr nicht erreichbar. In den letzten Jahren habe sich die Sicherheitslage verschlechtert. Rückkehrer seien mit Problemen konfrontiert. Die weiteren Ausführungen zu dieser Stadt gleichen sich jenen, die bereits in der Stellungnahme am 22.6.2020 vorgebracht wurden. Herat und Mazar-e Sharif seien für Rückkehrer nicht erreichbar. Eine sichere Anreise über Kabul gebe es nicht. Infolge der Rückkehrbewegungen aus dem Iran, Pakistan und der Türkei habe sich der Verdrängungswettbewerb verschärft. Der Arbeitsmarkt sei für ungelernte Tagelöhner eingebrochen. Die Situation bessere sich auch nicht kurz oder mittelfristig. Dem BF sei eine Rückkehr nicht möglich. Es liege eine Verletzung seiner Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist als afghanischer Staatsbürger am XXXX im Dorf XXXX , Bezirk XXXX , Provinz Ghazni geboren. Der BF gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischen Glaubens. Seine Muttersprache ist Paschtu. Ebenso spricht der BF Dari und hat Kenntnisse in Englisch und Deutsch.

Der BF ist im Heimatdorf im Kreis seiner paschtunischen Familie mit drei Geschwistern aufgewachsen. Er hat die Koranschule in der Moschee besucht und dabei in Paschtu lesen und etwas schreiben gelernt. Er hat auch im landwirtschaftlichen Familienbetrieb gearbeitet und im Wesentlichen hierbei Wassermelonen und Trauben angebaut, geerntet und verkauft.

Der BF ist aus Afghanistan ausgereist und illegal in Österreich eingereist. Er stellte am 26.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist mittlerweile ein 20 Jahre junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er ist seit mehr als zwei Jahren volljährig und hat viele afghanische Freunde. Er hat ergänzende Bildungsschritte in Österreich unternommen und lebt hier nach der Grundversorgung nunmehr von der Mindestsicherung.

Im Hinblick auf die Pandemie zum Corona-Virus SARS-CoV2 (COVID -19) ist festzuhalten, dass der BF ein 20 Jahre junger Mann ohne schwerwiegender Erkrankung ist, womit er nicht unter die Risikogruppe der älteren Personen und der Personen mit einschlägigen Vorerkrankungen fällt.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF ist in Afghanistan keiner persönlichen und konkreten asylrelevanten Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt. Eine solche würde ihm auch im Fall der Rückkehr nach Afghanistan nicht drohen.

Es fehlt dem BF an einem asylrelevanten Fluchtgrund für Afghanistan.

1.3 Zur Situation in Afghanistan:

1.3.1. Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht werden insbesondere folgende Quellen zugrunde gelegt:

Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan; Stand: 29.6.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

1.3.2 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019, Letzte Information eingefügt am 18.5.2020)

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

(UNAMA 2.2020)

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten