TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/21 W246 2141487-1

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Veröffentlicht am 21.09.2020
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Entscheidungsdatum

21.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z4
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W246 2141487-1/80E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Heinz VERDINO als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (alias XXXX alias XXXX alias XXXX ), geb. XXXX (alias XXXX alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2016, Zl. 15-1073294201-150658092, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen und der Spruch des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe bestätigt, dass er zu lauten hat:

„I. Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 und 3 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG sowie § 9 BFA-VG wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung erlassen. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm § 50 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist.“

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der – zum damaligen Zeitpunkt minderjährige – Beschwerdeführer reiste illegal nach Österreich ein und stellte am 11.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 12.06.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des – zu diesem Zeitpunkt noch minderjährigen – Beschwerdeführers statt.

Dabei gab der Beschwerdeführer an, dass die Taliban im Jahr 2014 in seine Schule gekommen seien, um den Beschwerdeführer zu einem Selbstmordanschlag zu überreden. Der Beschwerdeführer habe dem zugestimmt und in der Folge einen Sprengstoffgürtel bekommen. Auf dem Weg zum Anschlagsort, einem Flughafen, habe er sich jedoch dazu entschieden, den Sprengstoffanschlag nicht zu begehen, weil er nicht habe sterben wollen. Daraufhin sei er aus Afghanistan ausgereist und nach Europa gelangt.

3. In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 10.11.2016 führte der – zu diesem Zeitpunkt bereits volljährige – Beschwerdeführer aus, dass die Taliban ihn entführt und 20 Tage lang gefangen gehalten hätten. In dieser Zeit sei der Beschwerdeführer gegen seinen Willen ausgebildet und ihm u.a. beigebracht worden, wie man ein Maschinengewehr benütze. Es sei geplant gewesen, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit anderen Personen einen Anschlag, konkret ein Selbstmordattentat am Flughafen in XXXX , verüben sollte. In einem unbeobachteten Moment sei dem Beschwerdeführer aber die Flucht vor den Taliban gelungen. In der Folge sei er zu einem Freund seines Vaters gelangt, bei dem er zunächst ca. eineinhalb Monate verbracht habe. Danach habe dieser Freund seines Vaters gemeint, dass sie zur Polizei gehen sollten, was sie dann auch gemacht hätten. Bei der Polizei sei dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden, dass er eine Waffe nehmen und gegen die Taliban kämpfen solle. Sechs oder sieben Tage später sei ein erster Drohbrief gekommen, datiert mit XXXX , zwei Tage nach diesem Brief sei der Beschwerdeführer aus Afghanistan ausgereist. In der Folge sei noch ein zweiter Drohbrief gekommen, datiert mit XXXX . In beiden Drohbriefen sei der Freund des Vaters des Beschwerdeführers dazu aufgefordert worden, den Beschwerdeführer an die Taliban zu übergeben.

In seiner Einvernahme legte der Beschwerdeführer Kopien u.a. folgender Unterlagen vor:

?        Anzeige bei der Polizei

?        Schreiben an die Dorfältesten

?        Antwortschreiben der Dorfältesten

?        zwei Drohbriefe

?        zwei Bestätigungen eines afghanischen Krankenhauses über medizinische Behandlungen

?        Tazkira

?        Reisepass

?        mehrere medizinische Unterlagen von Behandlungen in Österreich

?        Bestätigung über die Schulbesuchsberechtigung

?        Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen

?        Teilnahmebestätigung am Kurs „Basisbildung – Sicher im Alltag. Fit für Ausbildung und Beruf“

?        mehrere Bestätigungen über ehrenamtliche Tätigkeiten als Übersetzer für afghanische Jugendliche bei Arztbesuchen sowie Behördenwegen und für afghanische Familien bei Kindergarten- sowie Schulangelegenheiten

?        Bestätigung über ehrenamtliche Tätigkeit bei der „Tafel“ des Roten Kreuzes

?        Bestätigung über Mithilfe bei der Veranstaltung „Miteinander unterwegs“ des Alpenvereins, bei der Kinderuni XXXX und beim „Generationenwandertag“

?        Bestätigung über die Gestaltung einer Radiosendung eines lokalen Radiosenders

?        Bestätigung eines Volleyballvereins über seine wöchentliche Teilnahme

?        mehrere Empfehlungsschreiben hinsichtlich der guten Integration des Beschwerdeführers in Österreich

?        mehrere Fotos, die den Beschwerdeführer bei unterschiedlichen Tätigkeiten in Österreich zeigen

4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 leg.cit. (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit. erteilt, ihm gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016, erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einer Beschwerde gegen diesen Bescheid nach § 18 Abs. 1 Z 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, die aufschiebende Wirkung ab.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen den oben genannten Bescheid fristgerecht Beschwerde. Dabei legte er u.a. eine Schulbesuchsbestätigung vor.

6. Mit Schreiben vom 14.12.2016 übermittelte eine Übersetzerin dem Bundesverwaltungsgericht die von diesem in Auftrag gegebenen Übersetzungen der vom Beschwerdeführer in seine Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegten Dokumente (Anzeige bei der Polizei, Schreiben an die Dorfältesten, Antwortschreiben der Dorfältesten, zwei Drohbriefe, zwei Bestätigungen eines afghanischen Krankenhauses über medizinische Behandlungen). Diese Übersetzungen wurden den Parteien vom Bundesverwaltungsgericht in der Folge übermittelt.

7. Mit Beschluss vom 15.12.2016, Zl. W246 2141487-1/7Z, erkannte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 25/2016, zu. Dabei führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine Entscheidung innerhalb der relativ kurzen Frist des § 16 Abs. 4 leg.cit. nicht getroffen werden könne. Der Beschwerdeführer mache mit seinen Ausführungen ein reales Risiko einer Verletzung der hier zu berücksichtigenden Konventionsbestimmungen geltend.

8. In seiner Stellungnahme vom 08.01.2017 führte der Beschwerdeführer im Wege seines damaligen Rechtsvertreters im Wesentlichen aus, dass es dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit seinen Ausführungen im angefochtenen Bescheid nicht in nachvollziehbarer Weise gelungen sei, die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und die Asylrelevanz seiner Fluchtgründe zu widerlegen. Abgesehen davon wäre dem Beschwerdeführer aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage in Afghanistan und der Gefahr einer existenzbedrohenden Lage der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, zumal auch eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung stünde.

9. Mit – dem in der Folge in Rechtskraft erwachsenen – Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 09.10.2017 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15 Abs. 1, 75 StGB zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

10. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen der Verbrechen

?        der kriminellen Organisation gemäß § 278a Z 1 StGB,

?        der terroristischen Vereinigung gemäß § 278b Abs. 2 leg.cit. und

?        der Ausbildung für terroristische Zwecke gemäß § 278e Abs. 2 leg.cit.
– vorerst nicht rechtskräftig – zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil erhob der Beschwerdeführer Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof.

11. Mit Schreiben vom 19.07.2018 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den Obersten Gerichtshof, alle für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht relevanten Aktenteile des Strafaktes hinsichtlich des Urteils des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018 in Kopie zu übermitteln.

12. Der Oberste Gerichtshof gab mit Schreiben vom 27.07.2018 bekannt, dass sich der betreffende Strafakt aktuell bei der Generalprokuratur zur Stellungnahme befinden würde.

13. Mit Schreiben vom 10.08.2018 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Generalprokuratur, alle für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht relevanten Aktenteile des Strafaktes hinsichtlich des Urteils des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018 in Kopie zu übermitteln.

14. Die Generalprokuratur gab mit Schreiben vom 22.08.2018 bekannt, dass der betreffende Strafakt mittlerweile wieder an den Obersten Gerichtshof rückübermittelt worden sei.

15. Der Oberste Gerichtshof legte dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 30.08.2018 die angeforderten Kopien des o.a. Strafaktes vor.

16. Mit Beschluss vom 02.10.2018, Zl. W246 2141487-1/36E, setzte das Bundesverwaltungsgericht das vorliegende Beschwerdeverfahren gemäß § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens des Landesgerichtes XXXX zur Zl. XXXX (Urteil vom 02.05.2018) aus.

Dabei führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass von der Frage, ob der Beschwerdeführer ein Mitglied der Taliban gewesen sei und für diese ein Selbstmordattentat verüben hätte sollen (s. die diesbezüglichen Feststellungen im Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018), die vom Bundesverwaltungsgericht vorzunehmende Beurteilung des Vorliegens von asylrelevanter Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention abhänge. Darüber hinaus wäre durch eine rechtskräftige Verurteilung im soeben angeführten Strafverfahren unter Umständen ein Asylausschlussgrund nach § 6 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 56/2018, gegeben. Die Frage, ob der Beschwerdeführer wegen der ihm vorgeworfenen Straftat verurteilt werde, stelle daher im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren in zweifacher Hinsicht eine Vorfrage iSd § 38 zweiter Satz AVG dar. Das Abwarten der rechtskräftigen Entscheidung im angeführten strafgerichtlichen Verfahren erscheine zweckmäßiger als eine Beurteilung der Vorfrage nach § 38 erster Satz AVG durch das Bundesverwaltungsgericht selbst.

17. Der Oberste Gerichtshof wies mit Beschluss vom 11.10.2018 die Nichtigkeitsbeschwerde im Verfahren gegen das Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018 zurück.

18. Mit ihrer Anfragebeantwortung vom 13.03.2019 zur „Verfolgung durch Taliban nach abgebrochenem Sprengstoffanschlag“ antwortete die Staatendokumentation auf die vom Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren zuvor übermittelten Fragestellungen (s. im Detail unten unter Pkt. II.1.4.2.).

19. Mit Schreiben vom 14.05.2019 nahm der Beschwerdeführer im Wege seines damaligen Rechtsvertreters zur den Parteien übermittelten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.03.2019 nach zuvor gewährtem Fristerstreckungsersuchen Stellung.

20. Mit Verfahrensanordnung vom 11.07.2019 informierte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführer über den Verlust seines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 53/2019, aufgrund der über ihn zuvor verhängten Untersuchungshaft.

21. Mit Bescheid vom 11.07.2019 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer erneut keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 53/2019, (Spruchpunkt I.), sprach ihm gegenüber neuerlich eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 leg.cit. iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 53/2019, und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 53/2019, (Spruchpunkt II.) aus und stellte gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. erneut fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass nach § 55 Abs. 1a leg.cit. keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt IV.). In Spruchpunkt V. erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegenüber dem Beschwerdeführer nach § 53 Abs. 1 und 3 Z 5 leg.cit. ein unbefristetes Einreiseverbot. Zudem führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 06.04.2017 verloren habe (Spruchpunkt VI.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde (Spruchpunkt VII.).

22. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.07.2019 fristgerecht Beschwerde und regte an, dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

23. Mit Erkenntnis vom 03.09.2019, Zl. W246 2141487-2/2E, gab das Bundesverwaltungsgericht dieser Beschwerde, soweit sie sich gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., V. und VII. des Bescheides vom 11.07.2019 richtete, statt und hob den angefochtenen Bescheid insoweit auf. Im Übrigen wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass aus den anzuwendenden Bestimmungen keine Zuständigkeit des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl abzuleiten sei, während eines offenen Beschwerdeverfahrens das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ (Spruchpunkt I. des Bescheides vom 11.07.2019) und für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) neuerlich zu prüfen sowie erneut eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten iSd § 52 Abs. 2 Z 2 FPG läge unter Umständen erst nach einer etwaigen Abweisung der derzeit anhängigen Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2016 durch das Bundesverwaltungsgericht im zur Zl. W246 2141487-1 protokollierten Beschwerdeverfahren wieder vor.

24. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.02.2020 nach Vorführung des Beschwerdeführers aus der Strafhaft durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes u.a. in Anwesenheit der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers und eines Behördenvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu einer möglichen aktuellen Bedrohung in Afghanistan, seinen persönlichen Umständen in Afghanistan und seinem Leben in Österreich befragt wurde.

Der Beschwerdeführer legte in der Verhandlung mehrere Unterstützungsschreiben seine Person betreffend vor.

25. Mit Schreiben vom 06.03.2020 nahm der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertreterin u.a. zu dem vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterial Stellung.

26. Mit ihrer Anfragebeantwortung vom 06.04.2020 zu „Informationen über strafrechtliche Verurteilung in Österreich an afghanische Behörden“ antwortete die Staatendokumentation auf die vom Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren zuvor übermittelten Fragestellungen (vgl. im Detail unten unter Pkt. II.1.4.3.).

27. Mit Schreiben vom jeweils 06.04.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.04.2020 sowie weiteres Länderberichtsmaterial (u.a. die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.01.2019 zum Verbot der Doppelbestrafung) mit der Möglichkeit zur Stellungnahme bis 01.06.2020. Dabei hielt das Bundesverwaltungsgericht u.a. fest, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (allenfalls im Wege einer Videokonferenz) bis 01.06.2020 zu beantragen wäre, sofern die Erörterung dieses eingeführten Länderberichtsmaterials für notwendig erachtet werde.

28. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm mit Schreiben vom 25.05.2020 zu dem vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterial Stellung.

29. Mit Schreiben vom 29.05.2020 nahm der Beschwerdeführer im Wege seiner Rechtsvertreterin zu dem vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Länderberichtsmaterial Stellung.

30. Das Bundesverwaltungsgericht führte im Hinblick auf die Lage in Afghanistan bezüglich der weltweiten COVID-19-Pandemie mit Schreiben vom 08.07.2020 und 23.07.2020 die aktuellen Länderinformationsblätter der Staatendokumentation in das Verfahren ein und gab den Parteien dahingehend Gelegenheit zur Stellungnahme.

31. Der Beschwerdeführer nahm mit Schreiben vom 13.08.2020 im Wege seiner Rechtsvertreterin zum zuletzt vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten Länderberichtsmaterial Stellung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu der Person des Beschwerdeführers, seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat, seiner Ausreise aus Afghanistan und seinem gesundheitlichen Zustand:

Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann, der nicht verheiratet und kinderlos ist. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu, er spricht auch Urdu, Dari und Englisch, wenn auch nicht auf demselben Niveau wie Paschtu.

Er führt den Namen XXXX und ist am XXXX in einem Dorf in der Provinz XXXX in Afghanistan geboren und in der Folge auch aufgewachsen. Er besuchte in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule und übte dort keine berufliche Tätigkeit aus.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge nach Österreich, wo er am 11.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, die sich beide in Afghanistan aufhalten. Der Beschwerdeführer steht regelmäßig mit seinem Bruder in Kontakt. Der Beschwerdeführer hat weitere Familienangehörige in Afghanistan, mit denen er nicht in Kontakt steht.

Der Beschwerdeführer leidet schon seit längerem an Rücken- und Bauchschmerzen, wogegen er Medikamente einnimmt. Beim Beschwerdeführer wurde im Oktober 2017 im Rahmen eines Strafverfahrens eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, woraufhin er diesbezüglich für ca. ein Jahr medikamentös behandelt wurde. Der Beschwerdeführer nimmt seit ca. zwei Jahren diesbezüglich keine Medikamente mehr ein. Seit ca. Anfang des Jahres 2019 nimmt der Beschwerdeführer im Zuge seiner Strafhaft immer dann die psychologische Beratung in der Justizanstalt XXXX in Anspruch, wenn es ihm schlecht geht und er sich eingeengt fühlt.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung im Juni 2015 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 rechtmäßig im Bundesgebiet. Er nahm ab seiner Einreise bis April 2017 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung in Anspruch.

Er war nach seiner Einreise in Österreich zunächst sichtlich um eine gute Integration bemüht: Dies zeigte sich zunächst v.a. in den von ihm besuchten Deutschkursen (er spricht ein zwar einfaches, aber gut verständliches Deutsch), dem von ihm absolvierten Kurs „Basisbildung – Sicher im Alltag. Fit für Ausbildung und Beruf“) und seinem Schulbesuch. Weiters war der Beschwerdeführer in Österreich mehrfach ehrenamtlich tätig (Übersetzungen für afghanische Jugendliche bei Arztbesuchen sowie Behördenwegen und für afghanische Familien bei Kindergarten- sowie Schulangelegenheiten; Teilnahme an der „Tafel“ des Roten Kreuzes; Mithilfe bei der Veranstaltung „Miteinander unterwegs“ des Alpenvereins, bei der Kinderuni XXXX und beim „Generationenwandertag“) und ist auch aktuell im Rahmen seiner Strafhaft als „Maurer“ tätig. Der Beschwerdeführer war auch sonst gesellschaftlich in Österreich sehr aktiv (Gestaltung einer Radiosendung bei einem lokalen Radiosender; Teilnahme in einem Volleyballverein) und hat mehrere österreichische Freunde und Bekannte, die ihn auch in der nunmehr von ihm verbüßten Strafhaft regelmäßig besuchen und ihn nach wie vor unterstützen. Der Beschwerdeführer pflegt in Österreich insbesondere zu seiner „Pflegemutter“, die auch bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anwesend war, und ihrer Kernfamilie ein sehr enges Verhältnis (geschwisterähnliches Verhältnis zu ihren Kindern; gemeinsames Zusammenwohnen vor seiner Strafhaft; starke emotionale Bindung).

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 09.10.2017 wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15 Abs. 1, 75 StGB rechtskräftig zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe als junger Erwachsener verurteilt: Der Beschwerdeführer hat versucht, eine andere Person zu töten, indem er zunächst mit einem Jausenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 11 cm einen Stich gegen ihren Körper geführt hat. Aufgrund der Abwehrbewegung dieser anderen Person traf der Beschwerdeführer lediglich ihren Unterarm, woraufhin der Beschwerdeführer einen gezielten, wuchtigen Stich gegen den Hinterkopf dieser anderen Person ausführte, wobei die Klinge des Jausenmessers stark deformiert wurde und es nur glücklichen Umständen zu verdanken ist, dass die Klinge des Jausenmessers nicht durch den Schädelknochen in das Gehirn dieser anderen Person eindrang bzw. ein großes Blutgefäß verletzte.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 02.05.2018 wurde der Beschwerdeführer wegen der Verbrechen

?        der kriminellen Organisation gemäß § 278a Z 1 StGB,

?        der terroristischen Vereinigung gemäß § 278b Abs. 2 leg.cit. und

?        der Ausbildung für terroristische Zwecke gemäß § 278e Abs. 2 leg.cit.

rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt (s. Pkt. II.1.3.1.).

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.3.1. Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 2014 begaben sich Vertreter der Terrormiliz Taliban zur Schule des Angeklagten in XXXX , Afghanistan, um Mitglieder für ihre Organisation zu rekrutieren. So fragten sie auch den Beschwerdeführer, ob er für sie einen Anschlag mit einem Sprengstoffgürtel auf einem US-Flughafen begehen würde, womit der Beschwerdeführer einverstanden war.

Um die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse zu erlernen, verbrachte der Beschwerdeführer in der Folge einige Zeit bei den Taliban, wo er eine umfassende Waffenausbildung erhielt und er im Umgang mit dem Maschinengewehr und dem Sprengstoffgürtel gelehrt wurde. Zudem erhielt er eine Nahkampfausbildung. Während seines Aufenthaltes bei den Taliban wurden von ihm Fotos, auf denen er mit einer Kalaschnikow und einem Sprengstoffgürtel posiert, angefertigt und von den Taliban ins Internet gestellt.

Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 2014 oder 2015 sollte der Beschwerdeführer den geplanten Sprengstoffanschlag auf den Flughafen verüben, wobei er auf dem Weg zum Zielobjekt den Entschluss fasste, den Anschlag nicht zu begehen. Er entledigte sich in der Folge des Sprengstoffgürtels und floh mit der Hilfe eines Freundes seines Vaters aus Afghanistan.

Der Beschwerdeführer wusste, dass er sich durch seine Bereitschaft, sich in einem Lager der Taliban im Umgang mit Waffen und Sprengstoffgürteln ausbilden zu lassen und namens der Taliban ein Sprengstoffattentat auf einen US-Stützpunkt zu verüben, an einer kriminellen Organisation beteiligte und dadurch die terroristische Vereinigung „Taliban“ unterstützte.

1.3.2. Nachdem der Beschwerdeführer sich des Sprengstoffgürtels entledigt hatte und von den Taliban weggegangen war, begab er sich zu einem Freund seines Vaters, bei dem er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan aufhältig war. Der Beschwerdeführer und der Freund seines Vaters gingen in der Folge zur Polizei in seinem Heimatdistrikt, wo der Beschwerdeführer eine Anzeige gegen die Taliban erstattete. In weiterer Folge wurde ein Drohbrief der Taliban (datiert mit XXXX ) beim Freund des Vaters des Beschwerdeführers hinterlegt, in dem dieser dazu aufgefordert wurde, den Beschwerdeführer an die Taliban zu übergeben, und in dem der Beschwerdeführer dazu angehalten wurde, sich innerhalb von zehn Tagen bei den Taliban zu melden. Daraufhin reiste der Beschwerdeführer aus Afghanistan aus und gelangte nach Europa. Nach der Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan bekam der Freund seines Vaters einen weiteren Drohbrief (datiert mit XXXX ), in dem dieser dazu aufgefordert wurde, aufgrund der nicht erfolgten Übergabe des Beschwerdeführers einen Geldbetrag zu zahlen, und in dem bekannt gegeben wurde, die Taliban seien dazu beauftragt worden, den Beschwerdeführer zu vernichten.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aktuell nicht die Gefahr, aufgrund der Nichtdurchführung des geplanten Sprengstoffanschlags und seiner Ausreise aus Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt seitens der Taliban bzw. aufgrund seiner Tätigkeit für die Taliban strafgerichtlicher Verfolgung oder sonstiger Maßnahmen seitens der afghanischen Behörden/Gerichte ausgesetzt zu sein.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 mit Aktualisierungen bis 21.07.2020 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will diePräsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Sicherheitsbehörden

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF – Afghan National Defense and Security Forces) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte (CIA 13.5.2019).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (USDOS 11.3.2020). Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt (USDOD 12.2018).

Die autorisierte Truppenstärke der ANDSF wird mit 382.000 beziffert. Die autorisierte Stärke des MoD beträgt 227.103 Mann, während die autorisierte Stärke des MoI 154.626 beträgt. Die ALP zählt mit einer Stärke von 30.000 Leuten als eigenständige Einheit (USDOD 12.2019). Die zugewiesene (tatsächliche) Truppenstärke der ANDSF soll jedoch nur 272,807 betragen. Die Truppenstärke ist somit seit dem Beginn der RS-Mission im Jänner 2015 stetig gesunken. Der Rückgang an Personal wird allerdings auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll (SIGAR 30.1.2010; vgl. SIGAR 30.7.2019; NYT 12.8.2019). Gewisse Daten wie z.B. die Truppenstärke einzelner Einheiten werden teilweise nicht mehr publiziert (USDOD 30.1.2020).

Die Anzahl der in der ANDSF dienenden Frauen hat sich erhöht (USDOD 12.2019). Nichtsdestotrotz bestehen nach wie vor strukturelle und kulturelle Herausforderungen, um Frauen in die ANDSF und die afghanische Gesellschaft zu integrieren (USDOD 6.2019). Die derzeitige Anzahl an Frauen, die in der ANA und der ANP dienen, beträgt etwa 4.484 sowie 432 Frauen, die in zivilen Bereichen tätig sind (USDOD 12.2019).

Afghanische Nationalarmee (ANA)

Die ANA ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen (USDOS 11.3.2020). Das Verteidigungsministerium hat die Stärke der ANA mit 227.103 autorisiert (USDOD 12.2019). Soldaten, die zu Vertragsende ihren Dienst verlassen, sind etwa für ein Viertel der monatlichen Ausfallsquoten verantwortlich; während Verluste durch Gefechte nur einen kleinen Prozentsatz der monatlichen Ausfallsquoten ausmachen. Auch glich bei der ANA die Rate der Rekrutierungen die Ausfallsrate aus (USDOD 12.2019).

Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Auch ist sie verantwortlich für die Sicherheit Einzelner und der Gemeinschaft sowie auch dem Schutz gesetzlicher Rechte und Freiheiten. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA, jedoch ist es nach wie vor das Langzeitziel der ANP, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln (USDOD 12.2019).

Dem Innenministerium (MoI) unterstehen die vier Teileinheiten der ANP: Afghanische Uniformierte Polizei (AUP), Polizei für Öffentliche Sicherheit (PSP, beinhaltet Teile der ehemaligen Afghanischen Polizei für Nationale Zivile Ordnung, ANCOP), Afghan Border Police (ABP), Kriminalpolizei (AACP), Afghan Local Police (ALP), und Afghan Public Protection Force (APPF). Das Innenministerium beaufsichtigt darüber hinaus drei Spezialeinheiten des Polizeigeneralkommandanten (GCPSU), sowie die Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA) (USDOD 12.2019). Der autorisierte Personalstand der ANP beträgt 124,626 (USDOD 12.2019).

Die ALP wird ausschließlich durch die USA finanziert (USDOD 12.2019). Die ANP rekrutiert lokal vor Ort in einer der 34 Rekrutierungsstationen in den Provinzen. Die neuen Rekruten werden zur Polizeiausbildung in eines der zehn regionalen Ausbildungszentren entsandt. Die Polizeiausbildung besteht im Allgemeinen aus einem 8- bis 12-wöchigen Ausbildungskurs. Neben der elementaren Polizeiausbildung mangelt es der ANP an einem institutionalisierten Programm zur Entwicklung von Führungskräften – sowohl auf Distrikt-, als auch auf lokaler Ebene (USDOD 12.2019). Die ALP untersteht dem Innenministerium, der Personalstand wird jedoch nicht den ANDSF zugerechnet (SIGAR 30.4.2019). Die Stärke der ALP, deren Mitglieder auch als „Guardians“ bezeichnet werden, auf rund 30.000 Mann stark geschätzt (USDOD 12.2019). Derzeit dienen etwa 3.077 Frauen (jene, die registriert sind und Anspruch auf ein Grundgehalt haben) in der ANP, wobei 8.898 Stellen für Frauen zur Verfügung stehen. Eine Rekrutierungskampagne, die sich auf den Zuwachs weiblicher Rekruten konzentrierte, führte zu positiven Ergebnissen. Zwischen Juni und September 2019 traten zusätzlich 138 Frauen ihren Dienst bei der ANP an (USDOD 12.2019).

Resolute Support Mission

Die „Resolute Support Mission“ ist eine von der NATO geführte Mission, die mit 1.1.2015 ins Leben gerufen wurde. Hauptsächlich konzentriert sie sich auf Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsaktivitäten auf ministerieller und Behördenebene sowie in höheren Rängen der Armee und Polizei. Die Personalstärke der Resolute Support Mission beträgt 16.000 Mann (durch 39 NATO-Mitglieder und andere Partner). Das Hauptquartier befindet sich in Kabul/Bagram mit vier weiteren Niederlassungen in Mazar-e-Sharif im Norden, Herat im Westen, Kandahar im Süden und Laghman im Osten (NATO 18.7.2018).

Sicherheitslage in den einzelnen Provinzen

Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Nach Schätzung der zentralen Statistikorganisation Afghanistan (CSO) für den Zeitraum 2019-20 leben 1.475.649 Personen in der Provinz Balkh, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif (CSO 2019). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Autobahn, welche zum usbekischen Grenzübergang Hairatan-Termiz führt, zweigt ca. 40 km östlich von Mazar-e Sharif von der Ringstraße ab (TD 5.12.2017). In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (BFA Staatendokumentation 25.3.2019). Im Januar 2019 wurde ein Luftkorridor für Warentransporte eröffnet, der Mazar-e Sharif und Europa über die Türkei verbindet (PAJ 9.1.2019).

Laut dem Opium Survey von UNODC für das Jahr 2018 belegt Balkh den 7. Platz unter den zehn größten Schlafmohn produzierenden Provinzen Afghanistans. Aufgrund der Dürre sank der Mohnanbau in der Provinz 2018 um 30% gegenüber 2017 (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählt zu den relativ stabilen (TN 1.9.2019) und ruhigen Provinzen Nordafghanistans, in welcher die Taliban in der Vergangenheit keinen Fuß fassen konnten (AN 6.5.2019). Die vergleichsweise ruhige Sicherheitslage war vor allem auf das Machtmonopol des ehemaligen Kriegsherrn und späteren Gouverneurs von Balkh, Atta Mohammed Noor, zurückzuführen (RFE/RL o.D.; RFE/RL 23.3.2018). In den letzten Monaten versuchen Aufständische der Taliban die nördliche Provinz Balkh aus benachbarten Regionen zu infiltrieren. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Die Taliban überrannten keines dieser Gebiete (TN 22.8.2019). Einem UN-Bericht zufolge, gibt es eine Gruppe von rund 50 Kämpfern in der Provinz Balkh, welche mit dem Islamischen Staat (IS) sympathisiert (UNSC 1.2.2019). Bei einer Militäroperation im Februar 2019 wurden unter anderem in Balkh IS-Kämpfer getötet (BAMF 11.2.2019).

Das Hauptquartier des 209. ANA Shaheen Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Es ist für die Sicherheit in den Provinzen Balkh, Jawzjan, Faryab, Sar-e-Pul und Samangan zuständig und untersteht der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - North (TAAC-N), welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019). Deutsche Bundeswehrsoldaten sind in Camp Marmal in Mazar-e Sharif stationiert (TS 22.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAM

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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