TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/31 W245 2214964-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.07.2020
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Entscheidungsdatum

31.07.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W245 2214963-1/19E

W245 2214964-1/19E

W245 2214961-1/19E

W245 2214966-1/19E

Schriftliche Ausfertigung des am 25.05.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard SCHILDBERGER, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX und 4. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Helmut BLUM, Mozartstraße 11/6, 4020 Linz, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.01.2019, 1. Zahl: XXXX , 2. Zahl: XXXX , 3. Zahl: XXXX und 4. Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , XXXX , XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 25.05.2021 erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkt III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

I.1.    Die Beschwerdeführer (in der Folge auch „BF“) XXXX (in der Folge auch „BF1“), XXXX (in der Folge auch „BF2“), XXXX (in der Folge auch „BF3“) und XXXX (in der Folge auch „BF4“), alle afghanische Staatsbürger, reisten illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am XXXX jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2.    Im Rahmen der am XXXX erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF1 an, dass sie vom Iran nach Afghanistan hätten abgeschoben werden sollen. Zu Hause sei er ein Mojaed (Kämpfer) gewesen. Wegen der Taliban könne er nicht nach Hause gehen. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

BF2, BF3 und BF4 führten aus, dass sie wegen der Probleme des BF1 Afghanistan hätten verlassen müssen. Bei einer Rückkehr hätten sie die gleichen Probleme wie BF1.

I.3.    Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „belangte Behörde“, auch „bB“) am 12.07.2018 gab die BF2 an, dass der BF1 für eine Gruppe gearbeitet habe, welche gegen die Taliban gewesen sei. Er sei in der Heimat ein Kämpfer gewesen. Sie habe nicht gewusst, wo er gekämpft habe.

In ihrem Herkunftsstaat sei die BF2 nie von den Behörden festgenommen worden, habe keine Probleme mit den Behörden gehabt und sei nie wegen ihrer politischen Gesinnung, ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihrer Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden.

Weiters erklärte die BF2 vor der bB, dass sie möglicherweise im Jahr 2001 von den Taliban angegriffen worden seien. Der BF1 sei damals nicht zuhause gewesen. Sie hätten schon länger über einen Angriff gehört. Deshalb seien sie vor dem Angriff schon in die Stadt XXXX geflohen. Das ein Angriff stattgefunden habe, hätten sie von den Nachbarn erfahren.

Nach fünf Tagen seien sie wieder in ihr Heimatdorf zurückgehrt. Da sei BF1 wieder bei ihnen gewesen. Sie hätten aber erfahren, dass die Taliban wieder angreifen würden. Sie hätten auch Bombenexplosionen gehört. Nach zwei Tagen hätte BF1 sie wieder verlassen.

Beim zweiten Angriff seien sie zuhause gewesen. Sie hätten gehört, dass draußen geschossen worden sei. Es sei auch jemand zu ihrem Haus gekommen; es seien mehrere Männer gewesen. Die Männer hätten sie geschlagen. Nach dem Angriff sei sie im Krankenhaus gewesen. Danach sei sie zu ihrer Mutter gegangen und habe dort gelebt. Die BF2 habe sechs Monate nicht gewusst, wo der BF1 gewesen sei. Ihr Schwiegervater habe nachgefragt, ob BF1 noch lebe.

Dann hätten Sie wieder gehört, dass neuerlich ein Angriff der Taliban bevorstehe. Durch einen Freund habe sie erfahren, dass ihr Ehemann (BF1) bereits im Iran sei. Der Freund habe gesagt, dass auch sie mit den Kindern in den Iran zum BF1 fliehen solle. Sie sei seit 2002 nicht mehr in ihrer Heimat gewesen.

Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor Afghanistan. Sie seien in der Heimat angegriffen worden und sie hätten nach dem BF1 gefragt. Die BF2 glaube, dass die Angreifer den BF1 gekannt hätten.

Die restliche Familie der BF2 habe in Afghanistan keine Probleme mit den Taliban. Sie hätten auch sonst keine Probleme.

Im Iran habe sie Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Im Übrigen habe sie keine weiteren Fluchtgründe. BF2 wolle nicht mehr in ihre Heimat zurück; sie fürchte um ihr Leben und um das Leben ihrer Familie.

Die BF2 vertrete den minderjährigen Sohn (BF4) im Asylverfahren. Die BF2 erklärte, dass der BF4 keine eigenen Fluchtgründe vorzubringen habe.

I.4.    Bei der Einvernahme durch die bB am 12.07.2018 gab der BF3 an, dass er im Sommer 2001 gemeinsam mit seinen Eltern Afghanistan verlassen habe. Sie seien aufgrund der Probleme seines Vaters ausgereist. Die Familie sei gemeinsam aus Afghanistan in Richtung Iran ausgereist. Er sei damals ca. drei Jahre alt gewesen. Er wisse nicht, welche Probleme sein Vater in Afghanistan gehabt habe; er habe keine eigenen Fluchtgründe.

In seinem Herkunftsstaat sei der BF3 nie von den Behörden festgenommen worden, habe keine Probleme mit den Behörden gehabt und sei nie wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Religion, seiner Rasse, seiner Nationalität, seiner Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst vor den negativen Dingen, welche er in Österreich von anderen Afghanen höre.

I.5.    Bei der Einvernahme durch die bB am 30.08.2018 gab der BF1 an, dass er seit seinem 22. Lebensjahr als Mitglied der Mudschaheddin gekämpft habe. Früher habe er gegen Russland, später gegen die Taliban gekämpft. Er sei bis zu seiner Ausreise Teil dieser Gruppierung gewesen. Er habe im Sommer 2001 Afghanistan verlassen.

Weiters erklärte der BF1, dass bei seinem letzten Kampf ihr Kommandant gesagt habe, dass sie nicht nach XXXX zurückkehren könnten, sondern nach Kabul gehen müssten, da die Taliban im Bereich XXXX gesiegt hätten. Es seien nur fünf Kämpfer ihrer Einheit übriggeblieben. Sie seien in den Iran ausgereist, da sie Angst gehabt hätten, dass sie in Kabul von den Taliban erwischt werden würden. Die Familie des BF1 sei fünf oder sechs Monate später nachgereist.

Zudem sei sechs Monate vor seiner Ausreise in der Nähe des Heimatdorfes des BF1 ein älterer Mann – vermutlich ein Taliban – auf ihn zugekommen. Dieser habe den BF1 gefragt, ob er für eine Personengruppe – vermutlich die Taliban – arbeiten wolle. Dies habe der BF1 verneint.

Ferner seien die Taliban bei ihm zuhause gewesen. Sie hätten den Vater des BF1 sowie die BF2 verletzt. Die Taliban hätten wissen wollen, wo sich der BF1 aufhalte.

In seinem Herkunftsstaat sei der BF1 nie von den Behörden festgenommen worden, habe keine Probleme mit den Behörden gehabt und sei nie wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Religion, seiner Rasse, seiner Nationalität und seiner Volksgruppe verfolgt worden. Er habe zu einer Gruppe von Kämpfern gehört, welche gegen die Taliban gekämpft hätten. Die Taliban würden den BF1 töten wollen, weil er im Krieg gegen sie gewesen sei. Viele Freunde des BF1 seien getötet worden.

Bei einer Rückkehr habe er Angst vor der Gruppe der Taliban, die ihn damals hätte anheuern wollen. Sie würden den BF1 kennen. Die Gruppe bzw. der Mann würden seinen Namen kennen und wissen, wo er wohne. Der BF1 habe Angst davor, dass er oder seine Familie in seiner Heimat erkannt werde. Der BF1 sei in seiner Heimat, in der Provinz XXXX , als Kämpfer gegen die Taliban bekannt.

Persönlich sei der BF1 nicht bedroht worden, es habe keine direkten Angriffe auf seine Person gegeben.

Weitere Gründe, warum er seine Heimat verlassen habe, habe er nicht. Bei einer Rückkehr habe er Angst um das Leben seiner Familie. Die Taliban würden sich an ihm rächen.

Die Kinder des BF1 – BF3 und BF4 – hätten keine eigenen Fluchtgründe.

I.6.    Bei der Einvernahme durch die bB am 17.01.2019 gab der BF4 an, dass er im Iran geboren worden sei.

In seinem Herkunftsstaat sei der BF4 nie von den Behörden festgenommen worden, habe keine Probleme mit den Behörden gehabt und sei nie wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Religion, seiner Rasse, seiner Nationalität, seiner Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden.

Ferner führte der BF4 aus, dass der BF1 nichts über seine Probleme in Afghanistan erzählt habe. Sie hätten ihn öfters befragt, jedoch würde er nicht reden. Der BF4 sagte, dass der BF1 nur sage, dass Afghanistan nicht sicher sei. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei nicht möglich, weil sein Heimatland gefährlich sei. Weitere Gründe habe er nicht.

I.7.    Mit den angefochtenen Bescheiden wies die bB die Anträge der BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.). Es wurde den BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.-V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde ein befristetes Einreiseverbot auf die Dauer von drei Jahren erlassen (Spruchpunkt VII.).

I.8.    Mit Verfahrensanordnungen vom 22.01.2019 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG XXXX , als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnungen vom 22.01.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

I.9.    Gegen die Bescheide der bB richteten sich die am 13.02.2019 fristgerecht erhobenen Beschwerden.

I.10.   Die gegenständlichen Beschwerden und die bezugshabenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge auch „BVwG“) am 22.02.2019 von der bB vorgelegt.

I.11.   Am 10.04.2020 wurde vom BVwG eine Verhandlung für den 25.05.2020 anberaumt.

I.12.   Am 17.04.2020 wurde eine Vollmacht für XXXX bekanntgegeben. Gleichzeitig wurde mit Bekanntgabe der Vollmacht ein Gutachten zum Fall des BF1 von XXXX vorgelegt.

I.13.   Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 25.05.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die BF im Beisein ihres bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der bB nahm an der Verhandlung nicht teil.

I.14.   Nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgte eine mündliche Verkündung des Erkenntnisses. Die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung wurde der bB samt Hinweis auf die mündliche Verkündung übermittelt. Die BF beantragten fristgerecht beim BVwG die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1.   Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

II.1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF1 führt den Namen XXXX , geb. XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF1 ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und leidet an einer geringgradig chronischen Gastritis.

Der BF1 wurde nach seinen Angaben in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren.

Der BF1 verfügt über keine Schulbildung. In Afghanistan hat der BF1 im Geschäft seines Vaters Stoffe verkauft. Ab dem 22. Lebensjahr hat er als Mujaheddin gegen die Sowjetunion und gegen die Taliban gekämpft. Im Iran hat der BF1 als Schuster gearbeitet. Er war im Iran in der Lage, seine Familie zu versorgen.

Der BF1 verfügt in Afghanistan bzw. im Iran über kein Vermögen.

Der BF1 hat einen Bruder und eine Schwester in Afghanistan. Die wirtschaftliche Situation der Geschwister in Afghanistan ist dem BF1 nicht bekannt. Der BF hat nur Kontakt zu den Angehörigen seiner Ehefrau.

Der BF1 hat noch einen Bruder im Iran bzw. in Deutschland.

Die BF2 führt den Namen XXXX , geb. XXXX , ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF2 ist Dari. Sie ist im erwerbsfähigen Alter. Sie leidet an einer schweren depressiven Episode, benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel des linken Poterioren Bogengangs, dd Sekundärer phobisch-somatoformer Schwankschwindel. Die BF benötigt laufend medizinische Betreuung und Aufsicht durch ihre Angehörigen.

Die BF2 wurde nach ihren Angaben in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren.

Die BF2 verfügt über keine Schulbildung. Sie konnte weder in Afghanistan noch im Iran spezifische Berufserfahrungen sammeln. Sie wurde zunächst von ihrer Familie und nach Eheschließung von ihrem Ehemann versorgt.

Die BF2 verfügt in Afghanistan bzw. im Iran über kein Vermögen.

Die BF2 hat eine Mutter, einen Bruder und eine Schwester in Afghanistan. Die wirtschaftliche Situation der Geschwister in Afghanistan ist der BF2 nicht bekannt. Die BF2 hat Kontakt zu ihren Angehörigen in Afghanistan. Die BF2 hat auch eine Schwester im Iran und eine Schwester in Deutschland.

BF1 und BF2 sind verheiratet. Ihre gemeinsamen Kinder sind der BF3 und der BF4.

Der BF3 führt den Namen XXXX , geb. XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF3 ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.

Der BF3 wurde nach seinen Angaben in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren.

Der BF3 hat im Iran 6 Jahre eine illegale afghanische Schule besucht und hat anschließend Berufserfahrungen als Schuster gesammelt. Der BF verfügt über kein Vermögen in Afghanistan bzw. im Iran.

Der BF4 führt den Namen XXXX , geb. XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF4 ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.

Der BF4 wurde im Iran geboren. Der BF4 hat im Iran 5 Jahre eine illegale afghanische Schule besucht. Der BF verfügt über kein Vermögen in Afghanistan bzw. im Iran.

Es kann nicht festgestellt werden, wann der BF1, die BF2 und der BF3 aus Afghanistan ausgereist sind.

Die BF sind strafgerichtlich unbescholten. Nach ihren eigenen Angaben sind sie in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und hatten keine Probleme mit Behörden und waren politisch nicht aktiv.

II.1.2. Zum Leben der BF2 in Österreich:

Der BF2 hält sich seit XXXX in Österreich auf.

Die BF2 lebt in St. Martin im Mühlkreis mit BF1, BF3 und BF4.

Die BF2 pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen. Neben den erwähnten Freundschaften, ist die BF2 kein Mitglied von Vereinen.

Die BF2 besucht zwischenzeitlich Deutschkurse und weist dies durch Teilnahmebestätigungen nach. Sie ist kaum in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren.

Da die BF2 keine Arbeitserlaubnis hat, war sie bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Die BF2 lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Ferner verfügt sie über keine Einstellzusage. Die BF2 hat teilweise gemeinnützigen Aufgaben übernommen.

Die BF2 verfügt über keine konkreten Berufsvorstellungen.

II.1.3. Zu den Fluchtgründen des BF:

Die BF stellten am XXXX jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Ihre Anträge auf internationalen Schutz begründeten die BF im Wesentlichen damit, dass der BF1 Probleme mit den Taliban gehabt hätte.

Dieses Vorbringen konnte die BF jedoch nicht glaubhaft machen, da es sich bei Gesamtbetrachtung sämtlicher im Verlauf des Verfahrens getätigten Angaben in entscheidenden Punkten als widersprüchlich sowie als nicht schlüssig und nicht plausibel erwiesen hat.

Der BF1 hatte in Afghanistan keine Probleme mit den Taliban.

Die BF waren vor ihrer Ausreise aus Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung oder Bedrohung – etwa durch die Taliban – ausgesetzt bzw. haben sie eine solche, auch im Falle ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht zu befürchten.

Es wird festgestellt, dass eine asylrelevante Bedrohung der BF wegen den Vorfällen in XXXX nicht besteht.

Die BF2 hat seit ihrer Einreise in Österreich keine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Sie hat keine "westliche Lebensführung" angenommen. Bei der BF2 handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die BF2 wäre im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass dem BF4 alleine aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität drohen würde.

Festgestellt wird, dass aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan eine konkrete Bedrohung bzw. Verfolgung der BF nicht abgeleitet werden kann.

Es wird festgestellt, dass die BF wegen ihrer Probleme im Iran in ihren Herkunftsstaat weder bedroht noch verfolgt wurden. Zudem haben die BF bei einer allfälligen Rückkehr in ihren Herkunftsstaat keine Bedrohung bzw. eine Verfolgung dahingehend zu befürchten.

Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass die BF einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt sind oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr zu befürchten hätten.

II.1.4. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Eine Rückkehr der BF in ihre Heimatprovinz ist nicht möglich.

Aufgrund der vorliegenden Länderinformationen steht den BF aus dem Blickwinkel der Sicherheitslage eine innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Die BF haben bisher in der Stadt Mazar-e Sharif nicht gelebt. Die BF können Mazar-e Sharif sicher mit dem Flugzeug von Österreich erreichen.

Im Falle einer Verbringung des BF1 in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK). Es ist dem BF1 möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Der BF2 wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren. Auch im Familienverband ist eine Rückkehr von BF1 und BF2 nicht möglich. Die BF2 benötigt auf Grund ihres Gesundheitszustandes ständig ärztliche Betreuung bzw. ständige Unterstützung/Aufsicht von Familienmitgliedern.

Eine Rückkehr der gesamten Familie (BF1, BF2, BF3 und BF4) im Familienverband aufgrund der Minderjährigkeit des BF4 ist nicht möglich bzw. nicht zumutbar.

Eine Familie mit einem minderjährigen Kind sowie einer ständig betreuungsbedürftigen Mutter erfordert im konkreten Rückkehrort – hier Mazar-e Sharif – eine konkrete familiäre Unterstützung. Gerade die konnte in gegenständlicher Beschwerdesache nicht festgestellt werden.

II.1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (Länderinformationsblatt für Afghanistan (in der Folge auch „LIB“) vom 13.11.2019, Seite 12).

II.1.5.1. Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (LIB 13.11.2019, Seite 18). Diese ist jedoch regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich (EASO Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 89ff; LIB 13.11.2019, Seite 18ff).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung. Die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden sind, sodass Engpässe entstehen. Dadurch können manchmal auch Kräfte fehlen, um Territorium zu halten. Die Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau (LIB 13.11.2019, Seite 19).

Für das gesamte Jahr 2018 gab es gegenüber 2017 einen Anstieg in der Gesamtzahl ziviler Opfer und ziviler Todesfälle. Für das erste Halbjahr 2019 wurde eine niedrigere Anzahl ziviler Opfer registriert. Im Juli, August und September lag ein hohes Gewaltniveau vor. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren 2018 am stärksten vom Konflikt betroffen (LIB 13.11.2019, Seite 24).

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele (High Profile Angiffe – HPA) aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind jedoch stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt, zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (LIB 13.11.2019, Seite 25).

II.1.5.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB 13.11.2019, Seite 26).

II.1.5.2.1. Taliban

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB 13.11.2019, Seite 26; Seite 29). Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest seien Teil der lokalen Milizen). Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB 13.11.2019, Seite 27). Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB 13.11.2019, Seite 27).

II.1.5.2.2. Haqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB 13.11.2019, Seite 27).

II.1.5.2.3. Islamischer Staat (IS/Daesh)

Islamischer Staat Khorasan Provinz: Die Stärke des ISKP variiert zwischen 1.500 und 3.000, bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern bzw. ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. Durch Partnerschaften mit militanten Gruppen konnte der IS seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan stärken. Er ist vor allem im Osten des Landes in der Provinz Nangarhar präsent (LIB 13.11.2019, Seite 27f). Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit. Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt, nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab. Die Taliban und der IS sind verfeindet. Während die Taliban ihre Angriffe überwiegend auf Regierungsziele bzw. Sicherheitskräfte beschränken, zielt der IS darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern und Schiiten anzugreifen (LIB 13.11.2019, Seite 29).

II.1.5.2.4. Al-Qaida

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen (LIB 13.11.2019, Seite 29).

II.1.5.3. Sicherheitsbehörden:

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF – Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police) (LIB 13.11.2019, Seite 249).

Die Afghanische Nationalarmee (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.374 autorisiert (LIB 13.11.2019, Seite 250). Die Afghan National Police (ANP) gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA (LIB 13.11.2019, S. 250). Die Afghan Local Police (ALP) wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB 13.11.2019, Seite 251).

II.1.5.4. Lage in der Herkunftsprovinz XXXX der BF:

II.1.5.4.1. Grundinformationen:

Die Provinz Kapisa liegt im zentralen Osten Afghanistans, umgeben von den Provinzen Panjshir im Norden, Laghman im Osten, Kabul im Süden und Parwan im Westen. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in Kapisa sind Tadschiken, Paschtunen und Nuristani, wobei die Tadschiken als größte Einzelgruppe hauptsächlich im nördlichen Teil der Provinz leben (LIB 13.11.2019, Seite 125).

II.1.5.4.2. Erreichbarkeit:

Eine Hauptstraße verbindet die Provinzhauptstadt Mahmood Raqi mit Kabul (LIB 13.11.2019, Seite 125).

II.1.5.4.3. Sicherheitslage:

Kapisa zählt zu den relativ volatilen Provinzen. Die Regierungstruppen führen, teils mit Unterstützung der USA, regelmäßig Operationen in Kapisa durch. Auch werden Luftangriffe ausgeführt – in manchen Fällen werden dabei auch hochrangige Taliban getötet oder Dörfer von den Taliban zurück erobert. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. (LIB 13.11.2019, Seite 26).

II.1.5.5. Lage in der Provinz Balkh bzw. in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif:

II.1.5.5.1. Grundinformationen:

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (LIB 13.11.2019, Seite 60 f.). Im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.06.2019 kamen rund 30.000 Binnenvertriebe in die Provinz Balkh (LIB 13.11.2019, Seite 60 f.)

II.1.5.5.2. Erreichbarkeit:

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) zu erreichen (LIB 13.11.2019, Seite 61 und 336).

II.1.5.5.3. Sicherheitslage:

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten. In den letzten Monaten versuchten Aufständische der Taliban die Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren (LIB 13.11.2019, Seite 62). Im Jahr 2018 wurden 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh dokumentiert. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB 13.11.2019, Seite 63). Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Provinz Balkh sowie in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, Seite 89 und 92 f.).

II.1.5.5.4. Versorgungslage:

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 „stressed“ eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ACCORD, Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 02.10.2019, 3.1.).

II.1.5.5.5. Wirtschaftslage:

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen. Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan, wie auch ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (LIB 13.11.2019, Seite 61 und 336)

II.1.5.5.6. Medizinische Versorgung:

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es zwischen 10 und 15 Krankenhäuser; dazu zählen sowohl private als auch öffentliche Anstalten. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer; jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken; 20% dieser Gesundheitskliniken finanzieren sich selbst, während 80% öffentlich finanziert sind. Das Regionalkrankenhaus Balkh ist die tragende Säule medizinischer Dienstleistungen in Nordafghanistan; selbst aus angrenzenden Provinzen werden Patient/innen in dieses Krankenhaus überwiesen. Für das durch einen Brand zerstörte Hauptgebäude des Regionalkrankenhauses Balkh im Zentrum von Mazar-e Sharif wurde ein neuer Gebäudekomplex mit 360 Betten, 21 Intensivpflegeplätzen, sieben Operationssälen und Einrichtungen für Notaufnahme, Röntgen- und Labordiagnostik sowie telemedizinischer Ausrüstung errichtet. Zusätzlich kommt dem Krankenhaus als akademisches Lehrkrankenhaus mit einer angeschlossenen Krankenpflege- und Hebammenschule eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung des medizinischen und pflegerischen Nachwuchses zu. Die Universität Freiburg (Deutschland) und die Mashhad Universität (Iran) sind Ausbildungspartner dieses Krankenhauses (BFA 4.2018). Balkh gehörte bei einer Erhebung von 2016/2017 zu den Provinzen mit dem höchsten Anteil an Frauen, welche einen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben. Weiters gibt es in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB 13.11.2019, Seite 347 und 351 f.).

II.1.5.6. Bewegungsfreiheit

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung schränkt die Bewegung der Bürger gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB 13.11.2019, Seite 327).

II.1.5.7. Meldewesen

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB 13.11.2019, Seite 328).

II.1.5.8. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB 13.11.2019, Seite 264).

II.1.5.9. Korruption:

Die Korruption ist in Afghanistan sehr hoch. Es bestehen zwar strafrechtliche Sanktionen gegen Korruption, diese werden jedoch nicht effektiv umgesetzt. Korruption findet in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens statt, unter anderem in der Justiz, bei der Beschaffung von Gütern, bei Staatseinnahmen und bei der Bereitstellung von Leistungen des Staates (LIB 13.11.2019, Seite 254 f.).

II.1.5.10. Medizinische Versorgung:

Der afghanischen Verfassung zufolge hat der Staat kostenlos medizinische Vorsorge, ärztliche Behandlung und medizinische Einrichtungen für alle Bürger zur Verfügung zu stellen. Außerdem fördert der Staat die Errichtung und Ausweitung medizinischer Leistungen und Gesundheitszentren. Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt (LIB 13.11.2019, Seite 344).

Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden (LIB 13.11.2019, Seite 350).

II.1.5.11. Wirtschaft

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (LIB 13.11.2019, Seite 333).

Am Arbeitsmarkt müssten jährlich 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen, wobei Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen können. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB 13.11.2019, Seite 334 f.).

Es gibt lokale Webseiten, die offene Stellen im öffentlichen und privaten Sektor annoncieren. Die meisten Afghanen sind unqualifiziert und Teil des informellen, nicht-regulierten Arbeitsmarktes. Der Arbeitsmarkt besteht Großteiles aus manueller Arbeit ohne Anforderungen an eine formelle Ausbildung und spiegelt das niedrige Bildungsniveau wieder. In Kabul gibt es öffentliche Plätze, wo sich Arbeitssuchende und Nachfragende treffen. Viele bewerben sich, nicht jeder wird engagiert. Der Lohn beträgt für Hilfsarbeiter meist USD 4,3 und für angelernte Kräfte bis zu USD 14,5 pro Tag (EASO Afghanistan Netzwerke aus Jänner 2018, Seite 29 f.).

II.1.5.12. Rückkehrer:

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 sind insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB 13.11.2019, Seite 353).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB 13.11.2019, Seite 354).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 13.11.2019, Seite 354).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB 13.11.2019, Seite 355).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB 13.11.2019, Seite 355).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB 13.11.2019, Seite 355).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB 13.11.2019, Seite 356).

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück (LIB 13.11.2019, Seite 356).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB 13.11.2019, S. 358).

In Kabul und im Umland sowie in Städten stehen Häuser und Wohnungen zur Verfügung. Die Kosten in Kabul-City sind jedoch höher als in den Vororten oder in den anderen Provinzen. Die Lebenshaltungskosten sind für den zentral gelegenen Teil der Stadt Kabul höher als in ländlichen Gebieten (LIB 13.11.2019, S. 359).

Es ist auch möglich an Stelle einer Wohnung ein Zimmer zu mieten, da dies billiger ist. Heimkehrer mit Geld können Grund und Boden erwerben und langfristig ein eigenes Haus bauen. Vertriebene in Kabul, die keine Familienanbindung haben und kein Haus anmieten konnten, landen in Lagern, Zeltsiedlungen und provisorischen Hütten oder besetzen aufgelassene Regierungsgebäude. In Städten gibt es Hotels und Pensionen unterschiedlichster Preiskategorien. Für Tagelöhner, Jugendliche, Fahrer, unverheiratete Männer und andere Personen, ohne permanenten Wohnsitz in der jeweiligen Gegend, gibt es im ganzen Land Angebote geringerer Qualität, sogenannte chai khana (Teehaus). Dabei handelt es sich um einfache große Zimmer in denen Tee und Essen aufgetischt wird. Der Preis für eine Übernachtung beträgt zwischen 0,4 und 1,4 USD. In Kabul und anderen großen Städten gibt es viele solche chai khana und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen, um dort eingelassen zu werden (EASO Afghanistan Netzwerke aus Jänner 2018, Seite 31).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 13.11.2019, Seite 362).

II.1.5.13. Ethnische Minderheiten:

In Afghanistan leben zwischen 32-35 Millionen Menschen. Es sind ca. 40-42% Pashtunen, rund 27-30% Tadschiken, ca. 9-10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB 13.11.2019, Seite. 287f).

II.1.5.13.1. Tadschiken:

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie machen etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB 13.11.2019, S. 289f).

Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt.

II.1.5.14. Religionen:

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80-89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB 13.11.2019, S. 277).

Sunniten sind allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt.

II.1.5.15. Rekrutierung durch die Taliban:

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind. Aus Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven schließen sich viele den Taliban an (Bericht Landinfo, Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017 [in der Folge kurz „Landinfo-Rekrutierung durch Taliban“], Seite 12-13). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 14).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 8). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 18).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 11).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 18). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 19).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo-Rekrutierung durch Taliban, Seite 20).

II.1.5.16. Frauen (LIB 13.11.2019, Kap. 18.1):

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen.

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt.

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben, der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen. Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen.

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen. Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig. So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen.

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr kon

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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