TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/2 W154 2235551-1

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Veröffentlicht am 02.10.2020
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Entscheidungsdatum

02.10.2020

Norm

BFA-VG §22a Abs1
BFA-VG §22a Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §76 Abs2 Z2
VwG-AufwErsV §1
VwGVG §35 Abs2
VwGVG §35 Abs3

Spruch

W 154 2235551-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. KRACHER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Asyl in Not, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.06.2020 zur Zl. 1051875105/200491945, sowie die Anhaltung in Schubhaft seit 16.06.2020 zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG stattgegeben und der angefochtene Bescheid aufgehoben.

Gleichzeitig wird die Anhaltung in Schubhaft seit 16.06.2020 für rechtswidrig erklärt.

II. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

III. Der Antrag der belangten Behörde auf Kostenersatz wird gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG abgewiesen.

IV. Der Bund (Bundesminister für Inneres) hat gemäß § 35 Abs. 2 VwGVG iVm VwGAufwandersatzverordnung, BGBl. II Nr. 517/2013, dem Beschwerdeführer zu Handen seines ausgewiesenen Vertreters den Verfahrensaufwand in Höhe von 736,60 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

V. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Mit dem oben im Spruch angeführten Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wurde über den Beschwerdeführer (in Folge: BF) gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) iVm. § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer (BF) persönlich am 16.06.2020 zugestellt.

Am 29.09.2020 langte die Schubhaftbeschwerde des BF beim Bundesverwaltungsgericht ein. Darin wurde im Wesentlichen beantragt auszusprechen, dass die Anordnung der Schubhaft und die bisherige Anhaltung in rechtswidriger Weise erfolgt sei, und auszusprechen, dass die Voraussetzungen zur weiteren Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft nicht vorliegen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen sowie der belangten Behörde die Kosten im gesetzlichen Ausmaß aufzuerlegen.

Die Beschwerde stützt sich insbesondere auf die Unzulässigkeit der Inschubhaftnahme und der Abschiebung aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des BF sowie auf die mangelnde Überprüfung der Verhältnismäßigkeit und stellte ein Kostenbegehren.

Auf Ersuchen der zuständigen Gerichtsabteilung wurden dem Bundesverwaltungsgericht in Folge vom BFA die Verwaltungsakten übermittelt und eine Stellungnahme erstattet. Darin führte die belangte Behörde wie folgt aus:

„Das Asylverfahren des Herrn XXXX (BF) wurde mit 18.01.2017 in 2. Instanz gem. § 3 AsylG negativ und gem. § 8 AsylG positiv beschieden. Gleichzeitig wurde ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG gültib bis 10.01.2018 sowie 11.12.2019 erteilt.

Mit 11.12.2019 wurde ihm mittels Verfahren gem. § 9 AsylG der Status des subsidiären Schutzes rechtskräftig aberkannt und gleichzeitig mit einer Rückkehrentscheidung beschieden.

Am 27.12.2019 wurde ein Verfahren zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates gestartet.

Für 24.01.2020 wurde der BF mittels Mitwirkungsbescheid gem. § 46 Abs. 2a und 2b FPG iVm § 19 AVG zu einem Interviewtermin bei der afghanischen Delegation geladen. Der BF ist jedoch entschuldigt nicht erschienen, indem er eine Bestätigung von einem Spital vorlegte.

Der BF wurde neuerlich für 06.03.2020 mittels Mitwirkungsbescheid geladen, jedoch ist er zu diesem unentschuldigt nicht erschienen, obwohl er diesen persönlich von der LPD Wien am 28.02.2020 übernommen hat.

Am 16.06.2020, um 02:18 Uhr wurde der BF von der LPD Wien festgenommen und ins PAZ Hernalser Gürtel eingeliefert.

Am 16.06.2020, um 11:55 Uhr wurde der BF niederschriftlich einvernommen.

Am 16.06.2020, um 13:35 Uhr wurde dem BF der Schubhaftbescheid persönlich zugestellt.

Am 19.06.2020 wurde der BF der afghanischen Delegation vorgeführt und wurde der Ausstellung eines Heimreisezertifikates zugestimmt.

Am 06.07.2020, um 10:00 Uhr wurde der BF niederschriftlich einvernommen. Während dieser Einvernahme hat der BF einen Folgeantrag gestellt.

Mit Aktenvermerk vom 06.07.2020 gem. § 76 Abs. 6 FPG wurde festgestellt, dass zum jetzigen Zeitpunkt die Anhaltung in Schubhaft aufrecht bleibt, da die Voraussetzungen weiterhin vorliegen. Dieser wurde ihm am 06.07.2020, um 12:00 Uhr persönlich zugestellt.

Am 14.07.2020 wurde mittels Aktenvermerk gem. § 80 Abs. 6 FPG von Amts wegen geprüft, dass die weitere Anhaltung in Schubhaft weiterhin verhältnismäßig ist.

Am 15.07.2020 wurde von der Schlafstelle in einem Flüchtlingswohnhaus der Volkshilfe die Effekten des BF eingeholt.

Am 11.08.2020 wurde mittels Aktenvermerk gem. § 80 Abs. 6 FPG von Amts wegen geprüft, dass die weitere Anhaltung in Schubhaft weiterhin verhältnismäßig ist.

Am 08.09.2020 wurde mittels Aktenvermerk gem. § 80 Abs. 6 FPG von Amts wegen geprüft, dass die weitere Anhaltung in Schubhaft weiterhin verhältnismäßig ist.

Am 23.09.2020 wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter im Asylverfahren ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ha. eingebracht.

Am 30.09.2020, um 08:12 Uhr langte ha. die Schubhaftbeschwerde ein.

Der Beschwerde ist entgegen zu halten, dass im Aberkennungsverfahren der Krankheitszustand ausgiebig geprüft wurde, da vom BF Befunde vorgelegt wurden.

Der Bescheid wurde ihm persönlich zugestellt und ist somit ohne Einbringung einer Beschwerde in Rechtskraft erwachsen.

Den ersten und zweiten Mitwirkungsbescheid für einen Interviewtermin bei der afghanischen Delegation hat der BF persönlich übernommen. Beim ersten Interview ist er entschuldigt nicht erschienen, jedoch beim zweiten ist er unentschuldigt gewesen.

Nach seiner Festnahme bei der niederschriftlichen Einvernahme am 16.06.2020 hat der BF selbst angegeben, dass er an der gemeldeten Adresse nicht wohnhaft ist. Er hat angeben, dass er bei einer Notschlafstelle Unterkunft nimmt. Dort wo auch seine Effekten eingeholt wurden.

Weiters hat er in der niederschriftlichen Einvernahme am 06.07.2020, nach Zustimmung eines Heimreisezertifikates mitgeteilt, dass er keiner freiwilligen Rückkehr zustimmt.

Gleichzeitig hat er einen neuerlichen Asylantrag gestellt. Damit er wieder der Abschiebung entgehen kann.

Nachdem der Asylantrag negativ entschieden wird, kann der BF beim nächstmöglichen Charter, derzeit geplant am 10.11.2020 mit einem Heimreisezertifikat abgeschoben werden.

Einzelabschiebungen sind derzeit nach Afghanistan nicht möglich.

Damit der BF sich nicht wieder dem Verfahren zur Sicherung der Abschiebung, nach negativen Abschluss des Folgeantrages, entzieht ist somit der Sicherungsbedarf gegeben.“

In der Stellungnahme beantragte die belangte Behörde abschließend die Abweisung der Beschwerde sowie die Feststellung gemäß § 83 Abs. 4 FPG, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen sowie den Ersatz der verzeichneten Kosten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan und nicht österreichischer Staatsangehöriger. Der BF hält sich seit 2015 in Österreich auf.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.01.2017, Zahl: W191 2133119-1/6E, wurde dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 10.01.2018 erteilt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in Folge bis 10.01.2020 erteilt.

Am 06.11.2019 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt. Die ordnungsgemäße Zustellung des genannten Bescheides ist gegenwärtig ungeklärt, diesbezüglich wurde am 23.09.2020 seitens des BF durch seine rechtliche Vertretung ein Wiedereinsetzungsantrag in den vorigen Stand gemäß § 71 AVG gestellt. Das Verfahren ist gegenwärtig noch offen.

Mit dem oben im Spruch angeführten Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wurde über den BF gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) iVm. § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Der Bescheid wurde dem BF persönlich am 16.06.2020 zugestellt. Die Schubhaft wird gegenwärtig im Polizeianhaltezentrum Wien, Hernalser Gürtel, vollzogen.

Am 06.07.2020 stellte der BF im Stande der Schubhaft einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Das Verfahren ist noch offen.

In Österreich verfügt der BF zwar über keine familiären Anknüpfungspunkte, jedoch über einen Freundeskreis. Anhaltspunkte für eine umfassende Integration des BF in Österreich in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht sind – trotz des mehrjährigen Aufenthalts – nicht hervorgekommen.

Der BF ist seit 19.05.2015 nahezu durchgehend bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Wiener Adressen, zum überwiegenden Teil mit Hauptwohnsitz, behördlich gemeldet.

Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 04.09.2019 wegen §§ 287, 125, 126 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten sowie mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 09.07.2020 (Tatzeitpunkt: 23.02.2020) wegen §§ 127, 125, 83 (1) StGB und §§ 287, 125, 126 (1) Z 5, § 15 StBG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt.

Der BF ist gesundheitlich äußerst labil, er hat bereits zwei Suizidversuche unternommen.

Es gibt keine hinreichenden Indizien für die Annahme, dass sich der BF nach Entlassung aus der Schubhaft dem Zugriff der Behörden umgehend entziehen würde.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF getroffen wurden, beruhen diese auf den vom BFA im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.

Die Feststellung zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des BF ergeben sich aus dem im Akt einliegenden Auszug aus dem Strafregister sowie dem vorliegenden Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Die Feststellung hinsichtlich der aufrechten Wohnsitzmeldung ergibt sich aus einer Abfrage beim Zentralen Melderegister.

Im Übrigen beruht der oben festgestellte Sachverhalt auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht auf Grund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens, auf Grundlage der Angaben des BF im Verfahren vor der belangten Behörde und den entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Bescheid.

Die Feststellung, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der BF nach einer Entlassung aus der Schubhaft sich umgehend der Zugriffsmöglichkeit der Behörden entziehen würde, stützt sich zum einen darauf, dass der BF seit 19.05.2015 durchgehend an Wiener Adressen, zum überwiegenden Teil mit Hauptwohnsitz, behördlich gemeldet ist. Der BF hat an der Meldeadresse auch immer wieder behördliche Schriftstücke persönlich übernommen, was für sein kooperatives Verhalten der Behörde gegenüber spricht. Darüber hinaus ist er zumindest zweimal behördlichen Terminen entschuldigt nicht nachgekommen. Zum anderen ist darauf zu verweisen, dass sich der BF zumindest bis Dezember 2019 legal im Bundesgebiet aufgehalten hat. Wie bereits ausgeführt, war der BF auch danach für die Behörde greifbar, auch verfügt er nach wie vor über eine behördliche Wohnsitzmeldung.

Die Feststellung hinsichtlich seiner familiären Verhältnisse gründet auf die explizite Aussage des BF in der Einvernahme vor dem BFA vom 16.06.2020. Wenn der BF zwar nicht über familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich verfügt, so ist er doch privat integriert, weist er doch einen Freundeskreis auf, was aus der Anhaltedatei ersichtlich ist. So hat der BF seit der Inschubhaftnahme regelmäßig Besuch von Bekannten erhalten. Die Feststellung hinsichtlich einer mangelnden weitergehenden Integration des BF insbesondere in beruflicher Hinsicht ergibt sich aus dem Verwaltungsakt und dem Gerichtsakt. So ergibt sich auch aus der Beschwerde nichts Gegenteiliges.

Die Feststellung hinsichtlich des Gesundheitszustandes des BF ergibt sich sowohl aus im Verwaltungsakt der Behörde als auch im Gerichtsakt einliegenden medizinischen Berichten.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu Spruchpunkt I. – Schubhaftbescheid, Anhaltung in Schubhaft

3.1.1. Gesetzliche Grundlage:

Der mit „Schubhaft“ betitelte § 76 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, lautet:

„§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z 1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß.“

§ 77 Gelinderes Mittel

Gemäß § 77 Abs. 1 FPG hat das Bundesamt bei Vorliegen der in § 76 genannten Gründe gelindere Mittel anzuordnen, wenn es Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann. Gegen mündige Minderjährige hat das Bundesamt gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn bestimmte Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann; diesfalls gilt § 80 Abs. 2 Z 1 FPG.

Gemäß § 77 Abs. 2 FPG ist Voraussetzung für die Anordnung gelinderer Mittel, dass der Fremde seiner erkennungsdienstlichen Behandlung zustimmt, es sei denn, diese wäre bereits aus dem Grunde des § 24 Abs. 1 Z 4 BFA-VG von Amts wegen erfolgt.

Gemäß § 77 Abs. 3 FPG sind gelindere Mittel insbesondere die Anordnung, (Z 1) in vom Bundesamt bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen, (Z 2) sich in periodischen Abständen bei einer Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden oder (Z 3) eine angemessene finanzielle Sicherheit beim Bundesamt zu hinterlegen.

Kommt der Fremde gemäß § 77 Abs. 4 FPG seinen Verpflichtungen nach Abs. 3 nicht nach oder leistet er ohne ausreichende Entschuldigung einer ihm zugegangenen Ladung zum Bundesamt, in der auf diese Konsequenz hingewiesen wurde, nicht Folge, ist die Schubhaft anzuordnen. Für die in der Unterkunft verbrachte Zeit gilt § 80 mit der Maßgabe, dass die Dauer der Zulässigkeit verdoppelt wird.

Gemäß § 77 Abs. 5 FPG steht die Anwendung eines gelinderen Mittels der für die Durchsetzung der Abschiebung erforderlichen Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt nicht entgegen. Soweit dies zur Abwicklung dieser Maßnahmen erforderlich ist, kann den Betroffenen aufgetragen werden, sich für insgesamt 72 Stunden nicht übersteigende Zeiträume an bestimmten Orten aufzuhalten.

Gemäß § 77 Abs. 6 FPG hat sich zur Erfüllung der Meldeverpflichtung gemäß Abs. 3 Z 2 der Fremde in periodischen, 24 Stunden nicht unterschreitenden Abständen bei einer zu bestimmenden Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden. Die dafür notwendigen Angaben, wie insbesondere die zuständige Dienststelle einer Landespolizeidirektion sowie Zeitraum und Zeitpunkt der Meldung, sind dem Fremden vom Bundesamt mit Verfahrensanordnung (§ 7 Abs. 1 VwGVG) mitzuteilen. Eine Verletzung der Meldeverpflichtung liegt nicht vor, wenn deren Erfüllung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war.

Gemäß § 77 Abs. 7 FPG können die näheren Bestimmungen, welche die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit gemäß Abs. 3 Z 3 regeln, der Bundesminister für Inneres durch Verordnung festlegen.

Gemäß § 77 Abs. 8 FPG ist das gelindere Mittel mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Bescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

Gemäß § 77 Abs. 9 FPG können die Landespolizeidirektionen betreffend die Räumlichkeiten zur Unterkunftnahme gemäß Abs. 3 Z 1 Vorsorge treffen.

Zur Judikatur:

3.1.2. Die Anhaltung in Schubhaft ist nach Maßgabe der grundrechtlichen Garantien des Art. 2 Abs. 1 Z 7 PersFrBVG und des Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK nur dann zulässig, wenn der Anordnung der Schubhaft ein konkreter Sicherungsbedarf zugrunde liegt und die Schubhaft unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls verhältnismäßig ist. Dabei sind das öffentliche Interesse an der Sicherung der Aufenthaltsbeendigung und das Interesse des Betroffenen an der Schonung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen. Kann der Sicherungszweck auf eine andere, die Rechte des Betroffenen schonendere Weise, wie etwa durch die Anordnung eines gelinderen Mittels nach § 77 FPG, erreicht werden (§ 76 Abs. 1 FPG), ist die Anordnung der Schubhaft nicht zulässig (VfGH 03.10.2012, VfSlg. 19.675/2012; VwGH 22.01.2009, Zl. 2008/21/0647; 30.08.2007, Zl. 2007/21/0043).

Ein Sicherungsbedarf ist in der Regel dann gegeben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder diese zumindest wesentlich erschweren werde (§ 76 Abs. 3 FPG). Es ist allerdings nicht erforderlich, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bereits eingeleitet worden ist (VwGH 28.06.2002, Zl. 2002/02/0138).

Die fehlende Ausreisewilligkeit des Fremden, d.h. das bloße Unterbleiben der Ausreise, obwohl keine Berechtigung zum Aufenthalt besteht, vermag für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen. Vielmehr muss der – aktuelle – Sicherungsbedarf in weiteren Umständen begründet sein, etwa in mangelnder sozialer Verankerung in Österreich. Dafür kommt insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet in Betracht, was die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, rechtfertigen kann. Abgesehen von der damit angesprochenen Integration des Fremden in Österreich ist bei der Prüfung des Sicherungsbedarfes auch sein bisheriges Verhalten in Betracht zu ziehen, wobei frühere Delinquenz das Gewicht des öffentlichen Interesses an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung maßgeblich vergrößern kann (VwGH 21.12.2010, Zl. 2007/21/0498; weiters VwGH 08.09.2005, Zl. 2005/21/0301; 23.09.2010, Zl. 2009/21/0280).

„Die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel iSd § 77 Abs 1 FrPolG 2005 ist eine Ermessensentscheidung. Auch die Anwendung gelinderer Mittel setzt das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraus. Fehlt ein Sicherungsbedarf, dann darf weder Schubhaft noch ein gelinderes Mittel verhängt werden. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Der Behörde kommt aber auch dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (Hinweis E 17.03.2009, 2007/21/0542; E 30.08.2007, 2007/21/0043). Mit anderen Worten: Kann das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, dann wäre es rechtswidrig, Schubhaft zu verhängen; in diesem Fall hat die Behörde lediglich die Anordnung des gelinderen Mittels vorzunehmen (Hinweis E 28.05.2008, 2007/21/0246). Der Ermessenspielraum besteht also für die Behörde nur insoweit, als trotz eines die Schubhaft rechtfertigenden Sicherungsbedarfs davon Abstand genommen und bloß ein gelinderes Mittel angeordnet werden kann. Diesbezüglich liegt eine Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn die eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten wurden, also nicht vom Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde“ (VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, vgl. auch VwGH vom 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

„Je mehr das Erfordernis, die Effektivität der Abschiebung zu sichern, auf der Hand liegt, umso weniger bedarf es einer Begründung für die Nichtanwendung gelinderer Mittel. Das diesbezügliche Begründungserfordernis wird dagegen größer sein, wenn die Anordnung gelinderer Mittel naheliegt. Das wurde in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere beim Vorliegen von gegen ein Untertauchen sprechenden Umständen, wie familiäre Bindungen oder Krankheit, angenommen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 22.05.2007, Zl. 006/21/0052, und daran anknüpfend das Erkenntnis vom 29.04.2008, Zl. 2008/21/0085; siehe auch die Erkenntnisse vom 28.02.2008, Zl. 2007/21/0512, und Zl. 2007/21/0391) und wird weiters auch regelmäßig bei Bestehen eines festen Wohnsitzes oder ausreichender beruflicher Bindungen zu unterstellen sein. Mit bestimmten gelinderen Mitteln wird man sich insbesondere dann auseinander zu setzen haben, wenn deren Anordnung vom Fremden konkret ins Treffen geführt wird“ (VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0008).

In seiner Judikatur zu § 77 FPG 2005 ging der Verwaltungsgerichtshof bisher davon aus, dass der UVS als Beschwerdeinstanz im Schubhaftbeschwerdeverfahren nach der Bejahung eines Sicherungsbedarfs bei seiner Entscheidung zwar die Möglichkeit der Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 77 FPG 2005 an Stelle der Schubhaft im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen hat, diesem allerdings keine Zuständigkeit zur Entscheidung darüber, welches der im § 77 Abs. 3 FPG 2005 demonstrativ aufgezählten gelinderen Mittel anzuwenden wäre, zukommt. Deren Auswahl blieb vielmehr der Fremdenpolizeibehörde vorbehalten (vgl. VwGH 20.10.2011, Zl. 2010/21/0140; VwGH 28.05.2008, Zl. 2007/21/0246). Es liegen keine Anhaltspunkte vor, die einer Übertragung dieser Judikatur hinsichtlich des mit Ausnahme der neuen Absätze 8 und 9 weitgehend unveränderten § 77 FPG auf das seit 01.01.2014 anstelle des UVS zuständige Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich entgegenstehen würden.

Schubhaft darf stets nur "ultima ratio" sein (vgl. VwGH 02.08.2013, Zl. 2013/21/0054; VwGH 11.06.2013, Zl. 2012/21/0114, VwGH 24.02.2011, Zl. 2010/21/0502; VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/21/0542; VwGH 30.08.2007, 2007/21/0043). Daraus leitete der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 19.05.2011, Zl. 2008/21/0527, unter Hervorhebung der in § 80 Abs. 1 FPG 2005 ausdrücklich festgehaltenen behördliche Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert, insbesondere auch ab, „dass die Behörde schon von vornherein angehalten ist, im Fall der beabsichtigten Abschiebung eines Fremden ihre Vorgangsweise nach Möglichkeit so einzurichten, dass Schubhaft überhaupt unterbleiben kann. Unterlässt sie das, so erweist sich die Schubhaft als unverhältnismäßig“(VwGH vom 19.05.2011, Zl. 2008/21/0527). Bereits im Erkenntnis des VwGH vom 27.01.2011, Zl. 2008/21/0595, wurde dazu klargestellt, dass der Schubhaft nicht der Charakter einer Straf- oder Beugehaft zu kommt, „weshalb ohne besondere Anhaltspunkte für eine absehbare Änderung der Einstellung des Fremden die Haft nicht allein im Hinblick darauf aufrechterhalten werden darf, diese ’Einstellungsänderung’ durch Haftdauer zu erwirken. (Hier: Der Fremde hatte, nachdem er nach zwei Monaten nicht aus der Schubhaft entlassen worden war, seine vorgetäuschte Mitwirkungsbereitschaft aufgegeben und zu erkennen gegeben, dass er nicht in den Kamerun zurückkehren wolle und auch nicht an einer Identitätsfeststellung mitwirken werde. Die mangelnde Kooperation des Fremden gipfelte schließlich in der Verweigerung jeglicher Angaben. Die belangte Behörde hat in Folge bis zu einem neuerlichen Einvernahmeversuch zugewartet ohne zwischenzeitig auf Basis der vorhandenen Daten zwecks Erstellung eines Heimreisezertifikates an die Botschaft von Kamerun heranzutreten oder sonst erkennbare Schritte in Richtung Bewerkstelligung einer Abschiebung zu setzen. In diesem Verhalten der belangten Behörde ist eine unangemessene Verzögerung zu erblicken).“ (VwGH vom 27.01.2011, Zl. 2008/21/0595; vgl. dazu etwa auch VwGH 19.04.2012, 2009/21/0047).

3.1.3. Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des erkennenden Gerichts Sicherungsbedarf in Hinblick auf den im § 76 Abs. 3 FPG enthaltenden Kriterienkatalog gegeben, dies insbesondere in Hinblick auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF sowie die mangelnde familiäre, gesellschaftliche und berufliche Anbindung des BF in Österreich. Auch ist der BF einer Ladung der Behörde unentschuldigt nicht nachgekommen.

3.1.4. Die angeordnete Schubhaft ist jedoch nach Ansicht des Gerichtes nicht als Ultima Ratio zu qualifizieren. Der Gesetzgeber sieht die Möglichkeit der Verhängung eines gelinderen Mittels vor, von welcher das Bundesamt hätte Gebrauch machen müssen. Im gegenständlichen Fall wird dies nach Ansicht des Gerichtes zur Sicherung der Abschiebung des BF als ausreichend erachtet. Der BF ist zum einen seit 19.05.2015 durchgehend an Wiener Adressen, zum überwiegenden Teil mit Hauptwohnsitz, behördlich gemeldet. Zum anderen verfügt er über einen Freundeskreis, weshalb der BF durchaus persönliche Bindungen zu Österreich aufweist. Die in § 77 Abs. 3 Z 1-3 vorgesehenen Möglichkeiten stellen einerseits für den BF eine lediglich geringfügige und wohl auch zumutbare Beschränkung dar und bieten andererseits der Behörde eine gute Möglichkeit, zur Sicherung der Abschiebung durch die verhängten Maßnahmen eine engmaschige Kontrolle des BF zu organisieren. Der BF hat zwar eine behördliche Ladung negiert, hat aber in der Vergangenheit nicht gegen vergleichbare Auflagen verstoßen, sodass hier das Gericht die Verhängung von gelinderen Mittel für ausreichend erachtet hat.

Aufgrund der fehlenden Notwendigkeit des Freiheitsentzuges war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben.

3.1.5. War der Schubhaftbescheid rechtswidrig, so muss das auch für die auf den Schubhaftbescheid gestützte Anhaltung gelten (VwGH 08.09.2009, 2009/21/0162; 26.01.2012, 2008/21/0626; 11.06.2013, 2012/21/0114). Ebenso war daher die Anhaltung des BF in Schubhaft seit 16.06.2020 für rechtswidrig zu erklären.

3.1.6. Im vorliegenden Fall konnte von der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen werden, da der Sachverhalt im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens hinreichend geklärt werden konnte. Der Sachverhalt konnte aus den Akten abschließend ermittelt werden. Eine Einvernahme des BF konnte daher unterbleiben.

3.2. Zu Spruchpunkt II. – Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft

Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG hat das Bundesverwaltungsgericht, sofern die Anhaltung noch andauert, jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen.

Aufgrund obiger Erwägungen - des Nichtvorliegens ihrer Notwendigkeit - war die Schubhaft auch nicht fortzusetzen.

Es war daher spruchgemäß festzustellen, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

3.3. Zu Spruchpunkt III. und IV. - Kostenbegehren

1. Gemäß § 22a Abs. 1a BFA-VG gelten für Beschwerden nach dieser Bestimmung die für Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt anwendbaren Bestimmungen des VwGVG mit der Maßgabe, dass belangte Behörde jene Behörde ist, die den angefochtenen Schubhaftbescheid erlassen hat oder der die Festnahme oder die Anhaltung zuzurechnen ist (für die Zeit vor Inkrafttreten des § 22a Abs. 1a BFA-VG s. VwGH 23.04.2015, Ro 2014/21/0077).

2. Gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG hat die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt obsiegende Partei Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei. Wenn die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt wird, dann ist gemäß Abs. 2 der Beschwerdeführer die obsiegende und die Behörde die unterlegene Partei. Wenn die Beschwerde zurückgewiesen oder abgewiesen wird oder vom Beschwerdeführer vor der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zurückgezogen wird, dann ist gemäß Abs. 3 die Behörde die obsiegende und der Beschwerdeführer die unterlegene Partei.

Beide Parteien begehrten den Ersatz ihrer Aufwendungen entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen. Da der BF vollständig obsiegte, steht ihm nach den angeführten Bestimmungen dem Grunde nach der Ersatz seiner Aufwendungen zu.

§ 1 VwG-AufwErsV bestimmt die Höhe des zu ersetzenden Schriftsatzaufwands des BF als obsiegende Partei mit € 737,60.

Die belangte Behörde hat daher dem BF Kosten iHv € 737,60 zu ersetzten.

3.4. Zu Spruchpunkt V. - Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.

In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Die Revision war daher nicht zuzulassen.

Schlagworte

Fluchtgefahr Folgeantrag Fortsetzung der Schubhaft gelinderes Mittel Gesundheitszustand Heimreisezertifikat Kooperation Kostenentscheidung - Gericht Kostenersatz Kostenersatz - Antrag Kostenzuspruch Obsiegen offenes Verfahren Rückkehrentscheidung Schubhaft Schubhaftbeschwerde Schubhaftverfahren Sicherungsbedarf Straffälligkeit strafgerichtliche Verurteilung Suizidversuch Ultima Ratio Verhältnismäßigkeit Wiedereinsetzungsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W154.2235551.1.00

Im RIS seit

01.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.12.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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