TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/2 L521 2215067-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.07.2020
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Entscheidungsdatum

02.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

L521 2215067-1/19E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 10.06.2020 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1080 Wien, Alser Straße 20, und MigrantInnenverein St. Marx, 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R1, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2019, Zl. 1088939100-151442025, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.06.2020 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte nach unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 27.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 28.09.2015 legte der Beschwerdeführer dar, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Bagdad geboren und habe dort vor der Ausreise auch gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, bekenne sich zum Islam der schiitischen Glaubensrichtung und sei ledig.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak etwa 2 Monate vor der Erstbefragung legal von Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei und dort nach Istanbul verlassen zu haben. Eine Woche vor der Erstbefragung sei er von Izmir ausgehend schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und dort nach erkennungsdienstlicher Behandlung des Landes verwiesen worden. In der Folge sei er über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn mit verschiedenen Verkehrsmittel und teilweise zu Fuß nach Österreich gelangt.

Seinen irakischen Reisepass habe er bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland verloren.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt führte der Beschwerdeführer aus, er habe als Barmann im Hotel XXXX gearbeitet, wo er vor etwa zwei Monaten in der Bar von bewaffneten Männern angegriffen und anschließend vier Tage lang festgehalten. Die Personen hätten in mit dem Tod bedroht, sollte er „nochmal mit Alkohol erwischt werden“. Nachdem er einige Tage nach diesem Vorfall erneut als Barmann bei einem Bekannten gearbeitet habe, sei ihm ein Drohbrief zugemittelt worden. Daraufhin habe er Angst verspürt und sei aus seiner Heimat geflohen.

2. In weiterer Folge wurde der Beschwerdeführer seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl irrtümlich als unbegleiteter Minderjähriger ( XXXX ) eingestuft, was nach Klarstellung des Sachverhaltes mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.11.2015 richtiggestellt und das Verfahren zugelassen wurde.

3. Mit Aktenvermerk vom 09.12.2015 wurde das Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 eingestellt, da der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers nicht bekannt oder sonst leicht feststellbar sei und keine Entscheidung ohne Einvernahme erfolgen könne. Der Beschwerdeführer habe die Betreuungseinrichtung ohne Angabe einer weiteren Anschrift verlassen und verfüge über keine aufrechte Meldung im Bundesgebiet.

4. Am 18.12.2015 begründete der Beschwerdeführer einen Wohnsitz in einer privaten Unterkunft in der Bundeshauptstadt Wien, was dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 12.01.2016 bekannt wurde.

5. Am 02.11.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, im Beisein einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers in arabischer Sprache erstmals niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen. Im Gefolge der Amtshandlung brachte der Beschwerdeführer seinen irakischen Staatsbürgerschaftsnachweis sowie seinen irakischen Personalausweis (jeweils im Original), sowie irakischen Strafregisterauszug und ein Konvolut arabischsprachiger und teilweise von der irakischen Botschaft in Wien sowie von irakischen Behörden in Bagdad ausgestellter Urkunden im Hinblick auf seine beabsichtigte Eheschließung in Vorlage.

Eingangs der Befragung legte der Beschwerdeführer dar, der arabischen Sprache mächtig zu sein und der Einvernahme in gesundheitlicher Hinsicht folgen zu können. Er wisse nicht, ob seine Angaben bei der Erstbefragung richtig gewesen wären, da er den Dolmetscher nicht zur Gänze verstanden habe.

Zur Person ergänzte der Beschwerdeführer, er habe im Irak die Schule nach neun Jahren verlassen und seit „[s]einer Jugend in einer Bar gearbeitet“, diese Tätigkeit habe er zuletzt auch vor der Ausreise im „ XXXX “ in Bagdad ausgeübt. Sein Vater lebe derzeit in Kerbala und sei ohne Beschäftigung, seine Mutter sei im Jahr 2016 verstorben. Von seinen vier Brüder und drei Schwestern lebe ein Bruder in München, die weiteren Geschwister würden sich im Irak in Bagdad und in Kerbala aufhalten. Den Irak habe er am 03.08.2015 legal im Luftweg in die Türkei verlassen.

In Österreich lebe er derzeit mit seiner Freundin – der bei der Befragung anwesenden Vertrauensperson– zusammen, sie sei „fast [s]eine Ehefrau“. Sein Auskommen würde er im Wege des Bezugs von Grundversorgungsleistungen und durch die Unterstützung seiner Freundin bestreiten. Einen Deutschkurs besuche er nicht, da er sich „auf das Training“ konzentrieren müsse. Er wisse nicht, wann seine Freundin Geburtstag habe, aber sie sei 59 Jahre alt. Auf Nachfrage berichtigte der Beschwerdeführer das Lebensalter seiner Freundin auf 49 Jahre.

Befragt nach dem Grund für das Verlassen des Heimatstaates führte der Beschwerdeführer aus, er sei im Irak mit dem Tod bedroht worden.

Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer zunächst dar, keine weiteren Fluchtgründe zu haben. In der Folge schilderte er, er sei „um ein Uhr in der Nacht von einer Miliz“ entführt und vier Stunden lang geschlagen worden. Die Entführer hätten ihm mitgeteilt, dass sein Beruf „haram“ sei und von ihm verlangt, eine andere Arbeit auszuüben. Einer der Entführer sei XXXX gewesen, der „in der Miliz [stark] vertreten sei“. Nach diesem Vorfall sei er nach Hause gegangen und habe zwei Wochen lang nicht mehr gearbeitet. Danach habe er die Arbeit wieder aufgenommen, sei jedoch nicht mehr nach Hause gegangen und habe mit seinen Eltern nur mehr telefonisch kommuniziert. In der Folge sei ihm zuhause ein Drohbrief zugemittelt worden, in welchem auch Namen von Freunden bzw. Arbeitskollegen sowie von anderen Personen aus seiner Ortschaft, die bereits getötet wurden, angeführt gewesen. Die Drohung sei von der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq ausgesprochen worden.

Mit seinem als Rechtsanwalt tätigen Bruder XXXX habe er diesbezüglich zwei Polizeistationen aufgesucht, der zuständige Beamte habe ihm allerdings mitgeteilt, dass er ihm nicht helfen könne. Sein Bruder habe ihm anschließend zur Ausreise geraten und es sei sein Freund XXXX getötet worden, sodass er sich zur Flucht entschlossen habe.

Auf weitere Nachfragen legte der Beschwerdeführer ergänzend dar, dass er am 17.07.2015 entführt worden sei und das Hotel den Namen „ XXXX “ führe. Vor der Ausreise sei er nach Kerbala umgezogen und sei dort eine Woche lang geblieben. Das Haus habe er jedoch nicht verlassen können, da Milizen „immer nach den Personalausweisen gefragt“ hätten.

6. Am 02.10.2018 wurde der Beschwerdeführer neuerlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, im Beisein einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Der Beschwerdeführer brachte dabei zusammengefasst vor, dass sich hinsichtlich des Aufenthaltsortes seiner Angehörigen keine Veränderungen ergeben hätten. Aus dem Irak habe er zuletzt gehört, dass der Hotelbesitzer getötet worden sei. Er sei im Irak verfolgt worden, da er als Barkeeper Alkohol ausgeschenkt habe, was „haram“ sei. Seine Verfolger hätten über eine Liste verfügt, auf der er angeführt gewesen sei. Er habe nach dem Vorfall zwei Monate lang aufgehört zu arbeiten und dann ein Schreiben mit einer Patrone erhalten.

7. Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2019, Zl. 1088939100-151442025, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers werde im Hinblick auf den Ausreisegrund als unwahr erachtet. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise im Irak einer konkreten und persönlichen asylrelevanten Bedrohung ausgesetzt gewesen sei oder eine solche im Fall seiner Rückkehr zu befürchten habe.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers habe sich als vage und unsubstantiiert erwiesen. Der Beschwerdeführer habe insbesondere nicht darlegen können, weshalb die Miliz gerade an seiner Person ein derart signifikantes Interesse entwickelt habe, zumal er kein bekannter Barkeeper gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe außerdem keine näheren Kenntnisse über seine Verfolger erkennen lassen. Einer Internetrecherche des belangten Bundesamtes zufolge sei das den Beschwerdeführer angeblich beschäftigende Hotel – dahingehende Nachweise habe er nicht vorlegen können – immer noch in Betrieb. Eine Recherche nach Medienberichten über den angeblichen Angriff habe ergeben, dass es im Mai 2015 einen Anschlag mit einer Autobombe gegeben habe, jedoch keine Informationen über den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhalt ergeben.

Eine Rückkehr in den Irak sei dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar, zumal er dort über familiäre Anknüpfungspunkte in Gestalt seiner in Bagdad lebenden Angehörigen verfügen würde und hinsichtlich der Angehörigen keine Schwierigkeiten mit Milizen in den Raum gestellt worden wären.

8. Mit Verfahrensanordnung vom 21.01.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

9. Gegen den dem Beschwerdeführer am 25.01.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. ihm einen Aufenthaltstitel gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 zu erteilen bzw. die Rückkehrentscheidung und den Abspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung aufzuheben.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach neuerlicher Darlegung des aus seiner Sicht maßgeblichen Sachverhaltes vor, er habe aus seiner Sicht sehr wohl ein substantiiertes Vorbringen erstattet, das mit den Feststellungen zur Lage im Irak übereinstimmen würde. Die ihn verfolgende Miliz erachte den Ausschank von Alkohol als aus religiösen Gründen verboten, weshalb der Beschwerdeführer entführt und misshandelt worden sei. Nachdem er die Tätigkeit als Barmann wiederaufgenommen habe, hätten Unbekannte bei seiner Mutter nach ihm gefragt und einen Drohbrief mit einer Patrone überreicht. Dem Drohbrief zufolge würde der Beschwerdeführer getötet werden, wenn er weiterhin Alkohol ausschenken würde. IN Österreich habe der Beschwerdeführer außerdem erfahren, dass sein Chef und sein Arbeitskollege aus demselben Grund getötet werden wären.

Das belangte Bundesamt habe das Verfahren willkürlich geführt und sei seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen. Der angefochten Bescheid bestehe außerdem im Wesentlichen aus Textbausteinen ohne Begründungswert.

10. Die Beschwerdevorlage langte am 25.02.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

11. Zur Vorbereitung der für den 21.04.2020 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.03.2020 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist schriftlich Stellung zu nehmen.

12. In seiner dazu im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung erstatteten Stellungnahme vom 25.03.2020 wird insbesondere auf die aus den Länderbeichten hervorgehende Gefährdung von Alkohol verkaufenden Personen im Irak hervorgehoben. Darüber hinaus wird von einem Urteil des Verwaltungsgerichtes Hannover vom 27.06.2019 berichtet, welches einem irakischen Staatsangehörigen den Status des Asylberechtigten zuerkannte, da er als Alkoholverkäufer im Irak als soziale Gruppe anzusehen sei und ihm ein nachhaltiges dahingehendes Stigma anhafte, weil er diese Tätigkeit nicht nur vorübergehend ausgeübt habe.

13. Am 03.04.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Konvolut an Unterlagen des Beschwerdeführers zu seiner Integration im Bundesgebiet ein.

14. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.05.2020 wurden dem Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung aktualisierte Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und eine Stellungnahme dazu in der mündlichen Verhandlung freigestellt.

15. Aufgrund der bestehenden Einschränkungen wegen des Auftretens von SARS-CoV-2 im Bundesgebiet musste die für den 21.04.2020 anberaumte mündliche Verhandlung auf den 10.06.2020 verlegt werden.

An diesem Tag wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie Dolmetschers für die arabische Sprache durchgeführt. Im Verlauf der Verhandlung wurde die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert und dem Beschwerdeführer neuerlich die Gelegenheit eingeräumt, seine Ausreisegründe und seine Rückkehrbefürchtungen umfassend darzulegen.

Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers mit Eingabe seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 16.06.2020 fristgerecht die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

16. Am 24.06.2020 langte eine weiterer (und somit keine Rechtswirkungen entfaltender) Antrag auf schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses sowie eine Bevollmächtigungsanzeige des MigrantInnenverein St. Marx beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , er ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Bagdad geboren und lebte dort bis zur Ausreise im Bezirk XXXX im Stadtzentrum Bagdads in einem Haus im Eigentum seines Vaters. Der Beschwerdeführer ist Moslem und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer ist gesund, er steht nicht in medizinischer Behandlung und nimmt keine Medikamente ein.

Der Beschwerdeführer besuchte in Bagdad die Grundschule und eine weiterführende Schule Ausmaß von neun Jahren. Im Anschluss an den Schulbesuch trat er in das Berufsleben ein und war als Maler und Anstreicher tätig. Der Beschwerdeführer betrieb nebenbei Bodybuilding und nahm erfolgreich an Wettkämpfen teil. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer als Barkeeper im XXXX (vor dem Jahr 2013: XXXX ) beruflich tätig war.

Die Mutter des Beschwerdeführers ist verstorben. Der Vater des Beschwerdeführers lebt derzeit den Angaben des Beschwerdeführers zufolge im Iran und wird von seiner Familie finanziell unterstützt. Der Beschwerdeführer hat vier Brüder und drei Schwestern. Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt in der Bundesrepublik Deutschland, wo ihm den Angaben des Beschwerdeführers zufolge der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde. In Bagdad leben zwei Brüder des Beschwerdeführers, diese sind als Taxilenker bzw. als Eigentümer eines Bekleidungsgeschäftes selbständig erwerbstätig. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers lebt in Kerbala und ist dort als Maler und Anstreicher beschäftigt. Zwei der drei Schwestern des Beschwerdeführers leben in Bagdad, die dritte Schwerster lebt im Gouvernement XXXX . Die Schwestern des Beschwerdeführers sind allesamt verheiratet und werden von ihren Ehemännern versorgt. Ein Stiefbruder des Beschwerdeführers kam im Jahr 2015 im Gefolge krimineller Handlungen unter nicht näher feststellbaren Umständen im Irak zu Tode.

Am 03.08.2015 verließ der Beschwerdeführer den Irak legal vom Internationalen Flughafen Bagdad ausgehend im Luftweg in die Türkei und gelangte in der Folge schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und weiter nach Österreich, wo er am 27.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an hatte vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten aufgrund seiner arabischen Volksgruppenzugehörigkeit und seines islamich-schiitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 2015 vor seiner Ausreise weder von Milizionären der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq entführt und misshandelt, noch erhielt er von dieser Miliz ausgehende schriftliche Drohungen. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat auch keiner anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe, Kämpfer schiitischer Milizen oder Privatpersonen ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Bagdad einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.

Der Beschwerdeführer ist im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Bagdad nicht einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt aufgrund seines Bekenntnisses zum schiitischen Islam ausgesetzt. Er hat auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit physischer Gewalt aufgrund einer allfälligen Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen zu rechnen.

1.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im Irak.

Die irakische Hauptstadt Bagdad ist im Luftweg mit Linienflügen (Schwechat-Istanbul/Dubai-Bagdad) direkt und gefahrlos erreichbar.

1.4. Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit im Herkunftsstaat erworbener grundlegender Schulbildung und (beruflicher) Erfahrung als Maler und Anstreicher sowie als Bodybuilder. Der Beschwerdeführer verfügt über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Herkunftsregion in Gestalt seiner dort lebenden Geschwister und deren Familien. Dem Beschwerdeführer ist darüber hinaus die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Er verfügt über eine Wohnmöglichkeit im Haus seines Vaters in Bagdad.

1.5. Der Beschwerdeführer verfügt über irakische Ausweisdokumente (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis) im Original.

1.6. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 27.09.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, ist seither durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber aufhältig und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung (mit Unterbrechungen, weil er im Jahr 2015 zu zwei Transfers zu Grundversorgungsquartieren nicht erschien) Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Nach der Einreise war der Beschwerdeführer zunächst in Not- und Übergangsquartieren des Bundes untergebracht. Im Anschluss verfügte er sich eigenmächtig in die Bundeshauptstadt Wien, wo er am 18.12.2015 einen Wohnsitz begründete und ihm ab dem 01.01.2016 der Bezug von Verpflegungsgeld sowie die Krankenversicherung und ab dem 01.05.2016 der Bezug eines Mietzuschusses im Rahmen der Grundversorgung bewilligt wurden. In der Folge bewohnte der Beschwerdeführer wechselnde private Quartiere, ehe er am 17.07.2017 einen Wohnsitz in der Wohnung seiner Lebensgefährtin in 1220 Wien, XXXX , begründete. Am 13.06.2019 gab der Beschwerdeführer den Wohnsitz in der Wohnung seiner Lebensgefährtin auf. Er lebt seither in einer privaten Unterkunft in 1210 Wien, XXXX , gemeinsam mit zwei syrischen Staatsangehörigen.

Der Beschwerdeführer war im Bundesgebiet bislang nicht legal erwerbstätig. Der Beschwerdeführer brachte im Verfahren keine Einstellungszusage und auch keinen Arbeitsvorvertrag in Vorlage, er geht jedoch davon aus, in einem Studio der Fitnesscenter-Kette XXXX einen Arbeitsplatz zu erhalten. Wie sich die Arbeitszeiten und die Entlohnung gestalten würden, ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt.

Der Beschwerdeführer verrichtete weder eine Remunerantentätigkeit, noch ging er gemeinnützigen Tätigkeiten nach. Er betreut in einem Studio der Fitnesscenter-Kette XXXX in XXXX und in einem weiteren Studio dieser Kette in 1220 Wien freiwillig Trainierende als Coach und verkehrt darüber hinaus als Kunde in einem weiteren Studio der Fitnesscenter-Kette XXXX in XXXX . Die genannten Studios attestieren dem Beschwerdeführer Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, einen höflichen und respektvollen Umgang sowie freundschaftliche Verbundenheit. Der Beschwerdeführer pflegt seine sozialen Kontakt vorwiegend in den genannten Studios.

Bei der österreichischen Meisterschaft der Austrian Bodybuilding and Physique Sports Federation am 19.05.2018 belegte der Beschwerdeführer in der Disziplin Männer Athletic Physique bis 170 cm den dritten Platz. In derselben Disziplin belegte der Beschwerdeführer am selben Tag bei den 9th International Austrian Championships den vierten Platz.

Der Beschwerdeführer besuchte keine Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und legte auch keine dahingehenden Prüfungen ab. Er verfügt über grundlegende Wortschatzkenntnisse der deutschen Sprache, die er mit zunehmender Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet und aufgrund der eingegangenen Beziehung mit einer österreichischen Staatsangehörigen erworben hat. Des Lesens und Schreibens in deutscher Sprache ist der Beschwerdeführer nicht mächtig.

Am 28.05.2019 besuchte der Beschwerdeführer einen Werte- und Orientierungskurs, am 18.06.2019 nahm er an der Maßnahme Vertiefungskurs Arbeit & Beruf des Österreichischen Integrationsfonds teil. Das Modul „Sicherheit & Polizei“ absolvierte der Beschwerdeführer am 10.11.2019.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Er unterhält seit dem Herbst des Jahres 2016 eine Beziehung zur österreichischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX , die den Beschwerdeführer auch finanziell unterstützt. Vom 17.07.2017 an bis zum Auszug aus der gemeinsamen Wohnung am 13.06.2019 lebte der Beschwerdeführer mit XXXX im gemeinsamen Haushalt. Da der Sohn aus einer der früheren Ehen neuerlich bei XXXX einzog, entschloss sich der Beschwerdeführer dazu, den gemeinsamen Haushalt aufzugeben, da der Sohn „sehr viel Lärm macht“, Gitarre und PlayStation spielt und in der Wohnung Unordnung herrscht. Der Beschwerdeführer hat XXXX mit eigenen Familienangehörigen bekannt gemacht und seinerseits die zwei Kinder und den Vater sowie den Bruder von XXXX kennengelernt.

Der Beschwerdeführer führt die Beziehung mit XXXX auch nach der Beendigung des gemeinsamen Haushaltes fort und hat zu seiner Lebensgefährtin eigenen Angaben zufolge „einen sehr guten Kontakt“ und besucht sie regelmäßig. Der Beschwerdeführer strebt eine Eheschließung mit XXXX an, wobei er bereits im Jahr 2017 im Wege einer von der irakischen Botschaft in Wien beglaubigten Bevollmächtigung eines in Bagdad lebenden Bruders einen Auszug aus dem irakischen Personenstandsregister aus dem Irak erlangte. Eine Eheschließung ist dennoch nicht möglich, da eigenen Angaben des Beschwerdeführers zufolge von ihm ein Reisepass verlangt wird. Er müsste sich dazu zur irakischen Botschaft nach Berlin begeben, wozu er eigenen Angaben zufolge bislang „nicht die Gelegenheit“ hatte.

Darüber hinaus pflegt der Beschwerdeführer normale soziale Kontakte zu seinem Freundeskreis. Ein vereinsmäßiges Engagement des Beschwerdeführers ist nicht feststellbar.

1.7. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.8. Zur gegenwärtigen Lage im Gouvernement Bagdad werden folgende Feststellungen getroffen:

Das Gouvernement Bagdad ist das mit ca. 4.555 km² flächenmäßig kleinste Gouvernement des Landes und beherbergt die gleichnamige irakische Hauptstadt Bagdad. In Bagdad lebten 2018 offiziell schätzungsweise 8,1 Millionen Menschen. Obwohl Bagdad das kleinste Gouvernement im Irak ist, hat es die höchste Einwohnerzahl von allen Gouvernements. 87% der Bevölkerung des Gouvernements leben in der Stadt Bagdad selbst. Die Hauptstadt ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt die stark geschützte grüne Zone.

Die Stadt Bagdad ist in neun Verwaltungsbezirke gegliedert: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rasafa und 9 Nissan (‘new Baghdad’). Die restliche Fläche des Gouvernements beherbergt die Verwaltungsbezirke Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib, die den sogenannten „Bagdad Belt“ bilden und die Vororte beherbergen.

Gouvernement und Stadt Bagdad weisen eine gemischte Bevölkerung aus Schiiten und Sunniten mit einer geringeren Anzahl christlicher Gemeinschaften auf. Während die meisten Stadtteile in Bagdad in der Vergangenheit von einer Mischung aus Sunniten und Schiiten bewohnt waren, führte die gewaltsame Säuberung im Zuge der konfessionellen Konflikte insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 dazu, dass die Stadt viel stärker religiös geteilt und von den Schiiten dominiert zu sein scheint (siehe dazu im Detail unten 1.10 „Lage von sunnitischen Arabern in Bagdad“).

Die Einheiten der irakischen Armee in Bagdad unterstehen Führung des Baghdad Operations Command (BOC), das in zwei Gebiete unterteilt ist, das Karkh Area Command und das Rusafa Area Command. Die Special Forces Division (SFD) des Premierministers ist für die Sicherheit in der grünen Zone und den Schutz des Premierministers verantwortlich und kann vom Verteidigungsministerium, dem BOC, dem Joint Operations Command (JOC) sowie dem Premierminister selbst eingesetzt werden. Die SDF wird auch für Sicherungsaufgaben in Bagdad herangezogen, insbesondere während der schiitischen Pilgerreisen.

Dem Karkh Area Command untersteht die 6. irakische Armeedivision mit verschiedenen Brigaden, die in und außerhalb der Stadt stationiert sind. Die dem Rusafa Area Command unterstehende 9. Irakische Armeedivision ist derzeit nicht in Bagdad stationiert. Die Bundespolizei des irakischen Innenministeriums ist in Bagdad durch drei Bundespolizeidivisionen vertreten. Die 1. Federal Police Division sichert die südwestliche, westliche und südöstliche Kanalzone von Bagdad. Die 2. Federal Police Division, die einzige mechanisierte Division der Bundespolizei in Bagdad, wird hauptsächlich zur Terrorismusbekämpfung in Bagdad und den Bagdad-Belts, zur Sicherung von Pilgerwegen und zu Aufgaben in Zusammenhang mit der Strafverfolgung herangezogen. Die 4. Federal Police Division deckte das südliche Bagdad und Gebiete südlich der Hauptstadt ab und betreibt das Gefängnis in Karkh. Ergänzend steht westlich von Bagdad die 3. Brigade der Emergency Response Division (ERD) zur Verfügung. Die Stadt Bagdad und die Vororte werden grundsätzlich von den irakischen Behörden kontrolliert. In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsaufgaben mit den schiitisch dominierten Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Für die Jahre 2014 und 2015 liegen Berichte vor, wonach Einheiten der PMF an Misshandlungen und Morden an Zivilisten und Sunniten im Zusammenhang mit Operationen gegen den Islamischen Staat in den Bagdad-Belts beteiligt waren.

Seit dem Eintritt der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Dezember 2017 gibt es in Bagdad und anderen Landesteilen weniger Angriffe des Islamischen Staates mit großer Breitenwirkung. Der Islamische Staat verfügt weiterhin über aktive Zellen im nördlichen und westlichen Bagdad-Belt, diese befinden sich jedoch erheblichen Verlusten im Jahr 2017 in einem inaktiven Zustand. Seit dem Jahr 2018 sind Bagdad und die Bagdad-Belts kein prioritäres Operationsgebiet des Islamischen Staates mehr und ist der Islamische Staat nicht mehr für den überwiegenden Teil der Gewalttätigkeiten in der irakischen Hauptstadt verantwortlich. Die Möglichkeit, Anschläge auch im Zentrum der irakischen Hauptstadt zu verüben, dürfte nach wie vor gegeben sein, allerdings befindet sich die verbliebenen Anhänger des Islamischen Staates in einer Phase der Neuaufstellung.

Wenn der Islamische Staat die Verantwortung für Angriffe übernimmt, werden die Opfer entweder als „Abtrünnige“ oder „Rafida“ (eine abfällige Bezeichnung für schiitische Muslime) oder als bewaffnete Akteure bezeichnet, obwohl die Opfer möglicherweise Zivilisten sind. Der Islamische Staat übertreibt das häufig die Verluste, die seine Anschläge nach sich ziehen.

Die nachstehende Grafik zeigt, dass die Anzahl der zivilen Opfer von Gewaltakten in Bagdad in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber den Vorjahren signifikant gesunken ist und wieder das Niveau vor dem Erstarkten des Islamischen Staates erreicht hat (Anmerkung: Die Datenbank Iraq Body Count kommt zu abweichenden Werten, siehe dazu die weitere Grafik).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Bagdad und Anzahl der Opfer nach der Datenbank Iraq Body Count, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.

Die Verwaltungsbezirke mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu zivilen Todesfällen führten, waren im Jahr 2018 Adhamiya mit 78 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 94 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von Resafa (einschließlich Thawra 1 & 2) mit 77 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 161 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von und Mada'In mit 63 sicherheitsrelevanten Vorfällen, bei denen 69 Zivilisten ums Leben kamen. Die höchste Rate an Todesfällen pro 100.000 Einwohner) wurden im Vorort Tarmia (35,80) verzeichnet, gefolgt von Mada'in (15,91) und Adhamiya (8,25). Die meisten von der Iraq Body Count im Jahr 2018 im Gouvernement Bagdad erfassten Vorfälle betrafen Schießereien (46,4%), gefolgt von Morden („executions“) (30,6%) und die Verwendung improvisierter Sprengsätze (20,7%).

Dem Experten Michael Knights zufolge ereigneten sich in Bagdad 2018 die wenigsten Terroranschläge von –Jihadisten seit dem Jahr 2003. Anschläge des Islamischen Staates sind in der Stadt selbst „mehr oder weniger verschwunden“, in den Bagdad-Belts sind die Anschläge des islamischen Staates zurückgegangen. Derzeit verhält sich der Islamische Staate in Bagdad und den Bagdad-Belts unauffällig und hat 2018 nicht viele Operationen durchgeführt. Wenn Angriffe verübt werden, handelt es sich meistens um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen. Der Islamische Staat ist wahrscheinlich nicht für den Großteil der Gewalt in Bagdad verantwortlich. Das Institute for the Study of War geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die derzeit registrierten Gewaltakte in Bagdad im Zusammenhang mit kriminellen und politischen Auseinandersetzungen (unter letztes fallen politische Einschüchterung, gezielte Attentate usw.) und nicht mit dem Islamischen Staat stehen. Auch der Experte Michael Knights geht davon aus, dass meisten Gewalttaten in Bagdad nicht dem Islamischen Staat zuzuschreiben sind. Quellen besagen, dass der Islamische Staat seine Aktivitäten derzeit nur im Bagdad-Belt und in den Randgebieten der angrenzenden Gouvernements entfaltet, anstatt in der Stadt selbst. Der Experte Joel Wing gab an, dass die gewalttätigsten Vorfälle mit improvisierten Sprengsätzen und Schießereien, die er aufzeichnete, Medienberichten zufolge im äußersten Norden und Süden von Bagdad und in geringerem Maße im Westen vorkommen. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass die intensiveren Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen im nördlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Bagdad (Kadhimiyah, Adahamyah) und im Vorort Tarmia (nördlich von Bagdad) verübt werden. Nur einige Vorfälle ereigneten sich in Bagdad westlich des Tigris - Karadah und Neu-Bagdad / al-Nissan und östlich des Tigris (Rusafa, Karkh, Rasheed und Mansour) sowie in Doura, jedoch in geringerer Intensität.

Das Institute for the Study of War kommt in seiner Analyse zum Ergebnis, dass „überwiegende Mehrheit“ der Gewaltakte in Bagdad im Jahr 2018 „politische Gewalt“ darstellte, die im Allgemeinen politische Einschüchterungen, bewaffnete Scharmützel und gezielte Morde unter Schiiten vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Wettbewerbs und der Regierungsbildung nach den Wahlen im Mai 2018 umfasste. In ähnlicher Weise erklärt der Experte Michael Knights, dass der Haupttrend bei der Gewalt in Bagdad darin besteht, dass es sich fast ausschließlich um persönliche, gezielte oder kriminelle Gewalt handelt, die in erster Linie den Einsatz von Kleinwaffen, Erpressung, Einschüchterung, improvisierte Sprengsätze oder Granaten, Schießereien, Raubüberfälle und andere Erscheinungsformen organisierter Kriminalität umfasst. Diese Aktivitäten dienen dem Experten zufolge in erster Linie der Einschüchterung und Gewalt gegen Zivilisten, um Geld zu verdienen, Zivilisten zu vertreiben, die als Außenseiter angesehen werden, oder um politische Gegner oder Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu vertreiben oder ist gegen Personen gerichtet, die aufgrund ihres Lebensstils oder ihrer vorherigen Beteiligung an Verbrechen oder bewaffneten Konflikten exponiert sind. Er erwähnte auch, dass die politischen Spaltungen unter den Schiiten derzeit einen Großteil der Gewalt in den schiitischen Gebieten von Bagdad und Basrah ausmachen.

Die Expertin Geraldine Chatelard hebt hervor, dass Milizen in Bagdad häufig von Sunniten und Minderheiten der Gewalt beschuldigt werden, Morddrohungen, Entführungen, gezielte Attentate oder die Übernahme von Gebäuden von rechtmäßigen Eigentümern verübt zu haben, dies unter Hinweis darauf, dass sogar Schiiten Opfer von Erpressung und Tötung geworden sind. Der Expterte Michael Knights weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Sunniten und Christen in erster Linie befürchten, von schiitischen Milizen in Bagdad erpresst oder entführt zu werden, jedoch Quellen davon berichteten, dass die Zuweisung der Verantwortung für bestimmte Angriffe zu bestimmten Täter in Bagdad schwierig ist und insbesondere Sprengstoff sowohl zu politischen als auch zu kriminellen Zwecken eingesetzt wird, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Den PMF-Milizen werden dabei „enge Verbindungen zu kriminellen Banden“ zugeschrieben, die Unterscheidung zwischen beiden ist nicht immer klar.

Der Experte Michael Knights vertritt zur Sicherheitslage allgemein die Ansicht, dass in der Stadt Bagdad die Gebiete sicherer sind und weniger Raum für offene Gewalt wie z.B. improvisierte Sprengsätze oder Raubüberfälle bieten, in denen sich die irakischen Streitkräfte auf die Bewachung wichtiger Standorte konzentrieren – etwa die Verwaltungsbezirke Karkh, Doura und Mansour. Dort wo die irakischen Streitkräfte weniger dominant ist und bewaffnete Akteure wie kriminelle Banden und Milizen Revierkämpfe führen und um Einfluss konkrurrieren, ist die Sicherheitslage entsprechend angespannter, wie in Kadhimiyah, Jihad, Bayaa und Karadah. Er vertrat die Ansicht, dass die "schlimmsten Sicherheitsbereiche" in der Stadt Adhamiyah, New Bagdad und Sadr City seien.

Milizen sind auch in bewaffnete Zusammenstöße zwischen ihnen selbst und den regulären Sicherheitskräften verwickelt, die laut Michael Knights im Jahr 2018 im Zentrum der Hauptstadt und in östlich gelegenen Gebieten mehrmals stattfanden. Ein Vorfall zog mediale Aufmerksamkeit nach sich: Am 20. Juni 2018 stoppte die irakische Polizei ein Auto in der Innenstadt von Bagdad, das Angehörigen der von Iran unterstützten Miliz Kataib Hezbollah („Hisbollah-Brigaden“) gehörte. Ein Hisbollah-Konvoi mit fünf Fahrzeugen traf ein und begann auf die Polizei zu schießen, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem zwei Offiziere und ein Milizionär verletzt wurden. Die Polizei umzingelte daraufhin das Hauptquartier der Kataib Hezbollah, bis der Schütze der Polizei übergeben wurde. Der Vorfall spiegelt den möglichen Machtkampf zwischen irakischen Sicherheitskräften (Armee, Bundespolizei, örtliche Polizei) und PMF-Milizen wider.

EASO hat die folgenden sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2018 exemplarisch identifiziert:

Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Bomben

Bagdad wurde in der Vergangenheit vom Islamischen Staat wegen der Bevölkerungskonzentration bevorzugt angegriffen, da die großen Menschenansammlungen die Möglichkeit geboten haben, mit einem Bombenanschlag eine große Anzahl von Opfern zu treffen. 2018 sind solche Anschläge jedoch zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 verfolgte der Experte Michael Knights eine hohe Anzahl von Angriffen mit Hilfe von improvisierten Sprengsätzen auf Märkte und Geschäfte in Bagdad. Die Anzahl der Angriffe dieser Art ging jedoch im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zurück. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass ein in Bagdad im Jahr 2018 festgestellter charakteristischer Angriff des Islamischen Staates darin bestand, Sprengsätze gegen kleine Personenbusse einzusetzen, die jeweils etwa zehn Personen befördern und die in ganz Bagdad zum Straßenbild gehören. Diese Busse wurden im Islamischen Staat im Jahr 2018 mehrmals mit improvisierten Sprengsätzen angegriffen, was zwar nur minimale Verluste, aber Einschüchterungen der Zivilbevölkerung zur Folge hatte.

Noch im Januar 2018 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem überfüllten Tayran-Markt in Bagdad und töteten dabei mindestens 38 Menschen und verletzten bis zu 90 Menschen. Der Angriff schockierte die Bevölkerung von Bagdad, da er nach einem signifikanten Rückgang solcher Angriffe in Bagdad. Er wurde vom Guardian als der schwerste Angriff auf Bagdad seit der Erklärung des Sieges über den Islamischen Staat beschrieben. Beispiele für andere explosive Angriffe im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        In Rashidiya explodierte im Januar 2018 eine Bombe, ein Milizionär der PFM wurde getötet und zwei weitere wurden verletzt wurden.

?        Am 23. Januar 2018 wurde ein Soldat getötet und zwei weitere verletzt, als eine irakische Militärpatrouille in Tarmiya nördlich von Bagdad von einer Straßenbombe getroffen wurde.

?        Am 16. Mai 2018 wurden 5 Menschen getötet und 10 verletzt, als ein Selbstmordattentäter ein schiitisches Begräbnis in Tarmiya angriff.

?        Am 23. Mai 2018 verübte der Islamische Staat einen Selbstmordanschlag in der Shula-Region, bei dem Angaben des Islamischen Staates zufolge 33 Menschen getötet und verletzt wurden. Die irakischen Medien berichteten demgegeneüber, dass vier Menschen getötet und 15 verletzt wurden.

?        Der Islamische Staat meldete im August 2018 5 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen auf Kleinbusse in Bagdad in den Distrikten Amil, Shula, Turath und Baladiyat. 669 Zwei dieser Angriffe töteten und verletzten 12 schiitische Muslime.

?        Im Juni 2018 wurden 17 Menschen bei einer Explosion eines Waffenlagers der Miliz von Muqtada al Sadr getötet und 80 verletzt. Berichten zufolge wurden die Waffen in einer Moschee aufbewahrt, die von Sadr-Anhängern benutzt wurde.

?        Eine Explosion auf einem Markt in Sadr City am 14. August 2018 wurde von einer Quelle im Sicherheitsapparat auf kriminelle Gründe zurückgeführt. Dabei wurden drei Menschen getötet und vier verletzt.

?        Ein improvisierter Sprengsatz, der auf Schiiten im Bezirk Jihad (West-Bagdad) abzielt, tötete Berichten zufolge im September 2018 vier Menschen in der Nähe eines Einkaufszentrums.

?        Am 25. September 2018 wurde in den folgenden Bezirken eine Reihe von Explosionen gemeldet, die zu Opfern führten: Al Jadid (New Bagdad) östlich von Bagdad (1 Tote, 2 Verletzte), al Shaab nördlich von Bagdad (2 Tote) und al-Baayaa westlich von Bagdad (2 Tote) .Der Islamische Staat übernahm am 25. September 2018 die Verantwortung für fünf improvisierte Sprengsätze gegen Shula, Kadhimiyah (Nord-Bagdad), Shaab und Bataween (Rusafa), und den Bezirk Bayaa (Zentral-Bagdad), dabei wurden 3 Zivilisten getötet.

?        Am 1. und 2. Oktober 2018 forderten zwei improvisierte Sprengsätze in Shaab und Al Jadid einen Toten und mehrere Verwundete. Dem Islamischen Staat zufolge sei die Zahl der Opfer bei diesen beiden Angriffen viel höher gewesen und habe mehr als 50 Tote und Verwundete betragen.

?        Am 7. Oktober 2018 wurden bei einer Reihe von Angriffen auf verschiedene Vororte in Bagdad (Abu Dshir, 17 km südlich von Bagdad, Abu Ghraib, 44 km westlich von Bagdad und im Norden von Bagdad) vier Personen getötet und fünf verletzt.

?        Am 4. November 2018 wurden bei einer Serie von fünf improvisiertem Sprengsätzen in verschiedenen Gebieten des Gouvernements 8 Personen getötet und 14 verletzt. Eine andere Quelle berichtete von 7 Toten und 16 Verletzten. Der Islamische Staat behauptete jedoch, es seien bei den von ihm verübten Anschlägen mehr als 50 Opfer zu beklagen gewesen.

Beispiele für bewaffnete Zusammenstöße im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        Unbekannte bewaffnete Personen eröffneten das Feuer im Stadtteil Jihad im Westen von Bagdad und töteten im Januar 2018 einen lokalen Bürgermeister.

?        Der Islamische Staat ermordete 8 Zivilisten bei einem Angriff auf den Vorort Tarmia im Mai 2018; die Opfer stellten Werbung für die Parlamentswahl auf; der Islamische Staat bezeichnete sie als Mitglieder einer Stammesmiliz.

?        Bei einem weiteren, nächtlichen Angriff des Islamischen Staates auf den Vorort Tarmia Anfang Mai 2018 wurden 21 Mitglieder eines lokalen Stammes (18 Männer, 2 Frauen und ein Kind) getötet. Sämtliche Opfer waren Mitglieder des Albu-Faraj-Stammes, der ein überzeugter Gegner des Islamische Staates in der Region ist. Die Mitglieder sind Teil der lokalen sunnitischen Miliz und der PMF, die zur Verteidigung gegen des Islamischen Staat gegründet wurden. Die Angreifer des Islamischen Staates trugen Armeeuniformen und gingen zunächst gegen einen Anwalt vor, von dem bekannt war, dass er Opfern des Islamischen Staates half, und töteten ihn in seinem Haus. Als andere Dorfbewohner kamen, um zu helfen, eröffneten sie das Feuer, töteten und verletzten sie und zogen sich zurück, bevor die Armee eintraf, um sie zu fassen.

In Bagdad gab es mehrere Morde an Persönlichkeiten, die in sozialen Medien bekannt geworden waren, ohne dass die Täter identifiziert und einer bestimmten Gruppierung zugeordnet werden konnten.

?        Tara Fares, bekannt aus Instagram, die in den sozialen Medien über persönliche Freiheit berichtet, wurde am 27. September 2018. in Bagdad erschossen, als sie in ihrem Porsche fuhr.

?        Im Jahr 2017 wurde Karar Nushi, ein männliches Model, das Morddrohungen wegen seiner langen Haare und seiner engen Kleidung erhalten hatte, in der Palästina-Straße erstochen aufgefunden, wobei sein Körper Anzeichen von Folter zeigte.

?        Hammoudi al-Meteiry, ein 15-jähriger und als „König von Instagram“ bezeichneter Jugendlicher, der Berichten zufolge wegen seiner Homosexualität von unbekannten Tätern getötet wurde.

Der Islamische Staat gab bekannt, Scheichs und Stammesführer angegriffen zu haben, die die Parlamentswahlen im Mai 2018 unterstützten. Im Mai 2018 behauptete der Islamische Staat, er habe das Haus eines wahlfördernden Stammesführers mit einer Bombe angegriffen zu haben; es ist unklar, ob diese dabei getötet wurde. Folgende weiteren Angriffe wurden dem Islamischen Staat zugeschrieben:

?        Am 27. Februar 2018 wurden vier Mitglieder der Sahwa-Bewegung von unbekannten Tätern im Norden Bagdads erschossen. Einer wurde getötet, die anderen drei verwundet.

?        Am 1. März 2018 wurde ein ehemaliger Beamter der Sahwa-Bewegung durch eine Bombe in Bagdad getötet.

?        Am 29. April 2018 wurde ein Führer der PMF, Qassim Al-Zubaidi, bei einem Attentat in der Innenstadt von Bagdad verletzt. Stunden zuvor wurde ein Wahlkandidat der Rechtsstaat-Koalition nördlich von Bagdad getötet.

?        Am 22. Juni 2018 gab der Islamische Staat bekannt, einen Stammesführer in al-Zour in der Nähe von Tarmia nördlich der Hauptstadt getötet zu haben, weil er die Parlamentswahlen unterstützt hatte.

?        Am 8. Juli 2018 wurden ein Kommandeur der Stammesmiliz und einer seiner Begleiter bei einem Bombenangriff in Nordbagdad verwundet.

?        Am 19. Juli 2018 wurde ein Angehöriger der Sicherheitskräfte bei einem Angriff mit einer auf der Straße platzierten Bombe auf ihn in Tarmia im Norden von Bagdad verwundet.

?        Am 2. August 2018 wurde mit einer am Straßenrand platzierten Bombe ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte in der Region Sabaa al-Bour nördlich von Bagdad angegriffen. Eine Person wurde getötet, eine andere verletzt.

Im Januar 2018 erklärte der Direktor des Medienbüros des BOC, dass die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt Fortschritte in Bezug auf das Sammeln von Informationen über den Islamischen Staat gemacht hätten und dass sich Militäreinsätze im Bagdader Gürtel positiv auf die Sicherheitslage ausgewirkt hätten. Der Direktor kündigte ferner den Bau eines Sicherheitszauns um Bagdad mit Sicherheitstoren an, um Aufständische daran zu hindern, in die Stadt einzusickern.

Dem Institute für the Study of War zufolge hat sich BOC im vergangenen Jahr auf die Bagdad-Belts konzentriert, was zu dem Rückgang der Angriffe in Bagdad beigetragen hat. Im Allgemeinen sei es den Sicherheitskräften gelungen, die Rückkehr weitverbreiteter Gewalt nach Bagdad im Jahr 2018 zu verhindern. Dieser Erfolg zeigt sich in der allgemeinen Abnahme von Gewaltereignissen im vergangenen Jahr. Politische Gewalt stelle nach wie vor die größte Herausforderung dar, dazu komme Destabilisierung angesichts der anhaltenden Blockade der neuen irakischen Regierung unter dem irakischen Premierminister Adel Abdul-Mahdi. Die PMF und andere lokale Sicherheitskräfte in Bagdad würden häufig eher auf politische Akteure reagieren, als auf den institutionellen staatlichen Sicherheitsapparat.

Die Expertin Geraldine Chatelard erklärt, dass die Wirksamkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung vor verschiedenen Formen von Gewalt vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängen kann. Schutzbemühungen werden durch die Situation vor Ort untergraben, in der PMF-Milizen auf Befehl ihrer eigenen Kommandos handeln und nicht der irakischen Regierung, weil sie verschiedenen politischen Anwärtern oder iranischen Gönnern gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Die Regierung könne Erscheinungen von „Gesetzlosigkeit und Kriminalität“ seitens der Milizen derzeit nicht wirksam begegnen. Der Experte Michael Knights geht davon aus, dass Gesetzesverstöße von Milizen auch derzeit folgenlos bleiben. Landinfo schätzt die Lage in Bagdad so ein, dass Milizen weiterhin Bewegungsfreiheit zukommt und sie über Verbindungen zur Polizei verfügen und an Kontrolle, Verhaftung, Bestrafung bzw. Entführung von Personen ebenso beteiligt sind, wie an anderweitigen an kriminellen Aktivitäten. In den Bagdad-Belts haben die Milizen mehr Handlungsspielraum, dort können sie den Einheimischen das Recht verweigern, in ihre Häuser zurückzukehren. Die PMF-Milizen sind dessen ungeachtet populär und haben sowohl formelle als auch informelle Macht. Sie konzentrieren sich auch auf den Wiederaufbau. In Bagdad wurde etwa ihre Rolle beim Wiederaufbau einer medizinischen Klinik beworben. Manchmal wenden sich die Einheimischen, auch in Bagdad, an die Milizen der Nachbarschaft, anstatt an die Polizei, um Gerechtigkeit zu suchen.

Michael Knights zufolge gibt es eine große Konzentration von Sicherheitskräften, einschließlich der in Bagdad stationierten Armee, die seiner Ansicht nach angemessen und aktiv geführt werden und über adäquate Beratung und nachrichtendienstliche Unterstützung verfügen. Die Androhung bzw. Zufügung von Gewalt in Bagdad erfolge derzeit eher „persönlich und gezielt“ und weniger „situativ“ (Anwesenheit am falschen Ort / zum falschen Zeitpunkt). Das Institute for the Study of War erklärte, dass Milizen in Bagdad in einem gewaltsamen Wettbewerb um territoriale Präsenz und Territorium, Bevölkerung und politischen Einfluss stehen. Viele ihrer politischen Machthaber wurden im Mai 2018 in das irakische Parlament bzw. die Regierung gewählt.

Checkpoints in Bagdad werden dazu verwendet, um sicherzustellen, dass Autobomben und Selbstmordattentäter nicht in die Stadt eindringen. Dem Experten Fanar Haddad zufolge betreiben PMF-Milizen keine regulären Checkpoints in der Stadt Bagdad, richten solche bei Zwischenfällen aber ad hoc ein. In den Bagdad-Belts gibt es demgegenüber sichtbare PMF-Präsenz und PMF-Kontrollpunkte Eine ähnliche Ansicht vertrat ein im Irak ansässiger Sicherheitsanalytiker, der erklärte, dass sich die von PMF-Milizen betriebenen Kontrollpunkte hauptsächlich am Stadtrand von Bagdad befinden und nicht in der Stadt selbst, wobei an Kontrollpunkten im Osten der Stadt PMF-Elemente gemeldet wurden. Es sei für die PMF-Milizen möglich, temporäre Kontrollpunkte einzurichten, um auf bestimmte Probleme in den Stadtteilen von Bagdad zu reagieren. Im Januar 2018 teilte der Mediendirektor der BOC der Zeitung Asharq Al-Awsat mit, dass 281 Kontrollpunkte in Bagdad aufgehoben wurden, mindestens 600 Hauptstraßen und Ausgänge und ihre Vororte wiedereröffnet und am 10. Dezember 2018 Tausende Betonblöcke entfernt wurden. Im Jahr 2018 wurde außerdem die befestigte Internationale Zone (grüne Zone) in der Innenstadt für die Öffentlichkeit geöffnet. Dies ist die erste Wiedereröffnung nach Jahren. Im Jahr 2015 hatte die Regierung die grüne Zone für ein paar Tage geöffnet, aber nach Widerstand von US-Beamten wieder geschlossen.

1.9. Zur aktuellen Lage im Irak werden schließlich folgende (allgemeinen) Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1.       Aktuelle Ereignisse

14.10.2019: Ein Ausschuss soll die mehr als 110 Todesfälle nach Massenprotesten gegen Korruption und Misswirtschaft in Irak untersuchen. Dies hatte Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi am 12.10.19 verkündet. Großajatollah Ali al-Sistani hatte die Einrichtung eines solchen Ausschusses gefordert.

Am 07.10.19 kam es in dem überwiegend schiitisch geprägten Stadtteil Sadr City erneut zu Demonstrationen. Die Demonstranten forderten neue Jobs und kritisierten den Tod mehrerer Demonstranten in der vorangegangenen Nacht. Bei den Ausschreitungen in der Nacht zum 07.10.19 waren mindestens acht Menschen gestorben.

28.10.2019: Die für den 25.10.19 angekündigten Proteste halten weiter an. Es handelt sich um die zweite Protestwelle in diesem Monat (vgl. BN v. 07.10.19). Seit dem 27.10.19 schließen sich lokalen Berichten zufolge vermehrt auch Schülerinnen, Schüler und Studierende in Bagdad und anderen Städten den Protesten an. Die Forderungen der Demonstranten enthalten u.a. Aufrufe zum Sturz des bestehenden politischen Systems (muhassassa), zur Absetzung der herrschenden politischen Elite und zur Reformierung des Wahlgesetzes. Demonstranten steckten mindestens 50 Regierungs-, Parteigebäude und Milizenbüros in Brand. Unbekannte Dritte eröffneten Human Rights Watch zufolge das Feuer auf Demonstranten, die versuchten Milizenbüros zu stürmen. Sicherheitskräfte nutzten u.a. Tränengas/-kanister, Gummigeschosse und Blendgranaten um die Demonstrati-onen aufzulösen. Anti-Terror-Einheiten wurden u.a. in Bagdad und Nasriyah entsandt, um Regierungsgebäude zu schützen und die Demonstrationen zu beenden.

Die Berichterstattung vor Ort bleibt weiterhin schwierig (vgl. BN v. 07.10.19). Am 27.10.19 veröffentlichte die irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte Namen von 13 in Nasriyah verhafteten Aktivisten. Am 22.10.19 veröffentlichte die irakische Regierung die Ergebnisse der Ermittlungen zu Toten und Verletzten während der vorangeganger Proteste (vgl. BN v. 07.10.19). Zwischen dem 01.10.19 und 09.10.19 wurden den Ermittlungen zufolge 157 Personen (inkl. acht Sicherheitskräfte) getötet und mehr als 3.000 Personen verletzt. Die häufigsten Verletzungs- und Todesursachen waren Schüsse in den Kopf oder die Brust. Der Einsatz von Scharfschützen und die Beschädigung von TV-Stationen (vgl. BN v. 07.10.19) wurden in den offiziellen Ermittlungen nicht aufgegriffen. Zwischen dem 25.10.19 und dem 27.10.19 kamen der irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge weitere73 Menschen ums Leben, mehr als 3.500 wurden verletzt.

IOM zufolge sind aufgrund der jüngsten Militäroperationen in Syrien im Zeitraum vom 14.-27.10.19 etwa rund 12.000 Menschen über verschiedene Grenzübergänge in den Irak geflohen. Der UN zufolge sind ca. 75% der registrierten Flüchtlinge Frauen und Kinder. Die Mehrheit der Geflüchteten wurde im Flüchtlingscamp Bardarash (Provinz Dohuk) untergebracht. Täglich kommen der UN zufolge zwischen 900 und 1.200 Personen im Lager Bardarash, welches kommende Woche seine Kapazität (max. 11.000 Personen) erreichen wird, an. Diejenigen mit Angehörigen in der Kurdischen Region-Irak (KR-I) sollen nach und nach aus dem Camp zu ihren Angehörigen entlassen werden. Kurdischen Medienberichten zufolge soll der Bau neuer Flüchtlingslager angesichts des Flüchtlingsstroms in Angriff genommen werden.

11.11.2019: Die Proteste in Irak halten an (vgl. BN v. 04.11.19). Die Demonstrationen konzentrierten sich weiterhin auf Bagdad und die südlichen und zentralen Provinzen, insbesondere Babil, Basra, Dhi Qar, Karbala, Missan, Muthana, Najaf, Qadisiyah und Wassit, auch wenn vereinzelte Demonstrationen in anderen Provinzen stattfanden. Studierende schlossen sich auch am 10.11.19 erneut den Demonstrationen an. Offiziellen irakischen Angaben zufolge sollen bei den regierungskritischen Massenprotesten in Irak seit Anfang Oktober mindestens 319 Menschen ums Leben gekommen sein. Präsident Barham Salih, Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi und der Parlamentsvorsitzende Mohammed al-Halbusi hätten am 10.11.19 in einer gemeinsamen Mitteilung versprochen, Korruption zu bekämpfen und auf eine Reform des Wahlrechts hinzuarbeiten. Das bestehende politische System und die Verfassung müssten überarbeitet werden.

Seit Beginn der zweiten Protestwelle (vgl. BN v. 28.10.19) setzen irakische Sicherheitskräfte militärische Tränengasgranaten ein. Menschenrechtsorganisationen zufolge werden sie wahllos in die Menschenmenge oder gezielt auf Demonstranten (Kopf-/Brusthöhe) geworfen. Zudem führt ihr Einsatz u.a. zu Atembeschwerden bis hin zum Ersticken und Verbrennungen auf der Haut.

Lt. dpa-Meldung vom 10.11.2019 sei der Organisation NetBlocks zufolge das Internet seit fast einer Woche nur noch teilweise zugänglich. Seit über einem Monat hätten nur 20 bis 35 Prozent der Nutzer über längere Zeiträume Zugang zum Internet gehabt.

Am 05.11.19 wurde eine Reihe von Aktivisten von irakischen Sicherheitskräften in mehreren Städten und Provinzen verhaftet, darunter in Bagdad, Basra, Dhi Qar, Karbala und Maysan. Berichten zufolge hätten die Sicherheitskräfte die Massenverhaftungen ohne entsprechende Haftbefehle durchgeführt. Bereits am 25.10.19 veröffentlichte der Hohe Richterliche Rat eine Stellungnahme, dass Artikel 2 des Anti-Terror-Gesetztes bei Zerstörung oder Beschädigung öffentlichen Eigentums oder Gewalt gegen Sicherheitskräfte zum Tragen kommt (UNAMI. 2. Bericht, S. 5).

UNAMI veröffentlichte am 05.11.19 einen weiteren Bericht zu den Demonstrationen im Zeitrau

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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