Entscheidungsdatum
14.09.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W173 2193188-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Margit Möslinger-Gehmayr als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.3.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.6.2020 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer XXXX (in der Folge BF) reiste illegal in Österreich ein und stellte am 25.9.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.
2. Bei der am 27.10.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Wien gab der BF an, er sei am XXXX in der afghanischen Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX im Dorf XXXX geboren, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und sei Muslim schiitischen Glaubens. Er spreche Dari und habe drei Jahre die Schule besucht. Über seinen Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, persönlicher Bewacher für das Haus seines Onkels väterlicherseits, der XXXX heiße und die Funktion eines Generals beim Militär einnehme, gewesen zu sein. Wegen dieser Tätigkeit sei er von den Taliban bedroht worden.
3. Am 6.2.2018 wurde der BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an, er sei gesund, habe aber psychische Probleme, die darauf zurückzuführen seien, dass er seine Familie in Afghanistan zurüchgelassen habe. Er sei seit ungefähr 6 oder 7 Monaten in Behandlung. Er heiße XXXX und sei am XXXX im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Ghazni geboren. Er sei in seinem Herkunftsstaat zuletzt in Kabul gewesen und habe dort ca. 8 Jahre lang gelebt. Er habe eine Ehefrau und drei Kinder, welche allesamt in Kabul wohnhaft seien. Er habe telefonisch Kontakt mit seiner Familie und das Verhältnis sei gut. Drei seiner Brüder seien in Österreich. Er sei Hazara und habe seine Religion geändert. Er sei zuvor schiitischer Moslem gewesen und nun ein protestantischer Christ geworden. Er gehe seit sechs Monaten zur Kirche. Er sei nicht getauft und habe keine Austrittserklärung aus dem Islam. Seit sein Onkel erfahren habe, dass er ein Christ geworden sei, kümmere er sich nicht mehr um seine Familie, da er den Standpunkt vertrete, dass sie einem Ungläubigen zuzuordnen sei. Der BF spreche Dari und ein bisschen Deutsch. Er habe drei Jahre lang die Schule besucht. In Afghanistan habe er mit einem Freund ein Teppichgeschäft geführt und sei dann noch vier Jahre lang Wachmann für seinen Onkel väterlicherseits gewesen. Er habe vom Geschäft und der verpachteten Landwirtschaft gelebt. Über seine Fluchtgründe befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er der persönliche Wachmann seines Onkels väterlicherseits gewesen sei. Ein alter Taliban habe ihm gesagt, dass der Onkel des BF mit seiner Arbeit aufhören und der BF sich den Taliban anschließen solle, oder die Taliban würden ihn und seine Familie umbringen. Er habe das dem Onkel erzählt. Dieser habe ihm nicht helfen können und erklärt, der BF müsse sich selbst schützen. Der BF habe keine Wahl gehabt und habe nach 15 Tagen das Land verlassen. Persönlich sei er nicht verfolgt oder bedroht worden. Seine Familie sei zum Onkel gezogen, der Leiter im Verteidigungsministerium in Kabul gewesen sei und derzeit die Funktion des Leiters des Kommunikationsministeriums als Teil des Verteidigungsministeriums in Kabul einnehme.
Zu seiner Konversion zum Christentum führte der BF aus, dass in Österreich an seinem Wohnort zwei mit ihm befreundete Christen gewesen seien. Auf Grund seiner Traurigkeit hätten sie ihm angeboten mitzukommen. Eine Zeit sei er zur Kirche gegangen, wobei noch kein Konversionsentschluss gefallen sei. Er habe die Bibel bekommen und den richtigen Weg erkannt. Er habe sich für eine persisch- und gegen eine deutschsprachige Gemeinde entscheiden, weil er habe wissen wollen, worum es gehe. Wenn er Zeit habe, lese er die Bibel. Seit 2015 suche er keine Moschee mehr auf. Er habe eine A1 Deutschkurs besucht und fange nun mit A2 an. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben und das seiner Familie.
Im Rahmen der Einvernahme wurden vom BF unter anderem Kursbesuchsbestätigungen, Empfehlungsschreiben, und ein fachärztlicher Befundbericht, wonach der BF an Angst und depressiver Reaktion, sowie schweren depressiven Episoden leide, vorgelegt. Zu den vorgelegten Unterlagen zählte ein Schreiben der Iranisch-Christlichen Gemeinde Wien vom 5.2.2018, das vom Leiter der dortigen Iranisch Christlichen Gemeinde, Herrn XXXX , verfasst wurde. Darin wurde ausgeführt, dass der BF regelmäßig an Veranstaltungen teilnehme und den Taufunterricht besuche, wobei er nach dessen Abschluss in der Gemeinde getauft werden solle. Ein Tauftermin sei noch nicht fixiert worden. Der BF solle seine Bibelkenntnisse noch vertiefen und ein besseres Verständnis für den christlichen Glauben bekommen und danach leben. Der BF bemühe sich dazu.
4. Mit Bescheid vom 21.3.2018, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Im Bescheid traf die Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in Afghanistan. Der BF habe keine asylrelevanten Fluchtgründe glaubhaft machen können. Dem Fluchtvorbringen des BF fehle es an einem wahren Kern. Die behauptete Konversion zum Christentum stelle eine Steigerung des Fluchtvorbringens dar. Es fehle dem BF an einer inneren Überzeugung. Der BF verfüge über eine Schulausbildung, Arbeitserfahrung und sei in einem arbeitsfähigen Alter. Sein vermögender Onkel, Tanten, Geschwister, Ehegattin und Kinder würden in Kabul leben. Die psychische Erkrankung des BF sei auf den Trennungsschmerz zurückzuführen, der sich beim Aufenthalt bei seiner Familie in Afghanistan legen würde. Es sei bei einer Gesamtschau nicht davon auszugehen, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine Notlage gemäß Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK gelangen würde. Hinsichtlich Art. 8 EMRK sei dem Interesse der Öffentlichkeit an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit mehr Gewicht einzuräumen, als den höchst oberflächlichen privaten Interessen des BF. Es sei eine Rückkehrentscheidung nach Afghanistan zu erlassen und die Abschiebung des BF dorthin zulässig. Gemäß den gesetzlichen Bestimmungen sei eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen.
Mit Verfahrensanordnung vom 22.3.2018 wurde dem BF die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.
5. Gegen den Bescheid vom 21.3.2018 wurde mit Schreiben vom 13.4.2018 vom BF in vollem Umfang Beschwerde erhoben. Inhaltlich wurde ausgeführt, dass der BF als Wachmann seines Onkels väterlicherseits gearbeitet habe und aufgrund der Tätigkeit von den Taliban aufgefordert worden sei, sich ihnen anzuschließen. Andernfalls würde seine Familie von den Taliban getötet werden. Unabhängig von seinem Versteck würde der BF in Afghanistan überall gefunden werden. Der BF habe sich zudem vom ursprünglichen islamischen Glauben abgewandt und in Österreich zum Christentum gefunden. Er befürchte bei einer Rückkehr, von den Taliban umgebracht und aufgrund seines nunmehrigen Glaubens, mit dem er vom Islam abgefallen sei, verfolgt zu werden. Der BF leide unter den diagnostizierten psychischen Krankheiten „Angst und depressive Reaktionen, gemischt (ICD-10 F 43.21) und schwere depressive Episode (ICD-10 F 32.2)“. Das von der belangten Behörde geführte Verfahren sei mangelhaft. Bei der Erstbefragung sei keine Rückübersetzung erfolgt. Die belangte Behörde sei ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen. Dies treffe insbesondere in Bezug auf den Onkel und die Konversion des BF zu. Dazu seien konkrete Nachfragen unterlassen worden. Zur Konversion des BF zum christlichen Glauben werde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Einvernahme des Zeugen XXXX , der Leiter der christlichen Gemeinde des BF sei, beantragt. Die getroffenen Länderfeststellungen seien unzureichend. Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich seit der Flucht des BF galoppierend verschlechtert. Dazu werde auf den EASO Bericht Stand August 2017 verwiesen. Der BF sei aufgrund der ihm von den Taliban unterstellten politischen Gesinnung im Hinblick auf die Unterstützung der Regierung bzw. Gegnerschaft als Flüchtling im Sinne der GFK anzusehen. Es bestehe aufgrund der Vernetzung der Taliban landesweit die Gefahr von Verfolgung, sodass es an einer internen Fluchtalternative fehlen würde. Auch drohe dem BF wegen der Konversion zum Christentum und der damit verbundenen Apostasie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung sowohl durch staatliche als auch durch nichtstaatliche Akteure. Aufgrund der Sicherheitslage und der fehlenden Möglichkeiten des BF, sich in Afghanistan niederzulassen und sein Leben unter menschwürdigen Bedingungen führen zu können, wäre dem BF in eventu auch subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Der BF sei seit seiner Ankunft in Österreich 2015 engagiert, verfüge über gute Deutschkenntnisse und gehe einer Arbeit nach. Es sei nicht nachvollziehbar, warum in seinem Fall die Behörde die öffentliche Ordnung als gefährdet erachte. Vielmehr werde der BF bei einer Abschiebung in seinem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt.
Der Beschwerde lag eine mit 13.4.2018 datierte Bestätigung zum Austritt des BF aus der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich sowie eine Bestätigung über erbrachte gemeinnützige Arbeitsleistung für die Magistratsabteilung 42 – Wiener Stadtgärten bei.
6. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 20.4.2018 von der belangten Behörde vorgelegt.
7. Mit 8.1.2019 wurden vom BF ein Taufzeugnis der Iranisch-Christlichen Gemeinde zu seiner am 15.12.2018 erfolgten Taufe sowie diverse Bestätigungen für vom BF geleistete, gemeinnützige Hilfstätigkeit bei der MA 42 beginnend mit 5.2.2018 vorgelegt.
8. Am 23.6.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, der Rechtsvertretung des BF und dem Zeugen XXXX eine mündliche Verhandlung durch.
Zu seinem gesundheitlichen Befinden gab der BF an, dass es ihm gut gehe und von ihm keine ärztliche Behandlung mehr in Anspruch genommen werde. Er nehme auch zurzeit keine Medikamente. Er stamme aus der afghanischen Provinz Ghazni, Bezirk XXXX , Dorf XXXX und sei afghanischer Staatsbürger. Seine Eltern seien krankheitsbedingt verstorben und von seinen sieben Geschwistern würden drei Brüder in Österreich leben, von denen einer ( XXXX ) den Asylstatus bereits erlangt habe. Der andere Bruder XXXX habe auch den Glauben gewechselt und sei Christ geworden. Zum weiteren in Tirol lebenden Bruder habe der BF nicht viel Kontakt. Ihm sei Religion nicht wichtig, jeder könne seinen Weg wählen. Wenn jemand in Afghanistan seine Religion wechsle, werde er aber nach der Scharia mit dem Tod bestraft. Seit er seine Religion gewechselt habe, hätten alle seine Verwandten und Brüder den Kontakt mit ihm abgebrochen. Der BF sei als ältester Bruder beschuldigt worden, seinen Bruder missioniert zu haben. Ein weiterer Cousin sei in Österreich Protestant geworden. Dieser habe für den BF beim Arztbesuch gedolmetscht, wobei ihm eine Besserung des Zustandes des BF aufgefallen sei. Der BF habe ihn davon informiert, in letzter Zeit eine Kirche zu besuchen, wodurch es ihm seelisch bessergegangen sei. Er habe auch über die christlichen Einrichtungen erzählt. Irgendwann habe auch dieser Cousin Interesse für eine andere Religion gezeigt und die Kirche besucht. Zur Glaubensrichtung seines Cousins war dem BF nur in Erinnerung, dass es sich um Christentum protestantischer Ausprägung gehandelt habe. Der BF rechtfertigte dies damit, seine Muttersprache fast nicht schreiben und lesen könne, und nicht viel nachzufragen.
Er habe vor ca. 17,5 Jahren XXXX in Kabul geheiratet, mit der er drei gemeinsame Kinder habe. Seit rund 10 Monaten lebe seine Familie auf der griechischen Insel Lesbos. Auf Grund des fast täglichen Kontakts sei ihnen bekannt, dass der BF seine Religion gewechselt habe. Anfangs sei seine Ehefrau dagegen gewesen. Sie habe jedoch nach Erzählungen des BF über das Christentum, wodurch er den Weg zur Freiheit und Frieden gefunden habe, irgendwann Verständnis gezeigt. Dies sei nur unter der Bedingung geschehen, dass er sie nicht zur Konversion zwinge. Als Vater werde er seinen Kindern den richtigen Weg empfehlen. Wie sich seine Kinder entscheiden würden, darauf habe er keinen Einfluss, weil jeder seinen Weg selbst wählen könne. Seine Kinder seien noch minderjährig. Bei Volljährigkeit könnten sie sich selbst entscheiden. Er zwinge sie nicht, informiere sie aber. Der BF legte eine Heiratsurkunde vor.
Er habe insgesamt ca. 3 Jahre lang in seinem Heimatdorf eine Schule besucht. Eine offizielle Ausbildung habe er nicht. Er habe im Baubereich gearbeitet. Er habe nur als Aushilfe im Baubereich begonnen und als Schweißer und Maurer gearbeitet. Er habe mit einem Geschäftspartner auch ein Teppichgeschäft gehabt. Er sei Hazara, nunmehr Christ und spreche Dari sowie ein wenig Deutsch. Seine konservative und religiöse Kernfamilie gehöre zu den schiitischen Muslimen, die regelmäßig die Moschee besuchen, fasten sowie allen religiösen Pflichten der Schiiten nachkommen würden. Jetzt wisse er genau, dass Mohamad nur Kriege geführt und Menschen getötet habe. Wie zu damaligen Zeiten herrsche immer noch Krieg in muslimischen Ländern. Die Religion sei auf diese Weise gegründet worden. In Kabul sei ein Anschlag auf ein Krankenhaus verübt worden, bei dem unschuldige Kinder getötet worden seien. Am Anfang habe Mohamad den bedürftigen Menschen geholfen, sei aber dann ausnützen wollen. Er habe den ganzen Reichtum seiner Ehefrau für Kriegszwecke verwendet. Wenn er genug Leute gehabt habe, um Kriege zu führen, habe er auf die armen Leute vergessen. In Afghanistan herrsche noch immer Krieg, weil die Religionsführer – Imame – die Leute aufhetzen würden. Er kenne keine liberale islamische Richtung. Zwar gebe es schon einige liberale Muslime, die aber keine Macht hätten. Islam sei für ihn eine Religion, welche nur mit Krieg zu verbinden sei. Er verleugne Mohamad, weil er dieselben Kriege - wie sie jetzt geführt würden – verfolgt habe. Der christliche Gott Vater würde die Gläubigen lieben und nie etwas Böses machen. Im Islam werde Gott als Allah bezeichnet. Der christliche Gott Vater habe nie von Konflikt gesprochen und in der Bibel stehe nicht, dass Leute umgebracht werden sollten und Kriege geführt werden müssten. Es gebe nur Frieden und Liebe. An diesen christlichen Gott Vater glaube er. Jesus Christus sei selbst Gott. Er habe die Leute zu sich genommen und gesagt, er sei der richtige Weg. Jesus Christus sei selbst ein Gott, der durch eine Jungfrau auf die Welt gekommen sei. Er lebe ewig und sei nicht verstorben. Mohamad sei verstorben, ihn gebe es nicht mehr. Jesus sei nach 3 Tagen wieder auferstanden, er habe sich wegen der Sünden geopfert. Er sei von Anfang bis jetzt da und im Himmel. Mohamad sei wie ein normaler Mensch verstorben. Jesus Christus sei nicht wie ein normaler Mensch verstorben. Er sei überall anwesend, immer bei ihnen, habe Macht über alle und sorge für das Wohl und ihre Gesundheit. Auf den Vorhalt, warum es dann eine Pandemie gebe, führte der BF aus, dass man nicht sagen könne, wenn die Pandemie da sei, sei Gott nicht da. Er sorge dafür, dass die Menschen wieder gesundwürden. Menschen kämen auf die Welt und gingen irgendwann wieder weg. Die Menschen seien nicht ewig auf der Welt. Das ewige Leben sei bei Gott und sie müssten zurück zu ihm. Das ewige Leben befinde sich bei Gott im Paradies. Diejenigen, die an Jesus Christus glauben würden, kämen dorthin. Wenn man wirklich seelisch von ganzem Herzen an Jesus Christus glaube, komme man ins Paradies. Der BF nannte in diesem Zusammenhang die 10 Gebote und gab an, dass keine Zeit für Böses bleibe, wenn man an Jesus Christus glaube. Es gebe nur einen Gott, der für die Gläubigen in drei Erscheinungsformen auftrete, nämlich Gott Vater, Jesus Christus und der Heilige Geist. Der BF zählte wichtige christliche Feiertage auf. Die Taufe sei ein wichtiger Schritt, wenn man Christ werde. Wenn man von ganzem Herzen an Jesus Christus glaube, werde man getauft. Mit der Taufe zeige er der Öffentlichkeit, dass er offiziell an Jesus Christus glaube und Christ sei. Er habe mehrere Religionskurse besucht und sei am 15.12.2018 getauft worden. Die Kurse seien auf Farsi abgehalten worden wie die Gottesdienste in seiner Kirche. Es kämen nur wenig einheimische Christen, daher werde nur auf Farsi gebetet und im Allgemeinen dann vom Pfarrer auf Deutsch übersetzt.
Befragt, wie er zur iranisch-christlichen Gemeinde gekommen sei, gab der BF an, dass er im Flüchtlingsheim Mitbewohner gehabt habe, die auch konvertiert seien. Als damaliger noch muslimischer Asylwerber habe er auf christliche Konvertiten noch ganz anders reagiert, Schimpfwörter verwendet und Konvertiten als Verräter bezeichnet. Sie hätten in der Folge immer wieder über Religionen diskutiert, wobei damals seine Reaktion meist negativ gewesen sei. Aber die beiden Mitbewohner bzw. Freunde seien sehr ruhig und geduldig gewesen und hätten mit einem Lächeln geantwortet. Sie hätten ihm gegenüber Verständnis gezeigt, zumal ihm unbekannt sei, war Jesus Christus für die Menschen gemacht habe und wer er wirklich sei. Einer seiner Freunde sei schon in Afghanistan konvertiert. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe der BF vor den Taliban wegen seines Religionswechsels Angst. Bei einer Rückkehr hätte er sogar vor seine Kernfamilie Angst. Seit seinem Glaubenswechsel habe er zu Verwandten in Afghanistan keinen Kontakt mehr.
In Österreich habe er verschiedene Deutschkurse besucht, die Sprache gelernt und ehrenamtlich beim Magistrat und bei der Caritas gearbeitet. Vor der Coronakrise sei er regelmäßig am Samstag zum Gottesdienst gegangen. Jetzt finde kein Gottesdienst statt. Im Internet habe er einen Radiosender namens Azad gefunden. Das sei ein afghanischer Sender, der Themen zum Christentum und zur Bibel behandle. Wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsse, würde er seine Religion auf keinen Fall verleugnen. Er würde als Christ dort weiterleben. Im Fall der Zuerkennung des Asylstatus habe er die mündliche Zusage für eine Arbeit beim Magistrat als Reinigungskraft.
Der als Zeuge einvernommene XXXX gab an, die Funktion des Pastors in der Iranisch-Christlichen Gemeinde in Wien einzunehmen. Es handle sich um eine von der Republik Österreich anerkannte Freikirche. Es bestehe eine große Nähe zur evangelischen Kirche. Im Unterschied zur lutheranischen Kirche gebe es aber keine Kindertaufe. Es würden nur die Erwachsenentaufen durchführen, da Erwachsene den Glauben verstehen würden. Der BF sei erstmals im August 2017 zur Iranisch-Christlichen Gemeinde in Wien gestoßen. Der farsisprachigen Gottesdienst am Samstag sei vom BF regelmäßig besucht worden. Der Taufkurs bestehe aus 2 Einheiten im Ausmaß von 10 Wochen und 4 Monaten. Der Täufling habe auch nach der Taufe den Anwesenden über sein Glaubenszeugnis zu berichten. Der BF habe über seinen Werdegang zum christlichen Glauben erzählt. Er habe ausgeführt, dass er eigentlich ursprünglich gegen die Konversion seiner Freunde gewesen sei und sich schließlich durch die freundliche und positive Art seiner konvertierten Freunde überzeugen lassen habe. Diese positive Ausstrahlung habe ihn überzeugt. Da bei ihren Feiern sehr viele Lieder im Gottesdienst gesungen würden, sei ihm auch eine positive Ausstrahlung vermittelt worden, die den BF begeistert habe. Der BF habe seit August 2017 regelmäßig die Gottesdienste, Veranstaltungen und Taufvorbereitungskurse besucht. Diese regelmäßigen Besuche würden eine gewisse Treue zum Glauben zeigen. Er habe auch mit dem BF persönlich gesprochen und Glaubensthemen erörtert. Es seien Themen erörtert worden, die für Personen mit muslimischen Glauben schwer verständlich seien und schwer akzeptiert werden können. Dies betreffe die Liebe des Feindes, die Dreieinigkeit und die Stellung von Jesus Christus als Sohn Gottes. Man bekomme im Laufe der Zeit ein Gespür dafür, wie vom Gegenüber der Glaube aufgenommen und angenommen werde. Im Zuge der Gespräche, die mit dem BF auf Farsi geführt worden seien, habe er den Eindruck gewonnen, dass er den christlichen Glauben verinnerlicht habe. Der BF habe diesen Wandel sicher nicht vor dem Hintergrund vorgenommen, den Asylstatus zu erreichen. Der BF unterdrücke auch nicht seine Meinung. Er pflege offen über seinen Standpunkt mit anderen zu sprechen. Selbst im Bekanntenkreis sei publik, dass der BF zum Christentum konvertiert sei. Der BF sei auch nach der Taufe weiter zu den kirchlichen Veranstaltungen gekommen. Bei hohen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten sei er immer anwesend und beteilige sich aktiv. Der BF nehme auch an der Gemeinschaft der afghanischen Christen, in der er sich besonders wohl fühle, teil. Diese fänden außerhalb der wöchentlichen Treffen statt. Befragt, warum er glaube, dass der BF den Glaubenswechsel vorgenommen habe, gab der Zeuge an, dass das freundliche und friedliche sowie positive Verhalten der Glaubensgemeinschaft der Iranisch-Christlichen Gemeinde den BF überzeugt habe. Außerdem habe er bereits konvertierte Christen gekannt, die auf ihn eine sehr positive Ausstrahlung gehabt hätten. Auch der Friede, der in der Iranisch-Christlichen Gemeinde vorherrsche und die liebevolle Begegnung untereinander mit Respekt und Achtung hätten den BF beeindruckt. Selbst die unterschiedlichen Volksgruppen (Afghanen und Iraner) könnten friedlich und mit Respekt umgehen. Der BF besuche weiter ihre Veranstaltungen. Dass es aufgrund der Coronakrise zu keinen Veranstaltungen gekommen wäre, sei nicht von der iranisch-christlichen Gemeinde beabsichtigt gewesen. Er glaube nicht, dass sich der BF bei Erlangung des Asylstatus vom Glauben abwenden würde. Der BF sei von einer derart tiefen Überzeugung, dass er sich sicher nicht nach Erlangung des Asylstatus vom christlichen Glauben abwende. Sollte seine Familie nach Österreich kommen, werde er sie auch in die Iranisch-Christlichen Gemeinde einführen. Es werde allerdings von ihm die Freiheit von seiner Frau und seinen Kindern respektiert, nach eigener Überzeugung einen Religionswechsel zu vollziehen.
Die rechtliche Vertretung des BF führte aus, dass vom ursächlichen Fluchtgrund abgesehen der BF mittlerweile als praktizierender Christ in Österreich lebe. Er sei nach Absolvierung eines Glaubenskurses am 15.12.2018 getauft worden und habe glaubhaft gemacht, dass er auch in Afghanistan seinen neuen Glauben nicht verleugnen würde. Verfolgungshandlungen aufgrund seinen Konversion zum Christentum würden dem BF in Afghanistan sowohl von Seiten der Taliban als auch von der konservativ eingestellten islamischen Gesellschaft drohen.
Im Zuge der Verhandlung wurde vom BF ein Konvolut an Unterlagen, darunter Arbeitsbestätigungen, ein Zertifikat über die bestandene Deutschprüfung auf Niveau A2 sowie Unterstützungserklärungen und Fotos, die den BF bei Festen in der Pfarrgemeinde zeigen, vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zum Beschwerdeführer:
Der BF stammt aus dem Dorf XXXX , Bezirk XXXX , in der afghanischen Provinz Ghazni.
Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekannte sich vor seiner Ausreise aus Afghanistan zum muslimischen Glauben schiitischer Ausprägung. Er ist dort in einer religiösen konservativen muslimischen Familie mit Geschwistern aufgewachsen. Der BF spricht Dari, hat eine dreijährige Schulausbildung und Berufserfahrung in Afghanistan erworben.
Er hat in Kabul geheiratet und hat mit seiner Ehefrau drei Kinder.
Der BF ist in Österreich illegal eingereist und stellte im September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er hat in Österreich ein Niveau A2 in der deutschen Sprache erworben und regelmäßig gemeinnützig bei der Magistratsabteilung in Wien gearbeitet.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der ursprünglich vom schiitisch muslimischen Glauben geprägte BF hat sich in Österreich von seinem muslimischen Glauben abgewandt und den christlichen Glauben protestantischer Ausprägung der Iranisch Christlichen Kirche angenommen. Nach Absolvierung von Taufkursen wurde der BF am 15.12.2018 in der Iranisch-Christlichen Gemeinde in Wien getauft. Der BF praktiziert seinen Glauben aktiv in Österreich durch Besuch von Gottesdiensten und Veranstaltungen. Der nunmehrige christliche Glaube protestantischer Ausprägung der Iranisch Christlichen Kirche des BF fußt auf seiner inneren Überzeugung.
Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner in Österreich erfolgten Abkehr vom schiitisch-muslimischen Glauben und seiner Hinwendung zum Christentum protestantischer Ausprägung der Iranisch Christlichen Kirche eine Verfolgung aus religiösen Gründen.
1.2.Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 13.11.2019, Letzte Information eingefügt am 21.7.2020)
Politische Lage
Letzte Änderung: 18.5.2020
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).
Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).
Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).
Das Abkommen mit den US-Amerikanern
Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).
Die Sicherheitslage im Jahr 2019
Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).
Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).
Zivile Opfer
Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).
Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).
(UNAMA 2.2020)
Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).
Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).
Regierungsfeindliche Gruppierungen
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):
Taliban
Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).
Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Haqqani-Netzwerk
Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).
Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).
Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).
49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).
Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).
Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).
Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen
Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).
Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).
Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).
Kabul
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).
Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).
Kabul-Stadt – Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).
Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).
In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):
2019
2020 (bis 31.3.2020)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
GIM
Vorfälle
ACLED
Vorfälle (>= 1 Tote)
Bagrami
1
1