TE Bvwg Erkenntnis 2020/6/23 W261 2177539-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.06.2020
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Entscheidungsdatum

23.06.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W261 2177539-1/15E

Im Namen der Republik!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol vom 18.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. und des ersten Satzes des Spruchpunktes III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II.               In Erledigung der Beschwerde gegen den zweiten und dritten Satz des Spruchpunktes III. wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig ist, und dem Beschwerdeführer der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

III.        Der Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach irregulärer Einreise am 26.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 27.08.2015 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, er und ein Mädchen namens XXXX hätten sich geliebt, doch ihre Familie habe eine Heirat abgelehnt. Da ihr Vater sie mit jemand anderem verloben wollte, seien sie beide aus Angst vor ihrer Familie in den Iran geflüchtet. XXXX sei derzeit im Iran. Er habe sie nicht mitnehmen können, weil er nicht genug Geld für die Schleppung gehabt habe.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 29.09.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen an, dass er aus dem Distrikt Injil in der Provinz Herat stamme. Er sei Tadschike und sunnitischer Muslim. Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht, diese abgeschlossen und fünf Semester lang studiert. Gearbeitet habe er in einer Schneiderei und als Kundenbetreuer/Verkäufer für einen Netzanbieter. Seine Eltern und ein Bruder würden im Iran leben. Er sei mit einer in Österreich lebenden afghanischen Asylwerberin traditionell verheiratet, die derzeit schwanger sei. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer diverse afghanische Dokumente sowie Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er habe in Afghanistan ein Mädchen namens XXXX kennengelernt und diese heiraten wollen. Ihr Vater, ein wohlhabender und einflussreicher Mann, sei gegen die Beziehung gewesen. Nachdem der Beschwerdeführer das Mädchen in seinem Büro getroffen habe, sei ihr Vater mit mehreren Männern in das Büro eingedrungen, habe herumgeschrien, auf den Beschwerdeführer losgehen wollen und dabei auch seine Tochter geschlagen. Die Polizei habe sich geweigert, eine Anzeige gegen den Vater aufzunehmen, da dieser ein einflussreicher Mujaheddin-Kommandant sei. Etwa zwei Tage später habe XXXX den Beschwerdeführer angerufen und erzählt, dass ihr Vater sie mit einem anderen Mann verheiraten wolle. Wenn der Beschwerdeführer nicht mit ihr flüchte, würde sie Selbstmord begehen. Daraufhin sei er mit ihr zusammen in den Iran geflüchtet. Dort habe ein Schlepper ihnen ihr gesamtes Geld abgenommen. Deshalb habe der Beschwerdeführer seine Familie um Geld gebeten und sei mit diesem Geld dann allein weitergereist. XXXX habe sehr viel Angst gehabt und sei nicht bereit gewesen, weiterzureisen.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 18.10.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, die vom Beschwerdeführer angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig, eine private Verfolgung habe nicht festgestellt werden können. Die Sicherheitslage in Herat sei relativ sicher und der Beschwerdeführer könne dorthin zurückkehren. Er sei männlich, volljährig und gesund, verfüge über Schul- und Berufsausbildung und soziale Anknüpfungspunkte in Herat. Der Beschwerdeführer würde daher bei einer Rückkehr nicht in eine hoffnungslose Lage geraten. Er sei traditionell mit einer in Österreich lebenden, derzeit schwangeren, afghanischen Staatsbürgerin verheiratet, es bestehe jedoch kein Familienbezug zu einem Angehörigen in Österreich und kein schützenswertes Familien- oder Privatleben.

4. Der Beschwerdeführer, bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, erhob gegen den Bescheid mit Schreiben vom 16.11.2017 fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe es verabsäumt, Ermittlungen hinsichtlich der Verfolgung von Personen aufgrund einer vorehelichen bzw. von der Familie missbilligten Beziehung und der daraus folgenden Familienfehde vorzunehmen. Diese Thematik und auch die Themen „Zina“ und Ehrenmorde würden in den Länderfeststellungen nicht behandelt. Der Beschwerdeführer verwies auf weitere Länderberichte, insbesondere zur Sicherheitslage in Kabul. Aus diesen ergebe sich, dass in Afghanistan kriegsähnliche Zustände herrschen würden. Kabul scheide als innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer aus. Auch in Herat habe sich die Sicherheitslage verschlechtert. Rückkehrer aus westlichen Ländern würden in Afghanistan gezielt verfolgt. Schließlich sei die Beweiswürdigung der belangten Behörde zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers aus näher dargelegten Gründen mangelhaft.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 20.11.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 23.11.2017 in der Gerichtsabteilung W263 einlangte.

6. Mit Schreiben vom 20.02.2018 übermittelte die belangte Behörde einen Schriftverkehr zwischen dieser und dem Standesamt der Stadt XXXX betreffend das Geburtsdatum des Beschwerdeführers.

7. Mit Schreiben vom 29.03.2019 übermittelte die belangte Behörde dieser durch die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers vorgelegte Integrationsunterlagen.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2020 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 27.01.2020 einlangte.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte aktuelle Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Weder der Beschwerdeführer noch die belangte Behörde gaben eine Stellungnahme ab.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht zudem Deutsch auf dem Niveau B1, Farsi und Englisch.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt Injil in der Provinz Herat geboren, wo er gemeinsam mit seinen Eltern XXXX und XXXX und seinem Bruder XXXX aufwuchs. Sein Vater arbeitete als Maurer und führte auch einen Laden mit Autoersatzteilen.

Der Beschwerdeführer besuchte zwölf Jahre lang die Schule und schloss diese ab. Danach studierte er fünf Semester lang an der Universität für Politikwissenschaft in Herat, schloss das Studium jedoch nicht ab. Er arbeitete neben seiner Ausbildung zunächst als Schneiderlehrling, dann als Geschäftspartner in der Schneiderei und zuletzt drei Jahre lang als Verkäufer und Kundenberater für einen afghanischen Netzbetreiber.

In Afghanistan leben in der Provinz Herat Onkel väterlicherseits und Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers. Die Eltern und er jüngere Bruder des Beschwerdeführers leben im Iran, genauer in Teheran. Zu seinen Eltern hat er regelmäßigen Kontakt, zu seinen Onkeln hat er keinen Kontakt.

Der Beschwerdeführer ist seit 2017 mit XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, traditionell verheiratet. Der Beziehung entstammt ein Sohn, XXXX , geboren am XXXX . Die Lebenspartnerin und der minderjährige Sohn des Beschwerdeführers sind in Österreich international Schutzberechtigte.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1.  Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von der Familie eines Mädchens namens XXXX oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.

1.2.2.  Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit August 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 26.08.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer verfügt über Deutschkenntnisse auf Niveau B1. Aktuell besucht er einen B2-Deutschkurs.

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung und ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert. Er war in den Sommersaisonen 2016 und 2018 als Hilfsarbeiter für eine Stadtgärtnerei und im Winter 2018/19 ehrenamtlich in einer Notschlafstelle tätig. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

Der Beschwerdeführer hat einen Werte- und Orientierungskurs und einen Erste-Hilfe-Kurs besucht. Er hat die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds bestanden.

In Österreich leben die Lebenspartnerin des Beschwerdeführers, XXXX , und deren gemeinsamer minderjähriger Sohn, XXXX , als international Schutzberechtigte. Der Beschwerdeführer lebt mit diesen in einem gemeinsamen Haushalt. Weitere Angehörige oder intensive soziale Bindungen in Österreich hat der Beschwerdeführer nicht.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsdistrikt Injil in der Provinz Herat kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Der Herkunftsdistrikt des Beschwerdeführers ist grundsätzlich sicher erreichbar.

Onkel väterlicherseits und mütterlicherseits des Beschwerdeführers leben in der Provinz Herat. Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Alternativ zur Rückkehr in seine Herkunftsregion wäre dem Beschwerdeführer auch eine Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif möglich:

Der Beschwerdeführer hat keine Ortskenntnisse betreffend Mazar-e Sharif. Ihm sind städtische Strukturen aber grundsätzlich bekannt.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er verfügt über eine zwölfjährige (abgeschlossene) Schuldbildung, eine rund zweieinhalbjährige (nicht abgeschlossene) Hochschulbildung, Berufserfahrung als Schneider und dreijährige Berufserfahrung als Verkäufer und Kundenberater für einen Netzbetreiber.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan in sein Heimatdorf aber auch bei einer (Neu-)Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und sowohl in seinem Heimatdorf als auch in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf dort, oder nach einer (Neu-)Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif, in dieser Stadt Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 18.05.2020 (LIB),

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

1.5.1   Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19-Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3.  Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan, sie macht etwa 27-30% der afghanischen Gesellschaft aus und hat deutlichen politischen Einfluss im Land. In der Hauptstadt Kabul ist sie knapp in der Mehrheit. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien vertreten, sie sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 17.2) Tadschiken sind allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Afghanistan weder psychischen noch physischen Bedrohungen ausgesetzt (LIB, Kapitel 16.2).

1.5.5. Relevante Provinzen und Städte

1.5.5.1. Herkunftsprovinz Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.5.2. Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10–15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

1.5.6.  Situation für Rückkehrer/innen

Im Zeitraum vom 01.01.2019 bis 04.01.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan. Seit 01.01.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 22).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 22).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 22).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (LIB, Kapitel 22).

Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit in Afghanistan Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 22).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 22).

1.5.7.  Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR, Kapitel III. A. 14)

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seinem Bildungsweg und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung und darauf, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (in der Folge: AsylG 2005) liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Das Asylverfahren bietet, wie der VwGH in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Mit der Glaubhaftmachung ist demnach die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss - unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten - genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

2.2.2. Dass das Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend eine Bedrohung durch die Familie eines Mädchens namens XXXX nicht glaubhaft war, ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen.

Grundlegend ist zu sagen, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, wie er es insbesondere in der Erstbefragung, der Einvernahme vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes vorbrachte, in entscheidenden Punkten nicht plausibel ist. Wichtige Aspekte wurden bloß vage und unsubstantiiert geschildert. Das Vorbringen weist auch eine Reihe an Widersprüchen und Ungereimtheiten auf, die der Beschwerdeführer nicht auflösen konnte. Schließlich wirkte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auch persönlich unglaubwürdig.

2.2.3. In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen vor, er habe vor ca. einem Jahr ein Mädchen namens XXXX kennengelernt. Sie hätten sich geliebt und seine Familie habe für ihn um ihre Hand angehalten. Doch ihre Familie habe es abgelehnt, weil sie reich seien und die Familie des Beschwerdeführers aus der Mittelschicht komme. Da ihr Vater sie mit jemand anderem verloben habe wollen, seien sie beide aus Angst vor ihrer Familie in den Iran geflüchtet. XXXX sei derzeit im Iran. Der Beschwerdeführer habe sie nicht mitnehmen können, weil er nicht genügend Geld für die Schleppung gehabt habe (vgl. AS 47).

In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe in Afghanistan ein Mädchen namens XXXX kennengelernt und sie heiraten wollen. Ihr Vater, ein wohlhabender und einflussreicher Mann, sei gegen die Beziehung gewesen, da er seine Tochter jemandem zur Frau geben wollte, den er auserwählt. Der Beschwerdeführer habe deshalb von der Beziehung ablassen wollen, bis XXXX zu ihm ins Büro gekommen sei. Sie hätten sich dort getroffen. Als sie das Büro verlassen wollte, sei ihr Vater mit ein paar Männern in das Büro eingedrungen, habe herumgeschrien, den Beschwerdeführer beleidigt und auf ihn losgehen wollen. Er habe dabei auch seine Tochter auf die Seite geschlagen. Die Polizei habe sich geweigert, eine Anzeige des Beschwerdeführers gegen den Vater aufzunehmen, da dieser ein einflussreicher Mujaheddin-Kommandant sei. Etwa zwei Tage später habe XXXX den Beschwerdeführer angerufen und erzählt, dass ihr Vater sie mit einem anderen Mann verheiraten wolle. Wenn der Beschwerdeführer nicht mit ihr flüchte, würde sie Selbstmord begehen. Daraufhin sei er mit ihr zusammen in den Iran geflüchtet. Dort habe ein Schlepper die beiden eingesperrt und ihnen ihr gesamtes Geld abgenommen. Deshalb habe der Beschwerdeführer seine Familie um Geld gebeten und sei zwei Tage später mithilfe eines anderen Schleppers allein weitergereist. XXXX habe sehr viel Angst gehabt und sei nicht bereit gewesen, weiterzureisen. Sie hätten vereinbart, dass der Beschwerdeführer sie nachholen werde, doch er habe sie später telefonisch nicht mehr erreicht und wisse nicht, was mit ihr geschehen sei (vgl. AS 131-134).

In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe bei seinem Arbeitgeber in Afghanistan ein Mädchen kennengelernt und sei mit ihr einige Zeit zusammen gewesen, sie sei seine Freundin gewesen. Seine Familie habe um ihre Hand angehalten, doch dies sei abgelehnt worden. Einige Zeit sei dann vergangen. Das Mädchen habe ihm erzählt, dass sie einen Anwärter habe, aber nur den Beschwerdeführer liebe und ihn heiraten möchte. Sie habe ihm gesagt, wenn er nichts unternehme, würde sie sich das Leben nehmen. Dann sei wieder Zeit vergangen. Sie hätten dann gemeinsam die Entscheidung zur Flucht getroffen und seien in den Iran geflüchtet. Dort hätten sie sehr viele Probleme gehabt. Seit langem wisse er nicht mehr, wo XXXX sei. Auf der Flucht sei es nicht möglich gewesen, sie ausfindig zu machen und nachzuholen, und er habe dann auch nichts mehr von ihr gehört. Er habe Angst vor der Familie von XXXX . Sie würden sagen, dass er Schande über sie gebracht habe und ihn, wenn sie ihn erwischen, töten. Wegen dieser Sache habe sich sogar sein Vater mit ihm angefeindet und spreche nicht mehr mit ihm. Einmal sei XXXX Vater auch bei der Firma des Beschwerdeführers gewesen und habe ihn dort vor allen beleidigt, diskriminiert und angegriffen. Das, was er getan habe, sei auch gegen die afghanischen Gesetze (vgl. Niederschrift vom 04.06.2020, S. 19-21).

2.2.4. Zunächst ist festzuhalten, dass diese – im Laufe des Verfahrens vom Beschwerdeführer zumindest im Groben gleichlautend vorgebrachte – Fluchtgeschichte in einem zentralen Punkt nicht plausibel ist. Der Beschwerdeführer konnte nämlich zu keiner Zeit nachvollziehbar erklären, weshalb er seine Freundin XXXX alleine im Iran zurückgelassen habe. Es widerspricht vielmehr der allgemeinen Lebenserfahrung, dass der Beschwerdeführer sein Leben und seine Familie in Afghanistan zur Gänze für die Beziehung zu einer Frau aufgeben würde, nur um diese wiederum wenig später in einem fremden Land zurückzulassen und alleine nach Europa weiterzureisen.

Die dafür vom Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens vorgebrachten Erklärungen weichen voneinander ab und sind letztlich ebenso wenig plausibel. In seiner Erstbefragung gab der Beschwerdeführer noch an, er habe XXXX nicht mitnehmen können, weil er nicht genügend Geld für die Schleppung gehabt habe (vgl. AS 47). In der Einvernahme vor der belangten Behörde antwortete er hingegen auf die Frage, warum er XXXX zurückgelassen habe, sie habe aufgrund der Erlebnisse auf der Flucht sehr viel Angst gehabt und sei nicht bereit gewesen, weiterzureisen. Erst auf direkte Nachfrage, ob er genug Geld für sie beide gehabt hätte, verneinte er dies auch in dieser Einvernahme (vgl. AS 134). In der mündlichen Verhandlung erklärte der Beschwerdeführer überhaupt nicht, warum er ohne seine Freundin weitergereist sei.

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert; die Verwaltungsbehörde bzw. das BVwG können in ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen. Es wird im vorliegenden Fall nicht verkannt, dass sich die Erstbefragung des Beschwerdeführers nicht in erster Linie auf seine Fluchtgründe bezog, und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden. Dass der Beschwerdeführer zwei völlig unterschiedliche Gründe dafür angab, weshalb XXXX im Iran geblieben sei, ist aber dennoch nicht nachvollziehbar. Diesen Widerspruch vermochte er im Laufe des Verfahrens auch nicht aufzulösen.

Aber auch für sich genommen kann keine der beiden Erklärungen überzeugen. So erscheint es angesichts dessen, welche Gefahren die beiden nach Darstellung des Beschwerdeführers auf sich nahmen, um ihre Beziehung fortführen zu können, nicht plausibel, dass sie sich aus „bloßem“ Geldmangel wieder getrennt hätten. Dies auch, da der Beschwerdeführer seinen Angaben nach bereits zwei Tage, nachdem er von seiner Familie Geld erhalten habe, alleine weitergereist sei (vgl. AS 132). Anzunehmen wäre, dass die beiden vor einer Trennung nichts unversucht gelassen hätten, um das nötige Geld doch noch zusammenzubekommen, und der Beschwerdeführer nicht quasi sofort, nachdem er genügend Geld für sich selbst hatte, seine Freundin zurücklassen würde. Auch, wovor XXXX so große Angst gehabt habe, dass sie nicht bereit gewesen sei, weiterzureisen, erläuterte der Beschwerdeführer nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb sich ein 17-jähriges Mädchen alleine in einem für sie fremden Land sicherer fühlen sollte als zusammen mit ihrem Freund.

Bereits dieser absolut nicht plausible und vom Beschwerdeführer nicht nachvollziehbar aufgeklärte Aspekt in dessen Fluchtvorbringen legt aus beweiswürdigender Sicht nahe, dass der Beschwerdeführer seine Flucht tatsächlich nicht zusammen mit einem Mädchen namens XXXX , sondern alleine antrat.

2.2.5. Weiters enthält das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten, die dieser im Laufe des Verfahrens auch nicht auflösen konnte. So schilderte er den Ablauf der seiner Flucht vorangegangenen Ereignisse in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in mehreren Aspekten völlig anders als noch in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde.

In der freien Erzählung der Fluchtgründe in der Verhandlung erwähnte der Beschwerdeführer keinerlei Konfrontation mit XXXX Vater in seinem Büro. Diese brachte er erst wieder auf konkrete Nachfrage vor, ob er jemals bedroht worden sei (vgl. Niederschrift vom 04.06.2020, S. 20). Mit der Entscheidung zur Ausreise brachte er diese Konfrontation gar nicht in Verbindung. Der Darstellung des Beschwerdeführers in der Einvernahme zufolge spielte diese Auseinandersetzung für die Flucht aber eine zentrale Rolle: Bloß zwei Tage danach habe ihm XXXX mitgeteilt, dass ihr Vater sie mit einem anderen Mann verheiraten wolle, den Beschwerdeführer zur gemeinsamen Flucht aufgefordert und mit Selbstmord gedroht (vgl. AS 131). Er beschrieb die Konfrontation überdies unterschiedlich. Vor der Behörde gab er an, XXXX sei dabei anwesend gewesen, und von ihrem Vater auch geschlagen worden. In der Verhandlung hingegen erwähnte er sie in diesem Zusammenhang überhaupt nicht. Auch sagte er in der Einvernahme, ihr Vater habe zwar auf ihn losgehen wollen, sei aber von Kollegen und Sicherheitspersonal daran gehindert worden. In der Verhandlung sagte er abweichend, der Vater habe ihn „angegriffen“ und erst dann seien ihm Kollegen zur Hilfe gekommen (vgl. AS 131; Niederschrift vom 04.06.2020, S. 20). Somit blieb letztlich unklar, ob der Beschwerdeführer tatsächlich auch körperlich attackiert wurde. Es ist völlig unverständlich, dass dieser einen zentralen Punkt wie das angeblich einzige Zusammentreffen mit XXXX Vater und die einzige persönliche Bedrohung so vage und widersprüchlich schildern würde.

In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Beschwerdeführer in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde angab, eigentlich von der Beziehung zu XXXX ablassen haben zu wollen, da ihr Vater nicht eingewilligt habe. Seine Meinung habe er erst geändert, als sie zu ihm ins Büro gekommen sei, woraufhin es auch zur genannten Konfrontation kam (vgl. AS 131). Rund zwei Tage später fiel nach Darstellung des Beschwerdeführers die Entscheidung zur Flucht, nach zwei weiteren Tagen seien sie ausgereist. Warum dem Beschwerdeführer die Beziehung zu XXXX , von der er eigentlich ablassen wollte, in so kurzer Zeit so wichtig geworden sei, dass er nun bereit war, mit ihr zur flüchten, erklärte er nicht. Es ist auch nicht plausibel. In der mündlichen Verhandlung erwähnte er gar nicht, dass er von der Beziehung ablassen wollte, und stellte auch den zeitlichen Ablauf anders dar: Nachdem XXXX mit Selbstmord „gedroht“ habe, sei „wieder Zeit vergangen“, bevor sie den Entschluss zur Flucht gefasst hätten (vgl. Niederschrift vom 04.06.2020, S. 19). Dies klingt nicht, als hätte es sich dabei nur um wenige Tage gehandelt.

Nicht glaubhaft ist auch, dass der Beschwerdeführer, wenn seine Fluchtgründe den Tatsachen entsprechen würde, nicht einmal den richtigen Namen von XXXX Vater nicht kennen würde. Er wisse nur, dass dieser als „ XXXX “ oder „ XXXX “ angesprochen worden sei, nicht aber, wie er wirklich heiße (vgl. AS 132). Es wäre völlig lebensfremd, anzunehmen, dass sich jemand in der Situation des Beschwerdeführers nicht genauer über jenen Mann informieren würde, vor dem er in erster Linie auf der Flucht ist. Durch die Beziehung zu dessen Tochter hätte er auch jede Gelegenheit dazu gehabt. Schließlich war der Beschwerdeführer auch recht genau über die berufliche Position des Mannes informiert (vgl. AS 135) und seine Familie stand mit XXXX Familie auch bereits in Kontakt, als sie um deren Hand anhielten.

Widersprüchliche Angaben machte der Beschwerdeführer zudem dazu, ob ihn die Familie von XXXX nach der Flucht wegen ihrer „Entführung“ angezeigt habe. In der Einvernahme vor der belangten Behörde sagte er noch, er werde in Afghanistan aufgrund einer Anzeige ihrer Familie von der Polizei gesucht (vgl. AS 130, 136). In der mündlichen Verhandlung hingegen schien er eine Anzeige bloß als eine Möglichkeit darzustellen, er wisse aber nicht, ob es dazu gekommen sei: „Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann ist das, was ich in Afghanistan getan habe, gegen die Gesetze. […] Die Behörden sind korrupt und wenn sie mich anzeigen, werde ich verfolgt.“ (vgl. Niederschrift vom 04.06.2020, S. 20-21). Auch dieser eklatante Widerspruch ließ sich durch die weiteren Angaben des Beschwerdeführers nicht auflösen.

2.2.6. Schließlich war auch der persönliche Eindruck, den der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes hinterließ, keinesfalls geeignet, seine Glaubwürdigkeit als Person zu untermauern. So entstand bei der erkennenden Richterin insbesondere nicht der Eindruck, dass ihn das Schicksal seiner vermeintlich zurückgelassenen Freundin XXXX besonders interessieren oder berühren würde. Der Beschwerdeführer schilderte sein Fluchtvorbringen völlig emotionslos. Er gab auch zu keiner Zeit an, was er konkret unternommen habe, um XXXX ausfindig zu machen, sondern stellte in diesem Zusammenhang immer wieder seine eigene schwierige Situation in den Vordergrund (vgl. Niederschrift vom 04.06.2020, S. 20). Auch gab der Beschwerdeführer zu Beginn seiner Befragung an, einige Sachen aus seinen früheren Einvernahmen müssten richtiggestellt werden, konnte aber nicht sagen, welche Dinge konkret, da er es sich nicht notiert habe (vgl. S. 15). Dadurch erweckte er den Eindruck, sich bloß eine Erklärungsmöglichkeit für eventuelle Widersprüche schaffen zu wollen.

2.2.7. In einer Gesamtschau der oben dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere zu den nicht plausiblen Angaben zum Verbleib seiner Freundin, zu den diversen Ungereimtheiten und Widersprüchen im Vorbringen und zu seinem persönlich nicht glaubwürdigen Eindruck, konnte der Beschwerdeführer eine persönliche Bedrohung durch die Familie eines Mädchens namens XXXX daher nicht glaubhaft machen.

Im Gesamtzusammenhang betrachtet ist somit auch nicht davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch diese Familie drohen.

2.2.8. Die Feststellungen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr auch keine Verfolgung aufgrund seines Aufenthaltes in Europa und seines hier gelebten „Lebensstils“ droht, ergibt sich daraus, dass er diesbezügliche Probleme erstmals und bloß pauschal im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorbrachte. Damit hat der Beschwerdeführer aber keine individuelle und konkrete Verfolgung als „Rückkehrer“ hinreichend substantiiert

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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