TE Vwgh Beschluss 2020/10/22 Ra 2020/01/0371

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Veröffentlicht am 22.10.2020
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Index

E6J
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Staatsbürgerschaft

Norm

B-VG Art133 Abs4
StbG 1985 §27 Abs1
VwGG §34 Abs1
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des O U in W, vertreten durch die Brehm & Sahinol Rechtsanwälte OG in 1060 Wien, Linke Wienzeile 124/10, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 19. Februar 2020, Zl. VGW-152/071/16105/2018-22, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache gemäß § 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) festgestellt, dass der Revisionswerber die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit verloren habe.

2        Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Der VfGH lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 18. Juni 2020, E 1123/2020-7, ab und trat die Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

3        Begründend führte der VfGH unter anderem aus, spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen seien zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, ob das Verwaltungsgericht zu Recht vom Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG ausgehe und ob es eine unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung (Verweis auf VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477, und 12.3.2020, Ra 2019/01/0484) zutreffend vorgenommen habe, insoweit nicht anzustellen.

4        Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, es fehle „eine einheitliche bzw. gänzliche Rechtsprechung“ dahingehend, wie zu verfahren sei, wenn „die fremde (türkische) Behörde“ zwar eine „Personenstandsregisterabschrift“ ausstelle, diese jedoch „offensichtlich eine Lugurkunde“ sei. Der Revisionswerber habe keinerlei Möglichkeiten gehabt, die Unrichtigkeit der gegenständlichen Personenstandsurkunde zu beweisen.

9        Mit dieser Behauptung entfernt sich die Revision vom festgestellten Sachverhalt. Nach diesem hat der Revisionswerber selbst den (nunmehr als „Lugurkunde“ bezeichneten) Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister gemeinsam mit seiner Beschwerde an das Verwaltungsgericht vorgelegt und vor dem Verwaltungsgericht lediglich vorgebracht, er habe den Auszug nicht gelesen und könne es sich nicht erklären, wie es zu den Eintragungen im Personenstandsregister gekommen sei.

10       Entfernt sich der Revisionswerber bei der Darlegung der Zulässigkeit seiner Revision von diesem Sachverhalt, ohne weitere Gründe im Sinn des § 41 VwGG zu relevieren, liegt schon deshalb keine fallbezogene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor (vgl. etwa VwGH 10.7.2020, Ra 2020/01/0203, mwN).

11       Die Revision behauptet weiter zu ihrer Zulässigkeit, das Verwaltungsgericht habe nicht „klar und deutlich“ festgestellt, dass der Revisionswerber eine „positive Willenserklärung“ (gerichtet auf den Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit) abgegeben habe. Durch die Unterlassung der Feststellungen zu der „positiven Willenserklärung bzw zu den primären Zielen einer Willenserklärung“ liege eine Abweichung von der diesbezüglichen (zitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.

12       Dem ist zu entgegnen, dass das Verwaltungsgericht mit näheren beweiswürdigenden Überlegungen zum Schluss gekommen ist, dass der Revisionswerber eine derartige (auf den Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit) gerichtete Willenserklärung abgegeben hat (vgl. im Übrigen zu der zur Feststellung nach § 27 StbG führenden Beweiswürdigung VwGH 20.5.2020, Ra 2019/01/0383, mwN).

13       Zuletzt behauptet die Revision im Zulässigkeitsvorbringen, das Verwaltungsgericht sei im angefochtenen Erkenntnis von der (näher bezeichneten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewichen. Das Verwaltungsgericht habe eine „Schein-Verhältnismäßigkeitsprüfung“ durchgeführt. Hätte eine „objektive“ Verhältnismäßigkeitsprüfung stattgefunden, hätte das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Revisionswerber „dem österreichischen Staat eng verbunden“ sei, zumal er seit „rund 50 Jahren“ im Bundesgebiet aufhältig und niedergelassen sowie unbescholten sei.

14       Zu diesem Vorbringen genügt es auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u.a, hinzuweisen. Nach dieser erfordert eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. zu allem VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, mwN: auf diese Rechtsprechung hat auch bereits der VfGH bei der Ablehnung der Beschwerde des Revisionswerbers in der vorliegenden Rechtssache hingewiesen: vgl. VfGH 18.6.2020, E 1123/2020-7).

15       Nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. ist zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegen steht.

Eine (derartige) unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. zu allem aus der mittlerweile ständigen Rechtsprechung VwGH 23.9.2020, Ro 2020/01/0014, mwN).

16       Die Revision zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht fallbezogen diese vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien nicht beachtet hat.

17       In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

18       Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 22. Oktober 2020

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010371.L00

Im RIS seit

22.12.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.12.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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