TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/23 W270 2210537-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.09.2020
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Entscheidungsdatum

23.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W270 2210537-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. GRASSL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.10.2018, Zl. XXXX , in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in Folge: „Beschwerdeführer“) stellte am 29.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. In seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selbigen Tag, gab der Beschwerdeführer befragt zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass das Leben in Afghanistan sehr schlecht sei. Er habe dort keine Arbeit bekommen und habe auch keine Zukunft in Afghanistan. Befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen sagte er aus, dass er vor nichts Angst habe, es wäre auch kein Problem, wenn er in sein Heimatdorf zurückkehren müsse. Er werde aber keine Arbeit finden.

3. In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am 15.05.2018 gab der Beschwerdeführer zu den Gründen für seine Asylantragstellung befragt im Wesentlichen an, dass sein Vater Dorfvorsteher und Leiter der Entwicklungskommission in XXXX sei. Der Beschwerdeführer sei als Bodyguard für seinen Vater tätig gewesen. Dadurch sei der Beschwerdeführer ins Visier der Taliban geraten und von diesen – auch mittels Drohbrief – bedroht worden. Daher habe die Familie beschlossen, dass der Beschwerdeführer ausreisen müsse.

4. Die belangte Behörde wies den gegenständlichen Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) mit Bescheid vom 18.10.2018 ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 i.V.m. § 9 BFA-VG, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt III. bis VI.). Begründet wurde die Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Eine Rückkehr in seinen Heimatstaat, insbesondere in die Provinz Balkh sei dem Beschwerdeführer zumutbar, weil sich seine Familie nach wie vor in Afghanistan befände und er auch bereits Berufserfahrung habe sammeln können.

5. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom 22.11.2018 rügte der Beschwerdeführer insbesondere eine inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darüber hinaus erstattete er weiteres Vorbringen zur Versorgungs- und Sicherheitslage in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sowie zum damit einhergehenden Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative und legte diesbezügliche Beweismittel vor.

6. Gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie weitere länderkundliche und sonstige Informationen im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht.

7. Am 17.12.2019 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in deren Rahmen der Beschwerdeführer nochmals zu den geltend gemachten Fluchtgründen, einer möglichen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sowie seinem Leben in Österreich einvernommen wurde und weitere Urkunden zu seiner Integration vorlegte. Von Seiten des erkennenden Gerichtes wurden noch weitere länderkundliche und sonstige Informationen ins Verfahren eingeführt und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt.

8. Mit der ausbedungenen Stellungnahme vom 07.01.2020 erstattete der Beschwerdeführer weiteres Vorbringen zu seinen Risikoprofilen, seinem Gesundheitszustand sowie zur Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan und legte entsprechende Beweismittel vor.

9. Am 01.07.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer insbesondere nochmals zu seinem Gesundheitszustand und seinem Leben in Österreich einvernommen wurde.

10. Am 16.07.2020 legte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen zu seinem Gesundheitszustand vor und führte in seiner Stellungnahme zur derzeitigen Lage in Afghanistan vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie aus und legte diesbezügliche Beweismittel vor.

11. Am 01.09.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht das aktualisierte Länderinformationsblatt sowie weitere länderkundliche Informationen zu seinem Herkunftsstaat an den Beschwerdeführer und räumte diesem die Möglichkeit, binnen 14 Tagen dazu Stellung zu nehmen ein.

12. Mit Schriftsatz vom 15.09.2020 nahm der Beschwerdeführer dazu Stellung.

II. Feststellungen:

1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1. Identität, Herkunft und Sprachkenntnisse:

1.1.1. Der Beschwerdeführer trägt den Namen XXXX und ist Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan. Er wurde dort am XXXX in der Provinz Nangarhar, im Distrikt Rodat, im Dorf XXXX geboren und ist dort auch aufgewachsen.

1.1.2. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Daneben beherrscht er auch ein wenig Deutsch.

1.2. Volksgruppe und Religion:

Der Beschwerdeführer gehört der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

1.3. Familiäre Situation und wirtschaftliche Lage:

1.3.1. Die Familie des Beschwerdeführers lebt nach wie vor in der Provinz Nangarhar. Seit der Ausreise des Beschwerdeführers lebt die Familie in der Provinzhauptstadt Jalalabad, im Stadtteil „ XXXX “. Die Provinzhauptstadt liegt ungefähr eine halbe Stunde Autofahrt vom Heimatdorf des Beschwerdeführers entfernt.

1.3.2. Der Vater des Beschwerdeführers ist selbständig tätig und organisiert Menschen, die nach Saudi-Arabien reisen, Reisepässe. Mit den Einnahmen aus dieser Tätigkeit kann der Vater den Lebensunterhalt für die Familie gut bestreiten.

1.3.3. „ XXXX “, der jüngere Bruder des Beschwerdeführers studiert BWL an einer afghanischen Universität.

1.3.4. Die Familie verfügt im Distrikt Rhodat, in ihrem Heimatdorf nach wie vor über Grundstücke und ein Haus. Die Grundstücke werden von Bauern bewirtschaftet. Das Haus ist nicht vermietet.

1.3.5. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie regelmäßig in Kontakt.

1.4. Ausbildung und Berufserfahrung:

Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine in Afghanistan erworbene Schulbildung, noch über eine dort erworbene Berufserfahrung.

1.5. Gesundheitszustand:

1.5.1. Der Beschwerdeführer leidet an einer chronischen Hepatitis B – Erkrankung und bereits einer Leberschädigung.

1.5.2. Er nimmt deswegen das Medikament Viread 245 mg ein und hat regelmäßige Kontrolltermine.

1.6. Ausreise aus Afghanistan und Antragstellung in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste ungefähr Ende November 2015 aus Afghanistan aus und stellte schließlich am 29.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Zum individuellen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.1. Der der Beschwerdeführer war nicht als Bodyguard für seinen Vater tätig war. Überdies kann nicht festgestellt werden, dass der Vater des Beschwerdeführers als Dorfvorsteher und Leiter der Entwicklungskommission gearbeitet hat.

2.2. Der Beschwerdeführer wurde von den Taliban weder persönlich bedroht, noch wurden sonstige Handlungen oder Maßnahmen gegen diesen gesetzt.

2.3. Der Beschwerdeführer hatte in seinem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden noch wurde er wegen seiner Nationalität, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung oder seinem Bekenntnis zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Paschtunen oder wegen einer Zugehörigkeit zu einer anderen gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen ihn gesetzt.

3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

3.1. Der Beschwerdeführer lebt in einer Unterkunft in XXXX .

3.2. Der Beschwerdeführer hat in Österreich weder Familienangehörige noch sonstige Verwandte. Er selbst ist ledig.

3.3. Der Beschwerdeführer hat am 22.10.2017 den ersten Teil der Ausbildung im Projekt „ XXXX “ erfolgreich absolviert. Er arbeitet seit ungefähr Mai 2017 bei der Gemeinde XXXX am Bauhof mit. Von 01.01.2019 bis 17.06.2019 hat der Beschwerdeführer bei der Gemeinde XXXX für 3,00€ pro Stunde gearbeitet. Im Zeitraum Juni 2019 bis November 2019 war der Beschwerdeführer in der Gemeinde XXXX im Bereich der Landschaftspflege und in der Betreuung der gemeindeeigenen Anlagen beschäftigt.

3.4. Der Beschwerdeführer besucht derzeit weder einen Deutschkurs, noch hat er Prüfungen für ein Sprachzertifikat absolviert. Er beherrscht die deutsche Sprache nur sehr rudimentär.

3.5. In seiner Freizeit besucht der Beschwerdeführer ein Fitnessstudio, geht spazieren oder macht Ausflüge.

3.6. Der Beschwerdeführer hat keine österreichischen Kontaktpersonen.

3.7. Der Beschwerdeführer ist weder Mitglied in einem Verein noch betätigt er sich in einem solchen.

3.8. Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht erwerbstätig. Er lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er verfügt auch über keine Einstellzusage. Er möchte jedoch auf Baustellen arbeiten.

3.9. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

4. Zur persönliche Situation des Beschwerdeführers bei Rückkehr nach Afghanistan:

4.1. Familiäre Unterstützungsmöglichkeit:

Der Beschwerdeführer kann bei Rückkehr nach Afghanistan in geringfügigem Ausmaß und vorübergehend von seiner nach wie vor in Afghanistan lebenden Familie finanziell unterstützt werden.

4.2. Allgemeines:

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen oder zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück.

In Kooperation mit Partnerinstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten.

4.3. Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung:

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen.

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden. Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess. Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller oder die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzt. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen. Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen.

Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor.

4.4. Unterstützung durch IOM:

Die internationale Organisation für Migration (IOM – International Organization for Migration) unterstützt mit diversen Projekten die freiwillige Rückkehr und Reintegration von Rückkehrer/innen nach Afghanistan. In Bezug auf die Art und Höhe der Unterstützungsleistung muss zwischen unterstützter freiwilliger und zwangsweiser Rückkehr unterschieden werden. Im Rahmen der unterstützten Freiwilligen Rückkehr kann Unterstützung entweder nur für die Rückkehr (Reise) oder nach erfolgreicher Aufnahme in ein Reintegrationsprojekt auch bei der Wiedereingliederung geleistet werden.

Mit 1.1.2020 startete das durch den AMIF der Europäischen Union und das österreichische Bundesministerium für Inneres kofinanzierten Reintegrationsprojekt, RESTART III. Im Unterschied zu den beiden Vorprojekten RESTART und RESTART II steht dieses Projekt ausschließlich RückkehrerInnen aus Afghanistan zur Verfügung. RESTART III, ist wie das Vorgängerprojekt auf drei Jahre, nämlich bis 31.12.2022 ausgerichtet und verfügt über eine Kapazität von 400 Personen. Für alle diese 400 Personen ist neben Beratung und Information – in Österreich sowie in Afghanistan – sowohl die Bargeldunterstützung in der Höhe von 500 Euro wie auch die Unterstützung durch Sachleistungen in der Höhe von 2.800 Euro geplant.

Die Teilnahme am Reintegrationsprojekt von IOM ist an einige (organisatorische) Voraussetzungen gebunden. So stellen Interessent/innen an einer unterstützen freiwilligen Rückkehr zunächst einen entsprechenden Antrag bei einer der österreichischen Rückkehrberatungseinrichtungen - dem VMÖ (Verein Menschenrechte Österreich) oder der Caritas, oder in Kärnten auch beim Amt der Kärntner Landesregierung. Die jeweilige Rückkehrberatungsorganisation prüft dann basierend auf einem Kriterienkatalog des BMI, ob die Anforderungen für die Teilnahme durch die AntragsstellerInnen erfüllt werden. Für Reintegrationsprojekte ist durch das BMI festgelegt, dass nur Personen an dem Projekt teilnehmen können, die einen dreimonatigen Aufenthalt in Österreich vorweisen können. Es wird hier jedoch auf mögliche Ausnahmen hingewiesen, wie zum Beispiel bei Personen, die im Rahmen der Dublin-Regelung nach Österreich rücküberstellten werden. Des Weiteren sieht die BMI Regelung vor, dass nur eine Person pro Kernfamilie die Unterstützungsleistungen erhalten kann. Im Anschluss unterstützt die jeweilige Rückkehrberatungseinrichtung den/die Interessenten/in beim Antrag auf Kostenübernahme für die freiwillige Rückkehr an das BFA. Wenn die Teilnahme an dem Reintegrationsprojekt ebenso gewünscht ist, so ist ein zusätzlicher Antrag auf Bewilligung des Reintegrationsprojektes zu stellen. Kommt es in weiterer Folge zu einer Zustimmung des Antrags seitens des BMI wird ab diesem Zeitpunkt IOM involviert.

Es besteht auch die Möglichkeit jederzeit einen Antrag auf freiwillige Rückkehr zu stellen, auch ohne Teilnahme an dem Projekt. Eine Mitarbeiterin von IOM Österreich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es hier keine Teilung zwischen freiwilligen und unterstützten Rückkehrer/innen gibt. Grundsätzlich spricht man von unterstützter freiwilliger Rückkehr und zusätzlich gibt es die Reintegrationsunterstützung bei Projektteilnahme.

Neben Beratung und Vorabinformationen ist IOM für die Flugbuchung verantwortlich und unterstützt die Projektteilnehmer auch bei den Abflugmodalitäten. Flüge gehen in der Regel nach Kabul, können auf Wunsch jedoch auch direkt nach Mazar-e Sharif gehen [Anm.: Unter Umgehung von Kabul und mit Zwischenlandung in Mazar-e-Sharif]. Die Weiterreise nach Herat beispielsweise findet in der Regel auf dem Luftweg über Kabul statt. Die österreichischen Mitarbeiter unterstützen die Projektteilnehmer beim Einchecken, der Security Controle, der Passkontrolle und begleiten sie bis zum Abflug-Terminal. Teilnehmer am Reintegrationsprojekt RESTART III von IOM landen in der Regel (zunächst) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Dort werden sie von den örtlichen IOM-MitarbeiterInnen in Empfang genommen. IOM Mitarbeiter können Rückkehrer/innen direkt nach Verlassens des Flugzeuges empfangen und sie bei den Ein- oder Weiterreiseformalitäten unterstützen. An den Flughäfen anderer Städten wie Mazar-e-Sharif, Kandahar oder Herat gibt es keine derartige Ausnahmeregelung.

RESTART sowie die Folgeprojekte RESTART II und RESTART III unterscheiden sich nur minimal voneinander. So ist beispielsweise die Höhe der Barzahlung und auch die Unterstützung durch Sachleistungen gleich geblieben, wobei im ersten RESTART Projekt und in der ersten Hälfte von RESTART II nur 2.500 Euro in Sachleistung investiert wurden und die restlichen 300 Euro für Wohnbedürfnisse, Kinderbetreuung oder zusätzlich für Bildung zur Verfügung standen. Dies wurde im Verlauf von RESTART II geändert und es ist nun auch in RESTART III der Fall, sodass die gesamte Summe für eine einkommensgenerierende Tätigkeit verwendet werden kann.

IOM hat mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union das Projekt „RADA“ (Reintegration Assistance and Development in Afghanistan) entwickelt.

Innerhalb dieses Projektes gibt es eine kleine Komponente (PARA – Post Arrival Reception Assistance), die sich speziell an zwangsweise rückgeführte Personen wendet. Der Leistungsumfang ist stark limitiert und nicht mit einer Reintegrationsunterstützung vergleichbar. Die Unterstützung umfasst einen kurzen medical check (unmittelbare medizinische Bedürfnisse) und die Auszahlung einer Bargeldunterstützung in der Höhe von 12.500 Afghani (rund 140 EUR) zur Deckung unmittelbarer, dringender Bedürfnisse (temporäre Unterkunft, Weiterreise, etc.).

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020 [in Folge: „LIB“], Abschnitt 22. „Rückkehr“)

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden.

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an.

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ.

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt Länderspezifische Anmerkungen Covid-19 Stand 18.05.2020)

5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

5.1. Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

5.1.1. Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung innerafghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 2. „Sicherheitslage“)

Nach 18 Jahren Krieg zwischen den USA und den Taliban unterzeichneten sie am 29. Februar 2020 in Doha ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen im Gegenzug dafür, dass die Taliban sich bereit erklären, nicht mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten und Gespräche mit der afghanischen Regierung aufzunehmen. Die afghanische Regierung war jedoch nicht an dem Abkommen beteiligt, so dass die Taliban sich später weigerten, mit dem Verhandlungsteam der afghanischen Regierung zusammenzuarbeiten, was Fragen nach der Tragfähigkeit des Abkommens und der Wahrscheinlichkeit aufwarf, dass es zu Frieden führen wird. Eine Woche vor der Unterzeichnung des Abkommens konnte in einem 8-tägigen Zeitraum der „Verringerung der Gewalt“ (RiV) ein deutlicher Rückgang der Sicherheitsvorfälle verzeichnet werden. Nachdem die RiV jedoch mit der Unterzeichnung des Abkommens endete, erklärten die Taliban, dass „der Krieg nicht gegen ausländische Truppen, sondern gegen die afghanische Regierung weitergeführt würde“. Die Taliban-Militärkommission hat sich Berichten zufolge auch bei der wichtigsten Taliban-Führung um Zusicherungen bemüht, dass die Kämpfe ungeachtet des Abkommens fortgesetzt werden.

Die beiden Hauptbestandteile des Abkommens bestehen darin, dass es Garantien gibt, alle ausländischen Streitkräfte im Rahmen eines stufenweisen Vorgehens über 135 Tage aus Afghanistan abzuziehen; im Gegenzug sollte es jedoch Mechanismen geben, die verhindern sollen, dass Afghanistan von Gruppen (insbesondere den Taliban und Al-Qaida) oder Einzelpersonen genutzt wird, die eine Sicherheitsbedrohung für die USA und ihre Verbündeten darstellen. Ferner wurde festgelegt, dass im März 2020 innerafghanische Verhandlungen über „echte Friedensgespräche“ stattfinden sollen, die zu einem dauerhaften und nachhaltigen Waffenstillstand und einer Einigung über die politische Zukunft Afghanistans führen sollen. Die AAN stellte jedoch im März 2020 fest, dass den Taliban im Rahmen des Abkommens „wenige Verpflichtungen“ auferlegt werden. Die Abkommen über die Freilassung von Taliban-Gefangenen führten auch zu Bedenken über einer Rückkehr zur Gewalt.

Zusammen mit dem Abkommen von Doha unterzeichneten die USA eine „gemeinsame Erklärung“ mit der Regierung Afghanistans, um eine politische Lösung und einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zu ermöglichen, wobei sie gleichzeitig die fortgesetzte Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte bekräftigten und von einer Einmischung in innere Angelegenheiten absahen. Mitte Juni 2020 einigten sich die Taliban und die afghanische Regierung schließlich auf Doha als Veranstaltungsort für ihre erste Sitzung des hochrangigen „innerafghanischen Dialogs“, hielten aber die Bestätigung bis zu Meinungsverschiedenheiten über die Freilassung von Gefangenen zurück.

Nach Angaben der USA haben die Taliban seit dem Abschluss des Abkommens im Februar keine Angriffe auf internationale Streitkräfte unternommen; sie haben jedoch ihre Angriffe auf die afghanischen Regierungstruppen verstärkt. In einem Bericht über die Gewaltmuster in den vier Wochen seit den acht Tagen RiV, die im Rahmen des US-Taliban-Abkommens vereinbart wurden, kam die AAN zu dem Schluss, dass „die einzigen Zivilisten, die von dem US-Taliban-Abkommen profitiert haben, offenbar diejenigen sind, die in von den Taliban kontrollierten Gebieten leben“, in denen die US- und afghanischen Streitkräfte eine „defensive Haltung“ einnahmen und Luftangriffe und Nachtangriffe stoppten; in umstrittenen Gebieten stellte der Bericht jedoch fest, dass viele Zivilisten angaben, die Taliban würden erneut angreifen, und dass eine „mögliche Verschärfung des Konflikts“ befürchtet wurde. Die Gewalt wurde unmittelbar nach dem Ende der RiV wiederaufgenommen. Die Taliban setzten ihre Angriffe gegen den ANSF (über 76 Angriffe in 24 Provinzen innerhalb einer Woche nach Unterzeichnung des Abkommens) trotz des Abkommens fort. Die USA nahmen auch die Luftangriffe wieder auf, von denen der erste 5 Tage nach dem Abkommen stattfand.

Die AFP gab an, dass seit dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban die Angriffe der Taliban in den Städten weniger häufig waren, aber weiterhin auf die afghanischen Regierungstruppen in ländlichen Gebieten abzielten; so wurden beispielsweise bei einem Angriff der Taliban im Juni 2020 11 regierungsfreundliche Milizionäre getötet. Nach einem kurzen Waffenstillstand für Eid Ende Mai 2020 gaben Quellen, die vom Long War Journal (LWJ) zitiert wurden, an, dass die Taliban ihre Angriffe im Juni 2020 wieder verstärkten und die Angriffe auf Regierungstruppen intensivierten. Mitte Juni 2020 behauptete das Innenministerium, dass die Taliban über 200 Angriffe durchgeführt hätten, bei denen Anfang Juni mehr als 400 Sicherheitskräfte getötet oder verwundet wurden. Die New York Times berichtete unterdessen, dass im Juni 2020 322 regierungsnahe Sicherheitskräfte und 159 Zivilisten getötet wurden.

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen Country of Origin Information Report Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs), August 2020 [in Folge: „EASO-Bericht Regierungsfeindliche Gruppierungen“], abrufbar unter: https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/2020_08_EASO_COI_AFG_Anti-Governement_Elements_Report.pdf, abgerufen am 01.09.2020, Abschnitt 1.2.)

5.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Allgemeines

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes. Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind.

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt. Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000. Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren.

(Auszüge und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt. 2. „Sicherheitslage“)

5.1.3. Grundversorgungs- und Wirtschaftslage:

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport.

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Das BIP Afghanistans betrug im Jahr 2018 19,36 Mrd. US-Dollar. Die Inflation lag im Jahr 2018 durchschnittlich bei 0,6% und wird für 2019 auf 3,1% prognostiziert.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Es wird erwartet, dass sich das Real-BIP in der ersten Hälfte des Jahres 2019 vor allem aufgrund der sich entspannenden Situation zur Dürre und einer sich verbessernden landwirtschaftlichen Produktion erhöht.

(Auszug und Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 20. „Grundversorgung“)

5.1.4. Rechtsschutz und Justizwesen in Afghanistan:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council – AUC) beraten. Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht.

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.: Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen. Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen – einschließlich Menschenrechtsverträge – vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden.

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht.

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen. Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Was oft zu einer Diskriminierung von Frauen führte. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren. Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen. Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politische Einflussnahme und weit verbreitete Korruption beeinflusst. Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt. Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent.

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Obwohl die Verfassung das Recht auf öffentliche Prozesse vorsieht, finden nur in einigen Provinzen solche öffentlichen Prozesse statt. Auch verlangt das Gesetz von Richter/innen eine Vorankündigung von fünf Tagen vor einer Verhandlung. Nicht alle Richter/innen folgen diesen Vorgaben und viele Bürger beschwerten sich über Gerichtsverfahren, die sich oft über Jahre hinziehen. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten rechtzeitig über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt – sofern es die Ressourcen erlauben – sich auf öffentliche Kosten von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt. Dem Justizsystem fehlen die Kapazitäten, um die große Zahl an neuen oder veränderten Gesetzen zu absorbieren. Der Zugang zu Gesetzestexten wurde verbessert, jedoch werden durch die schlechte Zugänglichkeit immer noch einige Richter und Staatsanwälte in ihrer Arbeit behindert.

Richterinnen und Richter

Das Justizsystem leidet unter einem Mangel an Richtern - insbesondere in unsicheren Gebieten; weswegen viele Fälle durch informelle, traditionelle Mediation entschieden werden. Die Unsicherheit im ländlichen Raum behindert eine Justizreform, jedoch ist die Unfähigkeit des Staates, eine effektive und transparente Gerichtsbarkeit herzustellen, ein wichtiger Grund für die Unsicherheit im Land.

Die Rechtsprechung durch unzureichend ausgebildete Richter basiert in vielen Regionen auf einer Mischung aus verschiedenen Gesetze. Ein Mangel an Richterinnen – insbesondere außerhalb von Kabul – schränkt den Zugang von Frauen zum Justizsystem ein, da kulturelle Normen es Frauen verbieten, mit männlichen Beamten zu tun zu haben. Nichtsdestotrotz, sind in Afghanistan 257 Richterinnen tätig (13% - insgesamt 2.029 Richterinnen und Richter). Der Großteil von ihnen arbeitet in Kabul; aber auch in anderen Provinzen wie in Herat, Balkh, Takhar und Baghlan.

Sowohl Angeklagte, als auch deren Rechtsanwälte haben das Recht, vor den Verhandlungen Beweise und Dokumente im Zusammenhang mit den Verfahren zu prüfen. Nichtsdestotrotz sind Gerichtsdokumente trotz des Ersuchens der Verteidiger vor der Verhandlung oft nicht zur Prüfung verfügbar. Richter und Anwälte erhalten oft Drohungen oder Bestechungen von örtlichen Machthabern oder bewaffneten Gruppen. Die Richterschaft zeigt sich respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern, jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen auf und Bedrohung von Strafverteidigern durch die Staatsanwaltschaft oder andere Dienststellen der Exekutive. Anklage und Verhandlungen weisen eine Reihe von Schwächen auf: dazu zählen das Fehlen einer angemessenen Vertretung, übermäßige Abhängigkeit von unverifizierten Zeugenaussagen, einem Mangel an zuverlässigen forensischen Beweisen, willkürlichen Entscheidungen sowie Gerichtsentscheidungen, die nicht veröffentlicht werden.

Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte sowie Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Es gibt eine tief verwurzelte Kultur der Straflosigkeit in der politischen und militärischen Elite des Landes. Im Juni 2016 wurde auf Grundlage eines Präsidialdekrets das „Anti-Corruption Justice Center“ (ACJC) eingerichtet, um gegen korrupte Minister, Richter und Gouverneure vorzugehen. Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen. Das ACJC, zu dessen Aufgaben auch die Verantwortung für große Korruptionsfälle gehört, verhängte Strafen gegen mindestens 67 hochrangige Beamte, davon 16 Generäle der Armee oder Polizei sowie sieben Stellvertreter unterschiedlicher Organisationen, aufgrund der Beteiligung an korrupten Praktiken. Alleine von 1.12.2018-1.3.2019 wurden mehr als 30 hochrangige Personen der Korruption beschuldigt und bei einer Verurteilungsrate von 94% strafverfolgt. Unter diesen Verurteilten befanden sich vier Oberste, ein stellvertretender Finanzminister, ein Bürgermeister, mehrere Polizeichefs und ein Mitglied des Provinzialrates.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 3. „Rechtsschutz/Justizwesen“)

5.1.5. Sicherheitsbehörden in Afghanistan:

Im Zeitraum 2011 – 2014 wurde die Verantwortung für die Sicherheitsoperationen in Afghanistan schrittweise auf die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) übertragen. Die ANSF setzt sich aus staatlichen Sicherheitskräften zusammen, darunter die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Luftwaffe (AAF), die afghanische Nationalpolizei (ANP), die afghanische lokale Polizei (ALP) und das National Directorate for Security (NDS), welches als Geheimdienst fungiert.

Die Wirksamkeit der afghanischen Streitkräfte hängt nach wie vor von der internationalen Unterstützung ab, um die Kontrolle über das Territorium zu sichern und zu behalten und die operative Kapazität zu unterstützen.

Die Polizeipräsenz ist auch in den Städten stärker und die Polizeibeamten sind verpflichtet, Richtlinien wie den ANP-Verhaltenskodex und die Richtlinien zum Einsatz von Gewalt einzuhalten. Die Reaktion der Polizei wird jedoch als unzuverlässig und inkonsistent bezeichnet, die Polizei hat eine schwache Ermittlungskapazität, es fehlt an forensischer Ausbildung und technischem Wissen. Der Polizei wird auch weit verbreitete Korruption, Gönnerschaft und Machtmissbrauch vorgeworfen: Einzelpersonen in den Institutionen können ihre Machtposition missbrauchen und Erpressung zur Ergänzung ihres niedrigen Einkommens einsetzen. Es kam weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Polizei, und Folter ist bei der Polizei endemisch. Untätigkeit, Inkompetenz, Straffreiheit und Korruption führen zu Leistungsschwächen.

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019 [in Folge: „EASO-Länderleitfaden Afghanistan“], des European Asylum Support Office [in Folge: „EASO“], abrufbar https://www.easo.europa.eu/country-guidance, abgerufen 01.09.2020, S. 122 mit Verweis auf weitere Quellen)

5.1.6. Folter und unmenschliche Behandlung:

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Wenngleich Afghanistan die UN-Konvention gegen Folter ratifiziert hat, Gesetze zur Kriminalisierung von Folter erlassen hat und eine Regierungskommission zur Folter einsetzte, hat die Folter seit Regierungsantritt im Jahr 2014 nicht wesentlich abgenommen – auch werden keine hochrangigen Beamten, denen Folter vorgeworfen wird, strafrechtlich verfolgt.

Die Verfassung und das Gesetz verbieten solche Praktiken, dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Berichten von NGOs zufolge, wenden die Sicherheitskräfte auch weiterhin übermäßige Gewalt an; dazu zählen unter anderem auch Folter und Misshandlung von Zivilisten. Obwohl es Fortschritte gab, ist Folter in afghanischen Haftanstalten weiterhin verbreitet. Rund ein Drittel der Personen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden, sind gemäß einem Bericht der UNAMA von Folter betroffen. Es gibt dagegen keine Berichte über Folter in Haftanstalten, die der Kontrolle des General Directorate for Prison and Detention Centres des afghanischen Innenministeriums unterliegen. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger.

Der Anteil der Personen, die über Folter berichteten, ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken. Auch existieren große Unterschiede abhängig von der geografischen Lage der Haftanstalt: wurde bei einer Befragung durch UNAMA durchschnittlich von rund 31% der Befragten (45 Häftlinge) in ANP-Anstalten von Folter oder schlechter Behandlung berichtet (wenngleich dies ein Rückgang zum Vorjahreswert ist, der 45% betrug), so gaben 77% der Befragten (22 Häftlinge) aus einer ANP-Anstalt in Kandahar an, gefoltert und schlecht behandelt zu werden. Anstalten des NDS in Kandahar und Herat, konnten erwähnenswerte Verbesserungen vorweisen, während die Behandlung von Häftlingen in den Provinzen Kabul, Khost und Samangan auch weiterhin besorgniserregend war. Die Arten von Misshandlung, beispielsweise in einer ANP-Hafteinrichtung in Kandahar, umfassen schwere Schläge, Elektroschocks, das Aufhängen an den Armen für längere Zeit, Ersticken, Quetschen der Hoden, Verbrennungen, Schlafentzug, sexuelle Übergriffe und Androhung der Exekution.

Die afghanische Regierung hat Kontrollmechanismen eingeführt, um Fälle von Folter verfolgen und verhindern zu können. Allerdings sind diese weder beim NDS noch bei der afghanischen Polizei durchsetzungsfähig. Daher erfolgt eine Sanktionierung groben Fehlverhaltens durch Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bisher nur selten. Die Rechenschaftspflicht der Sicherheitskräfte für Folter und Missbrauch ist schwach, intransparent und wird selten durchgesetzt. Eine unabhängige Beobachtung durch die Justiz bei Ermittlungen oder Fehlverhalten ist eingeschränkt bis inexistent. Mitglieder der ANP und ALP sind sich ihrer Verantwortung weitgehend nicht bewusst und unwissend gegenüber den Rechten von Verdächtigen.

Das Gesetz sieht Entschädigungszahlungen für die Opfer von Folter vor, jedoch ist die Barriere für einen Beweis der Folter sehr hoch. Für eine Entschädigungszahlung ist der Nachweis von physischen Anzeichen von Folter am Körper eines Inhaftierten notwendig.

(Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 5. „Folter und unmenschliche Behandlung“)

5.1.7. Binnenflüchtlinge:

Im Jahresverlauf 2019 verstärkten sich Migrationsbewegungen innerhalb des Landes aufgrund des bewaffneten Konfliktes und einer historischen Dürre. UNHCR berichtet für den Zeitraum 1.1.-6.11.2019 380.289 Personen, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes zu Binnenvertriebenen (IDPs, internally displaced persons) wurden. Mit Stand 29.3.2020 wurden 52.700 Menschen aufgrund des Konflikts zu IDPs – dafür waren landesweite Kämpfe zwischen nichtstaatlichen Akteuren und den nationalen afghanischen Sicherheitskräften verantwortlich.

Die meisten IDPs stammen aus unsicheren ländlichen Ortschaften und kleinen Städten und suchen nach relativ besseren Sicherheitsbedingungen sowie Regierungsdienstleistungen in größeren Gemeinden und Städten innerhalb derselben Provinz. In allen 34 Provinzen werden IDPs aufgenommen.

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Ein Großteil der Binnenflüchtlinge ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führt zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlt weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft.

IDPs sind in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kommt es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Mehr als 80% der Binnenvertriebenen benötigen Nahrungsmittelhilfe. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand haben oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen.

Die afghanische Regierung kooperiert mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Unterstützungsfähigkeit der afghanischen Regierung bezüglich vulnerabler Personen – inklusive Rückkehrern aus Pakistan und Iran – ist beschränkt und auf die Hilfe durch die internationale Gemeinschaft angewiesen.

(Auszug und Zusammenfassung aus dem LIB, Abschnitt 19. „IDPs und Flüchtlinge“)

5.1.8. Zu den Rückkehrern nach Afghanistan:

Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019. Seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan (Anm.: 23.4.-24.5.2020) hat sich die Anzahl der Rückkehr/innen (undokumentierter, aber auch unterstützter Rückkehr/innen) reduziert. Im gleichen Zeitraum kehrten 1.833 undokumentierte und 1.662 von IOM unterstütze Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurück. Pakistan hat temporär und aufgrund der COVID-19-Krise seine Grenze nach Afghanistan geschlossen. Durch das sogenannte „Friendship Gate“ in Chaman (Anm.: in Balochistan/ Spin Boldak, Kandahar) wurden im April 37.000 afghanische Familien auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung von Pakistan nach Afghanistan gelassen. An einem weiteren Tag im Mai 2020 kehrten insgesamt 2.977 afghanische Staatsbürger/innen nach Afghanistan zurück, die zuvor in unterschiedlichen Regionen Balochistans gestrandet waren.

Im Zeitraum 1.1.2019 – 4.1.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Im Jahr 2018 kehrten aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 aus dem Iran und 32.725 aus Pakistan. Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan.

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrer als positiv empfunden. Jedoch ist der Reintegrationsprozess der Rückkehrer oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen.

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind.

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt.

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren.

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen.

(Auszug und Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus dem LIB, Abschnitt 22. „Rückkehr“)

5.2. Lage in der Heimatprovinz und dem Heimatdistrikt des Beschwerdeführers:

5.2.1. Allgemeines:

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad. Die Prov

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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