TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/28 W261 2201941-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.09.2020
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Entscheidungsdatum

28.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W261 2201941-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, Außenstelle Wien vom 28.06.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 06.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 08.11.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, er habe sein Heimatland aufgrund der Taliban verlassen. In seiner Heimat sei er als Soldat tätig gewesen und aufgrund seiner Tätigkeit mit dem Tode bedroht worden. Er habe auch einen Drohbrief erhalten. Die Taliban hätten seinen Cousin mütterlicherseits ermordet, und 15 Tage vor seiner Abreise sei sein Vater entführt worden. Aus Angst um sein Leben sei er gezwungen gewesen, die Flucht zu ergreifen.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 26.06.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX in der Provinz Baghlan, wo er mit seinen Eltern, zwei Brüdern und zwei Schwestern aufgewachsen sei. Der Familie gehe es finanziell gut, sie hätten Grundstücke. Er sei verheiratet und habe keine Kinder. Er wisse nicht, wo sich seine Familie und seine Ehefrau derzeit aufhielten, da er seit der Ausreise keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt habe. Er habe die Schule mit Matura abgeschlossen und sei danach Soldat in der afghanischen Nationalarmee gewesen.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er habe in der Armee eine Einheit von zwölf Personen geführt und später als Bodyguard für den Kommandanten XXXX gearbeitet. Er habe einen Drohbrief der Taliban erhalten, in dem er aufgefordert worden sei, den Kommandanten zu töten und seine Arbeit als Soldat aufzugeben, ansonsten würden er und seine Familie getötet werden. Schon davor habe es mündliche Drohungen der Taliban gegen seine Familie gegeben, die nach einem Grundstücksstreit seiner Mutter mit seinem Onkel und Cousin begonnen hätten. Dieser Onkel habe mit den Taliban gearbeitet und seine Familie an diese verraten. Die Taliban hätten den Vater des Beschwerdeführers wiederholt gefragt, wo dieser sei, und seinen Vater schließlich entführt. Vier Tage später hätten sie auch seinen Cousin, der bei seiner Familie übernachtet habe, getötet, weil sie diesen für den Beschwerdeführer gehalten hätten. Der Beschwerdeführer, der zu diesem Zeitpunkt in Kabul stationiert gewesen sei, habe Afghanistan noch am selben Tag verlassen. Im Rahmen der Einvernahme legte er afghanische Dokumente, den Drohbrief, Fotos aus Afghanistan, Integrationsunterlagen und einen USB-Stick mit einem Video vor.

3. Am 16.05.2018 fand eine weitere Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt, in der er seine Angaben aus der Ersteinvernahme im Wesentlichen aufrecht hielt. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, sein Halbonkel habe wegen eines Grundstücksstreits eine schlechte Beziehung zu ihnen gehabt. Der Sohn dieses Onkels sei ein Taliban gewesen. Er habe die Taliban informiert, dass der Beschwerdeführer in der Armee sei, danach hätten diese den Drohbrief geschickt. Ca. vier Tage vor seiner Ausreise, er sei gerade in Kabul im Dienst gewesen, hätten sie seinen Vater mitgenommen. Dann sei der Sohn eines anderen Onkels zu ihnen gekommen und bei einem Angriff auf ihr Haus getötet worden. Daraufhin sei der Beschwerdeführer ausgereist. Den Drohbrief habe er ca. 14 Tage davor erhalten. Er hätte eine Mine bekommen sollen, um diese in das Auto des Kommandanten zu legen oder diesen auf eine andere Art zu töten. Im Rahmen der Einvernahme legte er weitere Integrationsunterlagen vor.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 28.06.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es sei dem Beschwerdeführer vor dieser nicht gelungen, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Es könne nicht festgestellt werden, dass er in seiner Heimat Afghanistan einer konkreten und gezielt gegen ihn gerichteten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei oder eine solche bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen hätte. Sein Vorbringen sei widersprüchlich und unglaubhaft gewesen. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass er Soldat in der afghanischen Armee gewesen sei. Auch seine Angaben zu seinen Familienmitgliedern, deren Aufenthaltsort und seinem fehlenden Kontakt zu diesen seien unglaubhaft. Der Beschwerdeführer sei volljährig, gesund und arbeitsfähig und habe in Afghanistan die Schule abgeschlossen. Es sei ihm zuzumuten, sich mithilfe der eigenen Arbeitsleistung, gegebenenfalls mit der Unterstützung seiner Familienmitglieder sowie der Rückkehrhilfe den Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Eine Rückkehr nach Kabul sei ausreichend sicher möglich und auch ihm persönlich zumutbar.

6. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 25.07.2018 fristgerecht Beschwerde. Er brachte darin im Wesentlichen vor, die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei nicht nachvollziehbar, da er seine Fluchtgründe möglichst detailliert und ausführlich geschildert habe. Im Asylverfahren sei nicht der volle Beweis gefordert, sondern es genüge die Glaubhaftmachung der asylrelevanten Verfolgung. Die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers sei ohne Zweifel gegeben, da dieser den Sachverhalt vollständig, detailliert und in nachvollziehbarer Weise geschildert habe. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die Behörde davon ausgehe, dass die vorgelegten Unterlagen eine Fälschung seien, ohne dass diese einer Prüfung unterzogen worden seien. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, sowohl aus Sicherheitsgründen, als auch, weil er in Kabul über kein unterstützendes soziales oder familiäres Netzwerk verfüge. Ebenso habe sich die Sicherheitslage in den Städten Herat und Mazar-e Sharif verschlechtert. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung stehe dem Beschwerdeführer daher der Status des Asylberechtigten, zumindest aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

7. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 25.07.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 26.07.2018 in der Gerichtsabteilung W209 einlangte.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19.05.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W209 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 02.06.2020 einlangte.

9. Mit Eingabe vom 03.09.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, die belangte Behörde habe das Verfahren insbesondere durch Verletzung ihrer Ermittlungspflicht und einer grob mangelhaften Beweiswürdigung mit groben Mängeln belastet. Die Behörde lasse den Kern des asylrelevanten Vorbringens weitestgehend außer Acht und habe sich etwa nicht ausreichend mit der Praxis von den Taliban versandter Drohbriefe und den sonstigen vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismitteln auseinandergesetzt. Er sei in der afghanischen Armee tätig gewesen und deshalb von den Taliban verfolgt worden. Aus den UNHCR- und den EASO-Richtlinien gehe hervor, dass (ehemalige) Mitglieder der Streitkräfte von Verfolgung bedroht seien. Nach den dort genannten Kriterien bestehe gerade für den Beschwerdeführer ein hohes Risiko, da er als Leibwächter des Führers des Afghan National Army Special Operations Command (ANASOC) tätig und damit nach außen sichtbar gewesen sei. Überdies drohe ihm im Fall der Rückkehr Haft als strafrechtliche Konsequent seiner Desertion. Die Bedingungen in afghanischen Gefängnissen seien mitunter katastrophal und Folter weit verbreitet, weshalb für diesen Fall von einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK anzunehmen sei. Unabhängig davon sei auch nicht davon auszugehen, dass er Beschwerdeführer, der lediglich über eine Ausbildung als Soldat verfüge und nunmehr desertiert sei, im Fall einer Rückkehr gute Chancen auf einen Job habe. Unter Berücksichtigung der Lage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sowie der COVID-19-Krise stehe ihm daher keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.09.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung teil. Der Beschwerdeführer legte beschriftete Fotos und Integrationsunterlagen, der Behördenvertreter eine Anfragebeantwortung vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

11. Mit Eingabe vom 24.09.2020 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, er sei in der afghanischen Armee tätig gewesen und werde deshalb von den Taliban verfolgt. Die Verfolgungsgründe seien neben dem schlüssigen und lebensnahen Vorbringen des Beschwerdeführers auch durch Fotos und Dokumente belegt worden. Er sei nachweislich Leibwächter des Major-General XXXX gewesen. Sein persönliches Verfolgungsrisiko erhöhe sich weiters aufgrund der Feindschaft zu seinem Onkel, dessen Familie enge Bindungen zu den Taliban habe. Auch der vom Gericht eingebrachte Landinfo-Bericht zum Nachrichtendienst der Taliban bestätige die Gefahr für den Beschwerdeführer, da er mehreren darin genannten Risikoprofilen entspreche und für ihn auch keine Reue mehr möglich wäre. Es sei auch wahrscheinlich, dass die Taliban von seiner Rückkehr nach Afghanistan erfahren würden. Überdies drohe ihm aufgrund seiner Desertion im Fall der Rückkehr Haft und damit aufgrund der Bedingungen in afghanischen Gefängnissen ein reales Risiko einer Verletzung seiner nach Art. 2 und 3 EMRK garantierten Rechte.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX auch XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari, Farsi und Urdu und ein wenig Deutsch und Englisch. Er gehört dem Stamm der XXXX an. Der Beschwerdeführer ist mit XXXX , ca. 24 Jahre alt, verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Baghlan geboren. Sein Vater heißt XXXX , er ist ca. 48 Jahre alt und war im Ministerium für Landwirtschaft tätig. Seine Mutter heißt XXXX , sie ist ca. 50 Jahre alt. Er hat zwei Brüder, XXXX , ca. 17 Jahre alt, und XXXX , ca. 14 Jahre alt, sowie zwei Schwestern, XXXX , ca. 12 Jahre alt, und XXXX , ca. 11 Jahre alt.

Die Kernfamilie und die Ehefrau des Beschwerdeführers leben seit Oktober 2015 im Iran. Er hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie.

Der Beschwerdeführer hat auch zwei Onkel mütterlicherseits und eine Tante väterlicherseits. Die Onkel leben im Heimatdistrikt des Beschwerdeführers, die Tante lebt mit ihrer Familie in Pakistan. Zu diesen Angehörigen hat er keinen Kontakt.

Der Beschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang die Schule und schloss diese mit Matura ab. Danach trat er in die afghanische Nationalarmee ein, in der er zunächst als einfacher Soldat und später als Unteroffizier (1. Unterleutnant) tätig war. Schließlich wurde er Leibwächter eines Divisionskommandanten.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Jahr 2015 allein und stellte am 06.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer diente in der afghanischen Nationalarmee zuletzt als Leibwächter des Divisionskommandanten XXXX in der Spezialeinheit Afghan National Army Special Operations Command (ANASOC). Er stand im (Unteroffiziers-)Rang eines 1. Unterleutnants und befehligte eine Gruppe von acht Soldaten.

Ein Onkel mütterlicherseits ist Mitglied der Taliban. Dessen Sohn entdeckte ein vom Beschwerdeführer auf Facebook veröffentlichtes Foto, das diesen als Soldaten zeigt, und informierte die Taliban über seine Tätigkeit. Daraufhin wurde im Juli/August 2015 ein erster Drohbrief in das Haus der Familie im Heimatdorf in der Provinz Baghlan eingeworfen, in dem der Beschwerdeführer aufgefordert wurde, seine Arbeit als Soldat aufzugeben. Der Beschwerdeführer war zu dieser Zeit in Kabul stationiert. Sein Vater las den Brief, erzählte ihm jedoch damals nichts davon. Ca. zwei Wochen später kam ein weiterer Brief, in dem der Beschwerdeführer aufgefordert wurde, seinen Kommandanten zu töten, für den Fall des Zuwiderhandelns wurden sowohl er als auch seine Familie mit dem Tod bedroht. Über diesen Brief informierte ihn sein Vater telefonisch. Der Beschwerdeführer verweigerte dies, da er ein dem afghanischen Staat und seinem Kommandanten gegenüber loyaler Soldat war.

Vier Tage nach Erhalt des zweiten Briefes entführten die Taliban den Vater des Beschwerdeführers, da sie diesem vorwarfen, sie über seinen Sohn belogen zu haben. Daraufhin kam ein Cousin des Beschwerdeführers in das Haus der Familie, weil ansonsten kein männliches Familienmitglied anwesend war, um diese zu beschützen. Die Taliban hielten den Cousin für den zurückgekehrten Beschwerdeführer, drangen nachts in das Haus ein und töteten diesen. Davon erfuhr der Beschwerdeführer am nächsten Morgen durch seinen Onkel mütterlicherseits, den Vater des Getöteten. Dieser warnte ihn, dass er nirgendwo in Afghanistan vor den Taliban sicher sein werde, und organisierte einen Schlepper, mit dessen Hilfe der Beschwerdeführer noch am selben Tag Kabul und später Afghanistan verließ.

In einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Umstände ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer ins Visier der Taliban geraten ist und ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines nach außen getragenen, in seiner politischen Gesinnung wurzelnden Verhaltens im gesamten Staatsgebiet Afghanistans eine ernsthafte Bedrohung in Form eines Eingriffes in seine körperliche Unversehrtheit durch die Taliban droht.

Wegen des unerlaubten Verlassens seines Arbeitsplatzes bei der afghanischen Nationalarmee (ANA) droht dem Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr keine strafgerichtliche Verfolgung.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 06.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse und verfügt mittlerweile über grundlegende Deutschkenntnisse. Er nahm auch an mehreren anderen Pflicht- und Wahlpflichtfachkursen, an Workshops des „Jugend College“ der Stadt Wien und einzelnen Lehrveranstaltungen an der XXXX teil. Er arbeitete ehrenamtlich im Pflegewohnheim XXXX .

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 21.07.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN: Konsequenzen einer Desertation vom 06.03.2019 (Staatendokumentation)

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20 %), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lock down Folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020)

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

1.4.5.  Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 – 89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

1.4.6.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.4.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.4.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.4.8.1. Nachrichtendienst der Taliban

Die Strukturen der Nachrichtendienste der Taliban sind im Laufe der Zeit entstanden und wurden dabei zunehmend ausgefeilter. Trotz der Bemühungen, die nachrichtendienstliche Tätigkeit über die verschiedenen Taliban-Shuras hinweg zu koordinieren und zu synchronisieren, wirkte sich die interne Aufspaltung der Taliban auf deren Funktionsweise aus. Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban ist mittlerweile ziemlich flächendeckend, aber die Qualität der Informationen, die die Taliban-Führung erreichen, ist nicht immer die beste. Es zählt zu den Hauptaufgaben dieser Dienste, die Einschüchterungskampagne der Taliban gegen „Kollaborateur“' der Kabuler Regierung und gegen andere Feinde der Taliban zu ermöglichen. (Landinfo 1, Einleitung).

Regierungsbeamte sind überzeugt, dass die Taliban über alles unterrichtet sind, was geschieht, selbst in Gegenden, in denen sie nur schwach vertreten sind. Natürlich behaupten die Taliban, dass ihre Nachrichtendienste in allen afghanischen Provinzen vertreten sind. Wenngleich dies bis zu einem gewissen Maß zutrifft, unterschiedet sich diese Präsenz nach Intensität und Qualität außerordentlich stark, denn einige Provinzen sind fast völlig unter der Kontrolle der Taliban und andere kaum betroffen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Taliban von allen ihren Aktivitäten am schwersten zu erkennen ist (Landinfo 1, Kapitel 3).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: Das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

1.4.9. Desertation

Eine unerlaubte Abwesenheit oder Desertation von Angehörigen der afghanischen Nationalarmee (ANA) kann je nach Länge der Abwesenheit und dem Dienstgrad gemäß dem afghanischen Militärstrafgesetzbuch und dienstrechtlichen Bestimmungen im unterschiedlichem Ausmaß bestraft werden. In der Praxis werden Desertation oder unerlaubte Abwesenheit allerdings nicht strafrechtlich verfolgt (Staatendokumentation).

1.4.10. Relevante Provinzen und Städte

1.4.10.1. Herkunftsprovinz Baghlan

Baghlan liegt im Nordosten Afghanistans. Eine knappe Mehrheit der Einwohner von Baghlan sind Tadschiken, gefolgt von Paschtunen und Hazara als zweit- bzw. drittgrößte ethnische Gruppen. Außerdem leben ethnische Usbeken und Tataren in Baghlan. Die Provinz hat 995.814 Einwohner (LIB, Kapitel 2.4).

Baghlan gehört zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans. Aufständische der Taliban sind in gewissen unruhigen Distrikten aktiv, in denen sie oftmals terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitsinstitutionen durchführen Im Jahr 2019 gab es 349 zivile Opfer (123 Tote und 226 Verletzte) in der Provinz Baghlan. Dies entspricht einer Steigerung von 34% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) (LIB Kapitel 2.4).

In der Provinz Baghlan kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.4.10.2. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22 % gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10–15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80 % öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.4.10.3. Provinz bzw. Stadt Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70 %) und zu Abwasseranlagen (30 %). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.     Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner Schulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie den vorgelegten Nachweisen. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu den Gründen des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Herkunftsstaates stützen sich auf die von ihm vor der belangten Behörde und insbesondere in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes am 10.09.2020 getätigten Aussagen.

Der Beschwerdeführer ließ bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Seine Angaben, wonach er durch seine Tätigkeit als Soldat einer afghanischen Spezialeinheit und Leibwächter eines Divisionskommandanten nach einem „Verrat“ durch seinen Cousin in den Fokus der Taliban geriet, sind auch vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan plausibel und nachvollziehbar. Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens war zudem der Umstand, dass er sein Fluchtvorbringen umfangreich, schlüssig und detailliert schildern konnte. Der Beschwerdeführer wirkte bei der Schilderung des Erlebten sehr bewegt und aufgewühlt, die Erzählweise war flüssig und spontan. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies – abgesehen von kleineren Details – keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses, vor allem auch aufgrund des vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks, als glaubhaft erachtet.

Im Laufe des Verfahrens aufgetretene vermeintliche Widersprüche konnte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung glaubhaft auflösen. So erklärte er detailliert, wie es ihm 2018 gelang, den Kontakt zu seiner Familie wiederherzustellen, und damit zusammenhängend auch, weshalb er früher nur von einem, nunmehr aber von zwei Drohbriefen berichtete (vgl. Niederschrift vom 10.09.2020, S. 15-16). Aufgrund der nachvollziehbar aktualisierten Angaben zu seiner Familie sind die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Bescheid (vgl. Bescheid vom 28.06.2018, S. 82-86) als überholt anzusehen.

Auch den übrigen beweiswürdigenden Argumenten der belangten Behörde schließt sich das erkennende Gericht nicht an. Soweit auf kleinere Abweichungen in Zeitangaben des Beschwerdeführers verwiesen wird (vgl. S. 88), ist anzumerken, dass derartige Abweichungen bei der Schilderung eines lange zurückliegenden Sachverhalts nicht ungewöhnlich und somit nicht geeignet sind, die Glaubhaftigkeit des grundsätzlich schlüssigen Vorbringens zu erschüttern. Mit dem Argument, dass der Beschwerdeführer nie ernsthaft versucht habe, mit seiner Familie in Kontakt zu treten, woraus sich ergebe, dass diese (und der Beschwerdeführer) nie wirklich in Gefahr gewesen seien (vgl. Bescheid vom 28.06.2018, S. 89), weicht die Behörde ohne nähere Begründung sowohl von den Angaben des Beschwerdeführers als auch von ihrer eigenen Einschätzung, dass er mit seiner Familie sehr wohl in Kontakt stehe (vgl. S. 85), ab. Schließlich verkennt die Einschätzung, es sei nicht schlüssig, dass der Beschwerdeführer nicht schon nach der ersten Bedrohung geflohen sei (vgl. S. 90), dessen damalige Lebenssituation. Der Beschwerdeführer hatte sein gesamtes bisheriges Leben in Afghanistan verbracht, stand als Soldat im Dienst der afghanischen Armee und konnte sich diesem Dienst nur durch Desertion entziehen. Angesichts dessen ist es verständlich, dass es erst eines sehr einschneidenden Ereignisses wie der Tötung seines Cousins bedurfte, um ihn zum Verlassen seines Heimatlandes zu bewegen.

Die Tätigkeit des Beschwerdeführers in der afghanischen Armee und als Leibwächter des XXXX ergibt sich neben seinen Angaben überdies aus den zahlreichen vorgelegten Fotos, Ausweisen und Ausbildungsnachweisen. Zu den im angefochtenen Bescheid geäußerten Zweifeln der belangten Behörde an der Echtheit dieser Dokumente und auch des vorgelegten Drohbriefes ist festzuhalten, dass es zwar richtig ist, dass derartige Schriftstücke gefälscht werden können und in Afghanistan zahlreiche gefälschte Dokumente im Umlauf sind. Dieser Umstand allein reicht jedoch nicht aus, um den vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumenten jeglichen Beweiswert abzusprechen. Ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für eine Fälschung kann nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass auch die vom Beschwerdeführer vorgelegten Schriftstücke Fälschungen sind. Als Anhaltspunkt in diese Richtung nannte die Behörde lediglich, dass der vorgelegte Drohbrief „kaum Gebrauchs- oder Abnutzungsspuren“ aufweise (vgl. Bescheid vom 28.06.2018, S. 90), was nicht geeignet ist, diesem seine Beweiskraft zu nehmen. Der gute Zustand des Schriftstücks ließe sich etwa auch dadurch erklären, dass der Beschwerdeführer ein für sein Asylverfahren wichtiges Beweisstück vorsichtig verwahrt hat. Anhaltspunkte zu einer Fälschung der anderen Dokumente oder Fotos kamen überhaupt nicht hervor.

In einer Gesamtschau der Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint sein Vorbringen zu seiner Furcht vor Verfolgung in Afghanistan wegen seiner (ihm zumindest unterstellten) politischen Gesinnung insgesamt als glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Bedrohung mit maßgeblicher Intensität durch die Taliban drohen würde, und die staatlichen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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