TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/16 W208 1305237-4

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Veröffentlicht am 16.07.2020
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Entscheidungsdatum

16.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W208 1305237-4/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX (alias: XXXX ), geb. XXXX , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch die ARGE RECHTSBERATUNG – DIAKONIE UND VOLKSHILFE gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL, Regionaldirektion STEIERMARK vom 05.04.2019, Zahl: 752249602-161651697/BMI-BFA_STM_RD zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der damals minderjährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat gemeinsam mit seinen drei Geschwistern am 20.12.2005 durch seinen in ÖSTERREICH subsidiär schutzberechtigten Vater einen „Antrag auf Einreise und Asylgewährung“ beim damaligen Bundesasylamt gestellt (AS 1). Nach Befassung der österreichischen Botschaft in ISLAMABAD/PAKISTAN erfolgte am 20.04.2006 die vorerst auf 4 Monate befristete Einreise in das österreichische Bundesgebiet.

2. Am 27.04.2006 (AS 57) und 29.06.2006 (AS 81) gab der Vater des BF zusammengefasst an, die Mutter der Kinder (seine Ehefrau) sei - nachdem sie mit den Kindern wegen einer schweren Krankheit (Lähmung) nach PAKISTAN gegangen sei - verstorben. Die Kinder seien ohne Aufsicht und er wolle das Familienleben in Österreich fortführen, eigene Fluchtgründe hätten diese nicht.

Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 22.10.2002 hatte der Vater des BF angegeben, er selbst habe am 04.06.2001 Afghanistan verlassen, weil die Taliban 1997 seine Grundstücke beschlagnahmt und dann an seine Cousins wieder ausgefolgt hätten, mit denen es in der Folge einen Streit darum gegeben habe. Die Cousins hätten ihn bedroht, ihn fünf bis sechsmal zu Hause besucht, er sei glücklicherweise nicht zu Hause gewesen und sein Leben bedroht, weil sie die Grundstücke alleine hätte haben wollen. Auch nach seiner Ausreise – im März 2002 – hätten sie seine Familie bedroht, seine Frau sei dabei gestürzt und seitdem halbseitig gelähmt gewesen, weswegen sie mit ihren Kindern nach Pakistan zur Behandlung gegangen wäre, wo sie nach sieben Monaten im Krankenhaus gestorben sei (BVwG, AS 113).

3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2006, Zl 05 22.496 – BAG (AS 91) wurde der Asylantrag des BF abgewiesen (Spruchpunkt I.) und ausgesprochen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF unzulässig ist (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs 1 AsylG 1997 idF der Asylgesetznovelle 2003, BGBl I Nr 101 eine Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.08.2008 erteilt (Spruchpunkt II). Gegen den Spruchpunkt I. wurde Berufung beim Bundesasylsenat eingebracht (die Berufung gegen die Spruchpunkte II. und III. wurde zurückgezogen) und hat der VwGH am 30.05.2007, 2006/19/1405 dazu letztlich festgestellt, dass der BF gar keinen Asylantrag eingebracht habe, sondern im Familienverfahren gemäß § 10 AsylG 1997 einen Antrag auf denselben Schutz wie er dem Vater gewährt wurde, gestellt hat (AS 263).

Der Begründung des Bescheides und der des VwGH ist zu entnehmen, dass der Asylantrag des Vaters des BF vom 23.09.2001 am 18.11.2002 rechtskräftig abgewiesen und diesem bis 04.08.2008 subsidiärer Schutz erteilt worden sei.

4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.10.2011 (AS 405) wurde vom Bundesasylamt erstmals der Versuch unternommen dem BF den am 23.08.2006 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen Begehung von Straftaten (schwerer Raub – Verurteilung vom 08.08.2008 zu 30 Monaten Freiheitsstrafe bedingt und Diebstahl – Verurteilung 17.06.2010 zu 4 Monaten bedingt) abzuerkennen. Dieser Bescheid wurde jedoch vom Asylgerichtshof am 11.09.2012, C1 305237-2/2011/4E aufgehoben, weil die als Verbrechen zu qualifizierende schwere Straftat vor Inkrafttreten der Neufassung des § 9 AslylG 2005 am 01.01.2010 verurteilt worden war und nicht herangezogen werden hätte dürfen. Mit dem danach begangenen einem Eigentumsdelikt, seien die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 Z 2 AsylG 2005, das „mehrere minderschwere Straftatbestände“ erfordere, nicht erfüllt (AS 453).

5. Mit Bescheid vom 04.10.2012 wurde der subsidiäre Schutz des BF verlängert (AS 481).

6. Am 12.12.2012 wurde der BF wegen einer am 09.07.2011 begangenen weiteren Straftat (§ 83 Abs 1 StGB – Körperverletzung) zu einem Monat unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt (AS 499).

7. Mit Bescheiden vom 29.07.2013 (AS 507), 16.09.2014 AS 525), 19.07.2016 (AS 559) und zuletzt am 05.08.2018 (AS 565) wurde der subsidiäre Schutz des BF jeweils verlängert. Wobei die letzte Verlängerung bis 04.08.2020 erfolgte und wie folgt begründet wurde:

„Aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage in Ihrem Herkunftsland in Verbindung mit Ihrem Vorbringen bzw. Ihrem Antrag konnte das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet werden.“

(Anmerkung BVwG: die Aktenseiten [AS, Seitenzahlen] bezogen sich bis hierher auf den Akt zum Antrag des Vaters des BF für seine Kinder. Im Folgenden beziehen sie sich auf das beschwerdegegenständliche Aberkennungsverfahren. Nur, wenn sie mit [BVwG/AS] bezeichnet sind, beziehen sie sich auf den Akt des BVwG, dass eigene Ermittlungen durchgeführt hat.)

8. Am 02.12.2016 langte bei der belangten Behörde eine Verständigung von einer rechtskräftigen Verurteilung des BF am 15.11.2016 zu 9 Monaten Freiheitsstrafe unbedingt, wegen Begehung mehrerer Suchtmitteldelikte, letzte Tat 26.10.2016; §§ 27 (1) Z 1 1.Fall, 27 (2) SMG, § 27 (2a) 2. Fall SMG; und versuchtem Diebstahl, § 15, § 127 StGB ein (AS 3).

Am 28.12.2016 langte ein rechtskräftiges Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 14.12.2016 ein, wonach der BF wegen eines versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt, § 15 iVm § 269 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt wurde. Er hatte am 20.07.2016 einen Beamten der Parkraumüberwachung, durch die Aussage, „Schleich dich du Arschloch, sonst kannst du was erleben, ich schneide dir gleich den Kopf ab. Ich scheiße auf Österreich.“, versucht an der Ausstellung eines Organmandates zu hindern. Mildernd wurde angerechnet, dass es beim Versuch geblieben ist und erschwerend, der rasche Rückfall sowie die einschlägigen Vorstrafen (AS 13).

9. Das BFA leitete am 09.01.2017 aus diesem Grund neuerlich ein Aberkennungsverfahren ein, teilte dies dem BF mit und räumte ihm eine Frist zur Stellungnahme zu diversen Fragen ein (AS 17).

10. In seiner Stellungnahme vom 30.01.2017 führte der BF an, er sei bei einer Abschiebung nach Afghanistan einer Verfolgung durch die dortigen Mullahs ausgesetzt, dies habe ihm sein Vater gesagt, der zu dieser Bedrohung der Familie einvernommen werden könne. Er habe keine Familie oder Verwandte mehr in Afghanistan. Er könne aufgrund seiner Gesundheit zwar arbeiten, doch würde er aufgrund der Verfolgung kein geregeltes Leben führen können. Er habe in Österreich seinen Hauptschulabschluss und eine Kellnerlehre gemacht und am Bau gearbeitet. (Dazu hat sich später herausgestellt, dass beides nicht richtig ist!) Sein Vater, seine drei Geschwister und seine Verlobte XXXX XXXX (im Folgenden: SCH) würden ebenfalls in Österreich leben. Seine Ex-Freundin und seine Tochter würden ihn NORWEGEN leben und könne er diese aus Afghanistan nicht mehr besuchen. Er habe keinen Bezug mehr zu seinem Heimatland (AS 25).

11. Am 23.03.2017 wurde der Vater des BF vom BFA, in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi, im Gegenstand einvernommen. Dieser gab zusammengefasst an, der BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan durch Feinde, die aus der eigenen Familie stammen würden, wegen Grundstückstreitigkeiten umgebracht werden. Konkret würden die Kinder seines Onkels väterlicherseits nur darauf warten sich zu rächen. Es ginge um eine Erbschaft und hätten diese nun Angst, dass der BF Ansprüche erhebe. Die Angehörigen seien in KABUL gewesen, als er vor 16 Jahren das Land verlassen habe, wo sie jetzt seien, wisse er nicht. Auch drohe Gefahr von den Mullahs, die ihn töten würden, wenn sie feststellten, dass er aus Europa komme.

Gefragt zur Verlobten des Sohnes gab er an, er wisse nicht wie sie heiße, nur, dass sie Österreicherin sei, er habe sie ca vor einem Jahr das erste Mal zusammen gesehen.

Der Vater des BF verweigerte die Unterschrift unter die Niederschrift, weil er vermeinte, dadurch seinem Sohn zu schaden. Eine Rückübersetzung erfolgte und wurde dies durch den Leiter der Amtshandlung und den Dolmetscher durch ihre Unterschriften bestätigt (AS 43).

12. Am 18.01.2018 wurde der BF vom BFA, in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, im Gegenstand einvernommen, wobei der BF aber angab lieber Deutsch sprechen zu wollen. Ihm wurde zur Kenntnis gebracht, dass eine Aberkennung des gewährten subsidiären Schutzes wegen der geänderten Lage in Afghanistan beabsichtigt sei.

Der BF wiederholte im Wesentlichen seine Angaben zum Privatleben und seine Befürchtungen hinsichtlich einer Abschiebung, gab an, aus seinen Fehlern gelernt zu haben, in einem namentlich genannten großen Lebensmittelmarkt zu arbeiten und nur mehr wenig Drogen zu konsumieren. Mit seiner Lebensgefährtin SCH, sei er seit vier Jahren zusammen und wolle jetzt heiraten. Sie hätten beide noch getrennte Wohnungen und würden einmal da und einmal dort leben (AS 67).

Als Beweismittel wurde ein Dienstzettel (datiert mit 10.01.2018) vorgelegt, wonach er seit 02.01.2018 in dem genannten Lebensmittelmarkt 30 Stunden arbeite und einen Grundbezug von € 1.218,70 habe (AS 71).

Auf eine Anfrage der belangten Behörde vom 13.12.2018 teilte die Lebensmittelkette allerdings mit, dass der BF lediglich von 01.02.2018 (Anmerkung BVwG: offensichtlicher Schreibfehler, richtig ist 02.01.2018!) bis zum 02.02.2018 im Unternehmen beschäftigt gewesen sei (AS 87).

13. In der Folge scheiterten mehrere Versuche den BF an seiner angegebenen Adresse zu einer weiteren Vernehmung zu laden und teilte auch der Rechtsberatungsverein mit, dass die Vollmacht aufgelöst sei, weil kein Kontakt habe hergestellt werden können (AS 103).

14. Mit dem im Spruch genannten Bescheid vom 05.04.2019 (AS 115) wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 Asylgesetz 2005 (AsylG), von Amts wegen aberkannt" (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Bescheid vom 23.08.2006 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.). Ferner sprach die belangte Behörde aus, dass dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). und gegen ihn gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt wird, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V). Weiters legte sie gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG für die freiwillige Ausreise eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.), verhängte gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein Einreiseverbot von acht Jahren (Spruchpunkt VII.).

Tragende Begründung war, dass sich die Lage in Afghanistan zum Besseren geändert habe (Seiten 14, 68, 70 des Bescheides). Die Städte KABUL, HERAT und MAZAR-E SHARIF seien sicher und eine Rückkehralternative. Die Voraussetzungen zur Gewährung von subsidiären Schutz lägen gemäß § 9 Abs 1 Z 1 AsylG nicht mehr vor.

15. Mit Verfahrensanordnung vom 08.04.2019 wurde der BF verpflichtet am 24.04.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen (AS 115) und wurde ihm mit Verfahrensanordnung vom 08.04.2019 die im Spruch angeführte Rechtsberatungsorganisation zur Seite gestellt (AS 197).

16. Am 04.05.2019 wurde der BF bei der unerlaubten Ausreise nach DEUTSCHLAND an der Grenze aufgegriffen und von den deutschen Behörden nach Österreich zurückgeschoben (AS 225).

17. Gegen den am 04.05.2019 durch Polizeiorgane zugestellten Bescheid wurde von der gemäß § 52 Abs 1 BFA-VG dem BF zur Seite gestellten Rechtsberatungsorganisation (Vollmacht und Zustellvollmacht vom 14.05.2019) am 03.06.2019 beim BFA Beschwerde eingebracht (AS 335), die sie ua damit begründete, dass aus den Länderfeststellungen nicht ableitbar sei, dass dem BF eine Rückkehr möglich und zumutbar sei. Eine nachhaltige positive Veränderung der Umstände sei nicht gewährleistet. Weiters wurden diverse Integrationsunterlagen vorgelegt ua ein Arbeitsvertrag über ein am 29.04.2019 begonnenes Dienstverhältnis des BF (AS 363). (Dazu hat sich später herausgestellt, dass er dieser Arbeit nur bis 17.05.2019 nachging - vgl hinten I.24.).

18. Beim Rückkehrberatungsgespräch am 06.05.2019 gab der BF an, nicht rückkehrwillig zu sein (AS 229).

19. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 12.06.2019 vom BFA vorgelegt.

20. Am 17.01.2020 langte beim BVwG eine Information des BFA bzw der Staatsanwaltschaft WIEN (datiert 10.01.2020) ein, wonach gegen den BF eine Anklage wegen § 83 Abs 1 StGB (Körperverletzung) erhoben worden sei (BVwG/ON 7).

Dem Verfahren lag der Vorwurf der Lebensgefährtin des BF (SCH) zugrunde, dieser habe ihr am 10.11.2019 im Zuge eines Streites nach einer Feier, den Arm verdreht, sie mit der Faust sowie der flachen Hand auf die Brust und ins Gesicht geschlagen und sie gewürgt. Sie habe dadurch einen Nasenbeinbruch und eine Prellung des linken Armes erlitten.

Der BF bestritt dies in der Strafverhandlung vor dem Bezirksgericht XXXX (BG) am 09.02.2020 und gab an, die SCH müsse Tabletten gegen ihre Aggressionen nehmen und verletze sich auch immer wieder selbst. Am fraglichen Abend sei dies nach dem gemeinsamen Genuss von Alkohol ebenso gewesen. Er habe nur versucht sie zu beruhigen. Er gab an, nach wie vor mit ihr zusammen zu sein und sie zu lieben. Der BF wurde, nachdem die SCH im Verfahren die Aussage verweigerte, mit Urteil des BG vom 09.03.2020 ( XXXX ) gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen (BVwG/ON 16).

21. Nachdem die vom BVwG für 16.04.2020 geplante Verhandlung – pandemiebedingt -abgesagt werden musste, erging mit Ladung vom 15.04.2020 eine neuerliche Ladung für den 27.05.2020. Der BF wurde dazu aufgefordert die Ladungsadresse der SCH bekannt zu geben und Beweismittel dafür vorzulegen, dass er tatsächlich eine Tochter in NORWEGEN habe und diese regelmäßig besuche, wie in seiner Einvernahme beim BFA behauptet. Auch der Vater des BF wurde zur Verhandlung als Zeuge geladen (BVwG/ON 13).

22. Am 22.04.2020 stellte der BF über seine Rechtsvertretung einen Beweisantrag. Er teilte darin mit, dass sich seine Lebensumstände geändert hätten und er nunmehr mit einer slowakischen Staatsbürgerin liiert sei, die in XXXX studiere. Der Antrag auf Ladung der SCH werde, weil die Beziehung nicht mehr aufrecht sei, zurückgezogen und stattdessen die Ladung der genannten Studentin beantragt, die sich aber derzeit in der SLOWAKEI befinde. (BVwG/ON 15). Das BVwG kam diesem Antrag – nicht zuletzt wegen der pandemiebedingten Reisebeschränkungen – nicht nach.

23. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 27.05.2020 eine öffentliche Verhandlung (VHS/BVwG/ON 17) durch, an der der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu und Dari persönlich teilnahm und ausführlich befragt wurde, sowie Stellung nehmen konnte. Ebenso wurde die – ohne Ladung – erschienene Lebensgefährtin des BF, SCH, einvernommen sowie der als Zeuge geladene Vater des BF zu seinen damaligen Fluchtgründen und zur nunmehrigen Situation befragt.

Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift und die ON 16 wurde dem BFA zur Stellungnahme binnen 14 Tagen übermittelt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden keine weiteren Unterlagen vorgelegt aber Fotos am Mobiltelefon der Zeugin SCH (die angab zu glauben selbst schwanger zu sein, es sei aber nicht sicher) von der Tochter in NORWEGEN gezeigt und zugesichert weitere Unterlagen (Arbeitsbestätigungen, Einstellungszusagen, Unterhaltsforderungen aus NORWEGEN / VHS 14-15, ärztliche Bestätigung) vorzulegen.

24. Während das BFA keine Stellungnahme einbrachte übermittelte der BF mit Schriftsatz vom 10.06.2020 (eingelangt am 15.06.2020) folgende Unterlagen (ON 19):

Einen Versicherungsdatenauszug vom 26.05.2020 aus dem hervorgeht, dass der BF seit 2006 bis dato folgende Arbeitsstellen innehatte:

28.05.2008 bis 05.06.2008  Arbeiter Firma Catering C XXXX

17.04.2009 bis 03.06.2009 Arbeiterlehrling  VEREIN J XXXX

06.07.2010 bis 09.07.2010 Arbeiter  M XXXX Bau GmbH

04.03.2011 bis 11.03.2011 geringfügig beschäftigter Arbeiter  A XXXX Restaurant KG

26.06.2012 bis 05.08.2012 Arbeiter  Hilfseinrichtung C XXXX

20.12.2013 bis 02.01.2014  Arbeiter/geringfügig beschäftigter Arbeiter        J XXXX Gemeinnützige ArbeitskräfteüberlassungsgesmbH

09.12.2014 bis 30.07.2015 Angestellter  Lebensmittelhändler B XXXX AG (P XXXX Markt – Kassier, Regalbetreuung etc – hiezu wurde auch ein positives Arbeitszeugnis vorgelegt)

23.08.2016 bis 24.10.2016 Arbeiter i XXXX Personalservice & Beratung gemeinnützige GmbH

02.01.2018 bis 02.02.2018 Arbeiter  Lebensmittelhändler M XXXX AG

22.06.2018 bis 08.07.2018 Arbeiter Hausbetreuung C XXXX

23.12.2018 bis 04.01.2019 Arbeiter SKILIFT Betreiber/Gastronomie H XXXX GesmbH

29.04.2019 bis 17.05.2019 Arbeiter Arbeitskräfteüberlassung L XXXX GmbH

11.06.2019 bis 21.06.2019 Arbeiter F XXXX Bau GmbH

13.08.2019 bis 23.08.2019 Arbeiter F XXXX Bau GmbH

09.09.2019 bis 18.09.2019 Arbeiter F XXXX Bau GmbH

Ein Schreiben der NAV XXXX , NORWAY, wo der BF aufgefordert wird ab dem 01.07.2020 Unterhalt für seine Tochter (geboren XXXX .2012) iHv 2.480 NOK zu überweisen.

Dazu führte er in seiner Stellungnahme aus, dass die zahlreichen kurzen Arbeitsverhältnisse meist seitens der Arbeitgeber, nach Anforderung des Strafregisterauszuges, gelöst worden seien. Dem Arbeitszeugnis der P für den Zeitraum von 09.12.2014 bis 30.07.2015 (ausgestellt am 03.06.2020) sei zu entnehmen, dass es sich beim BF um einen zuverlässigen Mitarbeiter gehandelt habe. Das Schreiben aus NORWEGEN würde beweisen, dass der BF für seine Tochter dort laufend Unterhalt zu entrichten habe.

Weiters wurde in Bezug auf die Aktualisierung der Länderberichte zusammengefasst angeführt, dass sich die prekäre Sicherheits- und Versorgungslage aufgrund der Corona-Pandemie weiter verschärft habe und unkontrollierbar sei. Der BF gehöre als Mann zwischen 20-39 Jahren zu jener Gruppe die die höchste Infektionsrate aufweise und sei als Rückkehrer aus dem „verseuchten“ Europa zusätzlich stigmatisiert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und ihrem Netzwerk

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und wurde am XXXX in KABUL geboren. Er ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan; weiters Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam (VHS, 8). Seine Muttersprache ist Dari (Farsi), außerdem spricht er noch Paschtu und Deutsch. Er hat die österreichische Pflichtschule nach der 4. Klasse Hauptschule mit „nicht beurteilt“ beendet (Feststellung im Strafurteil vom 08.08.2008, Seite 8, BVwG/AS 98) und daher keinen Hauptschulabschluss.

Dass er in seiner Landessprache nicht lesen und schreiben kann (VHS, 9), wie von ihm behauptet, ist nicht glaubhaft, weil er 10 Jahre in der Großstadt KABUL aufgewachsen ist. Selbst wenn dies stimmen sollte, ist er in der Lage mit Unterstützung seiner Familienangehörigen in seiner Muttersprache lesen und schreiben zu lernen, weil er das auch in Deutsch gelernt hat.

Er ist im Dezember 2005 als 13-Jähriger gemeinsam mit seinen Geschwistern legal in Österreich – im Rahmen der Familienzusammenführung – eingereist. Davor hat er sich seit März 2002 in PAKISTAN aufgehalten, wo er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern hingereist ist, damit sich seine Mutter behandeln lassen kann, die aber nach 7 Monaten in PAKISTAN verstorben ist (BVwG/AS 114). Dass sie – obwohl sie halbseitig gelähmt war – dazu die Kinder mitgenommen haben soll und diese dort nach ihrem Tod dort verblieben sind, ist nur denkbar, wenn sie dort männliche Unterstützung durch Verwandte hatte.

Der BF ist gesund (VHS, 9) und arbeitsfähig (VHS, 8) und hat Berufserfahrung als Bauarbeiter, Kellner, in der Hausbetreuung und im Lebensmittelhandel (VHS, 8 und ON 19).

Der BF hat folgende Angehörige in Afghanistan (in KABUL): Die Nachkommen der Verwandten des Vaters (VHS, 12), insb den Onkel mütterlicherseits seines Vaters (VHS, 13).

Der BF hat mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Verwandte in PAKISTAN, wo seine Mutter 7 Monate bis zu ihrem Tod und seine Geschwister von 2002-2005 ohne ihren Vater lebten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Vater des BF keine weiteren Angehörigen, Bekannte oder Freunde mehr in AFGHANISTAN oder in PAKISTAN hat.

Der BF kann auf das soziale Netzwerk seiner Familie in ÖSTERREICH zurückgreifen – mit der er laut seinen Angaben ein sehr gutes Verhältnis hat - und die ihn aufgrund der modernen Kommunikationsmittel und des Bankwesens finanziell und mit ihren Kontakten auch aus der Ferne unterstützen kann. Die Familienmitglieder gehen einer geregelten Arbeit nach (der Bruder) oder beziehen Unterstützung vom Staat (der Vater der nicht mehr arbeitet; die beiden Schwestern, die aber vor Corona bzw die ältere Schwester N XXXX vor ihrer Scheidung ebenfalls gearbeitet haben – VHS, 10). Der Vater des BF kann den Kontakt mit seinen Verwandten in KABUL herstellen, dass er nicht weiß, wo sich diese befinden ist – vor dem Hintergrund der Länderberichte zum Netzwerk von Großfamilien und seiner eigenen Aussagen, wonach ihn ein Onkel mütterlicherseits bei der Ausreise unterstützt hat und die Leiche seiner Frau nach Kabul zurückgebracht wurde, um sie dort zu beerdigen (VHS, 12) - nicht glaubhaft.

Der BF ist in Afghanistan nicht vorbestraft, war dort nie inhaftiert, war kein Mitglied einer politischen Partei oder sonstigen Gruppierung, hat sich nicht politisch betätigt und hatte keine Probleme mit staatlichen Einrichtungen oder Behörden im Heimatland.

Die Fluchtgeschichte, die der Vater des BF am 22.10.2002 und am 23.07.2017 vor der belangten Behörde erzählt hat – wonach es Grundstücksstreitigkeiten und Bedrohungen seiner mit den Taliban zusammenarbeitenden Cousins bzw der Nachkommen der Kinder seines Onkels väterlicherseits gab – und er deshalb ausreisen musste, ist nicht glaubhaft. Er konnte bei den Einvernahmen keine Details nennen und hat beim BVwG eine Gefährdung seines Sohnes durch diese nicht einmal erwähnt, sondern nur von der allgemeinen Sicherheitslage gesprochen (VHS, 14). Der Vater des BF hat sein Haus, sein Auto und seine Grundstücke an seinen Onkel mütterlicherseits in KABUL verkauft, der ihm dafür bei der Ausreise geholfen hat (VHS, 13). Dem BF drohte und droht von seinen Verwandten keine Gefahr und halten sich diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach wie vor in KABUL auf.

1.2. Zum Leben des BF in Österreich

1.2.1. Zu Dauer, Qualität und (Un-)Sicherheit des Aufenthaltsstatus

Nach seiner legalen Einreise in das Bundesgebiet war der BF zunächst ab 20.12.2005 als Asylwerber aufhältig und erhielt nach mehreren Rechtsgängen am 23.08.2006 subsidiären Schutz im Familienverfahren.

Er war immer nur befristet als subsidiär Schutzberechtigter aufhältig, weil weder seinem Vater noch ihm selbst der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde. Der BF hatte zu keinem Zeitpunkt eigene Fluchtgründe. Aufgrund der ständigen Erforderlichkeit einer Antragstellung zur Verlängerung seines Status, dem ersten Aberkennungsversuch durch das BFA am 05.10.2011, der nur aus rechtlichen Gründen nicht erfolgreich war und spätestens seit Einleitung des zweiten Aberkennungsverfahrens am 09.01.2017 musste ihm sein unsicherer Aufenthaltsstatus bewusst sein, insbesondere dann, wenn er Straftaten begeht. Sein damaliger Anwalt hat ihm gesagt, dass er aufgrund der Straftaten um keinen Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz bekommen wird (VHS, 15).

Seinen Anträgen auf Verlängerung der ihm befristet erteilten Aufenthaltsberechtigungen wurden mit den im Verfahrensgang angeführten Bescheiden 2013, 2014, 2016 und zuletzt am 05.08.2018 – trotz des laufenden Aberkennungsverfahrens (!?) - verlängert. Die gegen ihn zweimal eingeleiteten Aberkennungsverfahren, wegen der Begehung von Straftaten waren nicht erfolgreich (Jugendstraftat) bzw wurden aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht weiterverfolgt.

Er hat Österreich auch zumindest zweimal verlassen und war längere Zeit in NORWEGEN und wollte nach DEUTSCHLAND. Dass die letzte Ausreise unbeabsichtigt im Rahmen einer Fahrt über das deutsche Eck wegen seines Arbeitsverhältnisses in Tirol erfolgte ist nicht glaubhaft (VHS, 9), weil der Aufgriff am 05.04.2019 gemeinsam mit seiner Freundin SCH erfolgte und der BF in diesem Zeitraum keiner Arbeit nachging und lt ZMR „obdachlos“ gemeldet war (vgl vorne I.24.).

1.2.2. Zu Selbsterhaltungsfähigkeit, Erwerbstätigkeiten, Ausbildungen etc.

Zu Beginn seines Aufenthalts war der BF nicht selbsterhaltungsfähig und lebte von der Grundversorgung. Der BF hat es trotz seiner Deutschkenntnisse auch bis dato nicht geschafft am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er hatte immer nur kurze Anstellungen (die längste war rund 6 Monate bei einem Lebensmitteldiskonter) in verschiedenen Branchen: Catering, Gastgewerbe, Bau, Hausbetreuung, Lebensmitteleinzelhandel (vgl vorne I.24.). Dass er diese Arbeitsstellen wegen seiner Vorstrafen verloren hat, ist nicht glaubhaft, weil ein Strafregisterauszug bereits vor der Einstellung vorgelegt werden muss. Der BF hat in der Verhandlung viel mehr den Eindruck eines stets gut gelaunten Lebenskünstlers vermittelt, der zwar Arbeitserfahrungen in vielen Bereichen gesammelt hat, insgesamt aber immer nur kurze Zeit arbeitet und von Arbeitslosengeld bzw von der Notstandshilfe sowie vom Einkommen seiner Lebensgefährtin lebt (VHS, 6 und ON 19).

1.2.3. Zu Wohnverhältnissen und privaten Bindungen in Österreich

Der BF wohnt (den Angaben der Zeugin SCH nach) seit ca 5 Jahren (Sommer 2015) in deren Wohnung VHS, 5). Diese zahlt die Wohnung und er leistet nur gelegentlich Beiträge durch Hausarbeit, Spazierengehen mit dem Hund und kleinere Einkäufe (VHS, 7). Wenn er selbst Geld hat, ist dieses binnen einer Woche weg (VHS, 8).

Dass der BF seit Sommer 2015 mit seiner Lebensgefährtin zusammen in einem Haushalt lebt ist nicht glaubhaft. Lt ZMR war er kein einziges Mal an der Adresse ihrer Wohnung (VHS, 5) gemeldet und ist auch aktuell (seit 08.04.2020) nicht bei ihr gemeldet. Davor war er von 04.11.2019-07.02.2020 in einer Obdachlosenunterkunft (die rund 2 Monate dazwischen war er obdachlos). Davor war er in einer Unterkunft des Vereins Neustart (26.02.2018-11.07.2018 und 25.09.2017-26.02.2018 (dazwischen rund 2 Monate nirgends gemeldet). Von 31.08.2018-09.05.2019 wieder obdachlos. Von 20.06.2017-25.09.2017 ebenfalls obdachlos. Davor ergibt sich eine größere Lücke bis er von 10.01.2017-02.06.2017 in einer Männerunterkunft einer Justizanstalt auftaucht von wo er direkt aus dem Gefängnis kommend, wo er von 22.09.2016-10.01.2017 war, untergebracht wurde. Von 01.09.2015-30.10.2015 war er in einer Privatunterkunft in WELS. Von 14.08.2014-14.11.2014 bei seiner Schwester N XXXX und davor von 10.05.2010-14.08.2014 in drei verschiedenen Privatunterkünften in WIEN. Von 02.03.2009-10.05.2010 wohnte er bei seinem Vater, davor ab 23.11.2006 in einer Privatunterkunft in WIEN und wiederum davor ab 25.04.2006 bei seinem Vater. Von 09.05.2019-12.06.2019 hatte er einen Nebenwohnsitz in Tirol und von 25.02.2013-25.03.2013 und von 20.06.2008-06.04.2009 im Gefängnis.

Er hatte Ende 2019 bis April 2020 eine weitere Beziehung neben der SCH (VHS, 4).

Dass die SCH schwanger ist, steht nicht fest, sie hat keine medizinischen Unterlagen dafür vorgelegt und ist sich auch selbst nicht sicher. Sie hat nach ihren eigenen Angaben bereits zweimal ein Kind vom BF abgetrieben (VHS, 7) und wurde vom BF auch geschlagen (VHS, 6) und fühlte sich ausgenutzt und bedroht (lt ihrer Aussage bei der Polizei anlässlich ihrer Anzeige wegen Körperverletzung – BVwG/ON 16/AS17). All das spricht nicht für eine dauerhafte Lebensgemeinschaft in einem gemeinsamen Haushalt.

Der BF hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung mit einer Norwegerin und müsste für dieses Kind Unterhalt (iHv 2.480 NOK = 268 EUR monatlich) zahlen, was er aber nicht tut, was sich schon daraus ergibt, dass er in der Verhandlung die Höhe des monatlichen Unterhalts mit 6000-7000 Kronen bzw 600 EUR angab. Er hat seine Tochter, die im Oktober 2012 geboren ist, seitdem er aus Norwegen wieder nach Österreich zurückgekommen ist (also vor rund fünf Jahren), nicht mehr gesehen, weil die Mutter den Kontakt nicht will (VHS, 13, 15).

Sonst hat er keine Freundschaften in Österreich, beteiligt sich nicht am kulturellen Leben und ist auch nicht in Vereinen oder sonst ehrenamtlich engagiert (VHS, 11). Er trinkt Alkohol (Urteil des BG vom 09.03.2020), geht nicht mehr in die Moschee und fastet auch nicht. Sein Glaube hat für ihn keine Bedeutung (VHS, 11). Er lebt in Österreich nicht nach den afghanischen Regeln und Gebräuchen – die er aber aus seiner Kindheit und dem Kontakten zu seiner Familie und der afghanischen Diaspora in Österreich kennt. Auch einige seiner Unterkunftgeber haben afghanische Namen. Seine ältere Schwester N XXXX war für ihn der Mutterersatz (VHS, 10). Sie war früher berufstätig, ist nun geschieden und Mutter von zwei eigenen Kindern.

1.2.4. Der BF ist in Österreich mehrfach, unter anderem wegen Gewalttaten und Suchtmittelhandel, vorbestraft und war auch mehrere Monate im Gefängnis.

Zwischen 2008 und 2016 wurde der BF wegen folgender Straftaten verurteilt:

08.08.2008, XXXX /2008v durch das LGS XXXX - schwerer Raub (§§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 dritter Fall StGB)

Er hat als fast 16-jähriger Jugendlicher am 06.06.2008 einer 77-jährigen Frau, der er und ein Komplize nachgegangen waren, die Handtasche entrissen, um an ihr Bargeld und ihre Wertsachen zu kommen. Bei dem damit verbundenen Sturz verletzte sich diese schwer. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt, wobei 20 Monate bedingt auf drei Jahre nachgesehen und die Vorhaft von 06.06.2008-08.08.2008 angerechnet wurde. Der BF verantwortete sich damals damit, dass er von seinem Komplizen dazu angestiftet worden wäre, obwohl in Wirklichkeit er den Tatentschluss gefasst und den Raub auch ausgeführt hatte, während sein Komplize nur zugeschaut und mit ihm gemeinsam geflüchtet war. Das Gericht beurteilte als mildernd, den bis dorthin ordentlichen Lebenswandel, das Geständnis, die objektive Schadenswidergutmachung und als erschwerend die besonders brutale Vorgehensweise. Die Verbüßung einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe und die Anordnung von Bewährungshilfe wurden – trotz der als erheblich beurteilten kriminellen Energie - als ausreichend betrachtet (Strafurteil BVwG/AS 91-107).

17.06.2010, XXXX /2010p durch das BG XXXX - Diebstahl und Körperverletzung (§§ 127, 83 StGB)

Er hat als 18-Jähriger am 12.11.2009 mit einem Mittäter und zwei Mittäterinnen 2 Westen, 1 Hose, 1 T-Shirt eine Jacke und am 14.01.2010 2 Boxershorts bei zwei verschiedenen Bekleidungsketten gestohlen und am 08.02.2010 alleine ein Mädchen durch Versetzen eines Fußtrittes gegen den Oberkörper und gegen das Kinn am Körper leicht verletzt. Er wurde dafür zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten bedingt auf 3 Jahre verurteilt. Mildernd wurden die problematischen familiären Verhältnisse, das teilweise Geständnis und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, gewertet. Als erschwerend wurden, dass Zusammentreffen mehrerer Vergehen und die einschlägige Vorstrafe gewertet (Strafurteil BVwG/AS 75-81).

12.12.2012, XXXX /2012y durch das BG XXXX - Körperverletzung (§ 83 Abs 1 StGB)

Er hat als fast 19-Jähriger am 09.07.2011 im Zuge einer Rauferei seinem männlichen Opfer einen Faustschlag gegen den Kopf versetzt, sodass dieser eine Schädelprellung erlitten hat. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 1 Monat verurteilt, die Probezeit wurde auf fünf Jahre verlängert. Mildernd wurde die Tatbegehung zwischen 18 und 21 Jahren, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe gewertet (Strafurteil BVwG/AS 87-90).

15.11.2016, XXXX /2016v durch das LGS XXXX – Suchtgifthandel/versuchter Diebstahl (§§ 27 Abs 1 Z 1 erster Fall, Abs 2, 27 Abs 2a zweiter Fall SMG und §§ 15, 127 StGB)

Er hat als 24-Jähriger im Jahr 2016 zweimal Kokain zum Eigengebrauch erworben, am 26.10.2016 einem verdeckten Ermittler auf einer öffentlichen Verkehrsfläche, zuvor zu diesem Zweck erworbenes Kokain verkauft sowie bereits am 31.08.2015 ein teures Parfüm in einem Drogeriemarkt versucht zu stehlen und wurde dabei auf frischer Tat betreten. Er wurde zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt, wobei die Vorhaft von 26.10.2016 bis 15.11.2016 angerechnet wurde. Mildernd wurde das Geständnis und das es beim Diebstahl beim Versuch geblieben ist, erschwerend die einschlägigen Vorstrafen und das Zusammentreffen mehrerer Vergehen gewertet (Strafurteil BVwG/AS 71-73).

14.12.2016, XXXX /2016y durch das LGS XXXX – Versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB)

Er hat als 24-Jähriger am 27.07.2016 einem Beamten der Parkraumüberwachung durch eine gefährliche Drohung versucht an einer Amtshandlung zu hindern, indem er äußerte, „Schleich dich du Arschloch, sonst kannst du war erleben, ich schneide dir gleich den Kopf ab. Ich scheiße auf Österreich.“ Er wurde – da er zum Urteilszeitpunkt in Strafhaft war – zu zwei Monaten zusätzlicher Freiheitsstrafe verurteilt. Mildernd wurde gewertet, dass es beim Versuch geblieben ist, erschwerend der rasche Rückfall und die einschlägigen Vorstrafen (Strafurteil BVwG/AS 83-85).

Zu einer weiteren Anzeige wegen Körperverletzung an seiner Lebensgefährtin SCH vom 10.11.2019 - sie warf ihm vor, dass er sie im Zuge eines Streites gewürgt, ins Gesicht und auf den Brustkorb geschlagen und ihr die Nase gebrochen hätte - erfolgte am 09.03.2020, nachdem die SCH ihre Aussage vor Gericht verweigert hatte, ein Freispruch im Gerichtsverfahren vor dem BG XXXX , XXXX , weil kein Schuldbeweis geführt werden konnte (BVwG/ON 16).

Die SCH gab dazu in der Verhandlung vor dem BVwG als Zeugin an, dass es eine normale Streiterei gewesen sei, wie in jeder Beziehung, er habe sie „diesmal“ nicht geschlagen, die Nase sei schon vorher gebrochen gewesen (VHS, 5,6).

Der BF hat zu den Vorstrafen in der Verhandlung vor dem BVwG im Wesentlichen angegeben, er würde zu keinem Österreicher sagen, dass er ihm den Kopf abschneiden würde, er habe das nicht gesagt. Es tue ihm echt leicht. Er habe sich echt geändert. Er werde wieder arbeiten, es sei aber schwer wegen dem Leumundszeugnis. Er wolle eine allerletzte Chance, arbeiten, seine Tochter besuchen und sich mit seiner Verlobten ein Leben aufbauen (VHS, 15).

1.2.5. Der BF ist im Vergleich zum Zeitpunkt der Erlassung der vorhergehenden Bescheide (aus 2006, 2012, 2013, 2014, 2016 und 05.08.2018) älter und reicher an Lebens- und Berufserfahrung. Nach dem 05.08.2018 hat er ca 1 Monat in einem Ski-Gebiet in der Gastronomie in TIROL, rund zwei Wochen bei einer Hausbetreuung in TIROL und dann dreimal je ca 2 Wochen bei einer Baufirma in WIEN gearbeitet.

Davor hat er längere Berufserfahrung im Lebensmitteleinzelhandel gemacht.

1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF in sein Herkunftsland

Diesbezüglich haben sich die persönlichen Umstände nachhaltig geändert, weil das BVwG aufgrund der Angaben des Vaters des BF beim BVwG nunmehr – im Vergleich noch zu dessen Angaben beim BFA im Jahr 2018 - davon ausgehen muss, dass der BF über ein familiäres Netzwerk in Kabul verfügt, dass ihn nicht bedroht, sondern unterstützen kann. Sodass eine entsprechende Unterkunft und Verpflegung durch die dort vor Ort befindlichen Verwandten ebenso vorhanden ist, wie ein Einweisung in die afghanischen Gepflogenheiten/Gebräuche/Verhaltensregeln und Örtlichkeiten. Die finanzielle Unterstützung kann, bis sich der BF dort selbst erhalten kann, aus Österreich durch die hier verbliebenen Angehörigen der Kernfamilie im Wege des Bankwesen erfolgen.

Im Fall einer Rückkehr an den Ort seiner Geburt und Herkunft, Kabul, wäre der BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit daher nicht einer Gefahr durch den Eintritt eines ernsthaften Schadens im Sinne entweder der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder einer Behandlung wie Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt, die auf Faktoren beruht, die den afghanischen Behörden direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind (sei es der Art, dass die Behörden Afghanistan ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren würden, oder der Art, dass diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückginge, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen könnten).

Das LIB der Staatendokumentation vom 13.11.2019, spricht bei Kabul von der bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel 2.1 und Kapitel 2.35).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.1).

Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In Kabul leben 70.000 bis 80.000 Binnenvertriebene (LIB, Kapitel 2.1).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war in den letzten Jahren das Zentrum dieses Wachstums. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung Kabuls lebt in informellen Siedlungen (Slums), welche den meisten Einwohnern der Stadt preiswerte Wohnmöglichkeiten bieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Es gibt eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. (LIB, Kapitel 20).

Die Gehälter in Kabul sind in der Regel höher als in anderen Provinzen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) stufte Kabul im Dezember 2018 als „gestresst“ ein, was bedeutet, dass Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch aufweisen und nicht in der Lage seien sich wesentliche, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Schätzungen zufolge haben 32% der Bevölkerung Kabuls Zugang zu fließendem Wasser, und nur 10% der Einwohner erhalten Trinkwasser. Diejenigen, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Einwohner von Kabul sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. Der Großteil der gemeinsamen Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt ist durch häusliches und industrielles Abwasser verseucht, das in den Kabul-Fluss eingeleitet wird, was ernste gesundheitliche Bedenken aufwirft. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul verfügt über sanitäre Grundversorgung (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Kabul besteht Zugang zu öffentlichen und privaten Gesundheitsdiensten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner ua in Kabul um ihre Existenz. Tagelöhner können aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten, das Gesundheitssystem ist fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Mobiltelefonie ist weit verbreitet, Internet und soziale Medien vor allem in den städtischen Zentren verfügbar (LIB, 10).

Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen (USDOS 20.4.2018). Nichtsdestotrotz versucht die afghanische Regierung die gebildete Jugend, die aus Pakistan zurückkehrt, aufzunehmen (BTI 2018). Von den 2.1 Millionen Personen, die in informellen Siedlungen leben, sind 44% Rückkehrer/innen. In den informellen Siedlungen von Nangarhar lebt eine Million Menschen, wovon 69% Rückkehrer/innen sind. Die Zustände in diesen Siedlungen sind unterdurchschnittlich und sind besonders wegen der Gesundheits- und Sicherheitsverhältnisse besorgniserregend. 81% der Menschen in informellen Siedlungen sind Ernährungsunsicherheit ausgesetzt, 26% haben keinen Zugang zu adäquatem Trinkwasser und 24% leben in überfüllten Haushalten (UN OCHA 12.2017).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Im Jangalak Aufnahmezentrum befanden sich 24 Zimmer, mit jeweils 2-3 Betten. Jedes Zimmer war mit einem Kühlschrank, Fernseher, einer Klimaanlage und einem Kleiderschrank ausgestattet. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Unterschiedliche Organisationen sind für Rückkehrer/innen unterstützend tätig:

IOM (internationale Organisation für Migration) bietet ein Programm zur unterstützten, freiwilligen Rückkehr und Reintegration in Afghanistan an (Assisted Voluntary Return and Reintegration – AVRR). In Österreich wird das Projekt Restart II seit 1.1.2017 vom österreichischen IOM-Landesbüro implementiert, welches vom österreichischen Bundesministerium für Inneres und AMIF (dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU) mitfinanziert wird. Im Zuge dieses Projektes können freiwillige Rückkehrer/innen nach Afghanistan und in den Iran, nachhaltig bei der Reintegration in ihr Herkunftsland unterstützt werden. Das Projekt läuft mit 31.12.2019 aus und sieht eine Teilnahme von 490 Personen vor. IOM setzt im Zuge von Restart II unterschiedliche Maßnahmen um, darunter Rückkehr – und Reintegrationsunterstützung. In Kooperation mit Partnerninstitutionen des European Reintegration Network (ERIN) wird im Rahmen des ERIN Specific Action Program, nachhaltige Rückkehr und Reintegration freiwillig bzw. zwangsweise rückgeführter Drittstaatangehöriger in ihr Herkunftsland implementiert. IRARA (International Returns & Reintegration Assistance) eine gemeinnützige Organisation bietet durch Reintegrationsdienste nachhaltige Rückkehr an. ACE (Afghanistan Centre for Excellence) ist eine afghanische Organisation, die Schulungen und Arbeitsplatzvermittlung anbietet. AKAH (Aga Khan Agency for Habitat) ist in mehreren Bereichen tätig, zu denen auch die Unterstützung von Rückkehrer/innen zählt. Sowohl ACE als auch AKAH sind Organisationen, die im Rahmen von ERIN Specific Action Program in Afghanistan tätig sind. AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation) bietet zwangsweise zurückgekehrten Personen aus Europa und Australien Beratung und Unterstützung an. Unter anderem betreibt AMASO ein Schutzhaus, welches von privaten Spendern finanziert wird (BFA Staatendokumentation 4.2018).

NRC (Norwegian Refugee Council) bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an. Auch hilft NRC Rückkehrer/innen bei Grundstücksstreitigkeiten. Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrer/innen aus Pakistan sollen auch die Möglichkeit haben die Schule zu besuchen. NRC arbeitet mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern. IDPs werden im Rahmen von Notfallprogrammen von NRC mit Sachleistungen, Nahrungsmitteln und Unterkunft versorgt; nach etwa zwei Monaten soll eine permanente Lösung für IDPs gefunden sein. Auch wird IDPs finanzielle Unterstützung geboten: pro Familie werden zwischen 5.000 und 14.000 Afghani Förderung ausbezahlt. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

UNHCR ist bei der Ankunft von Rückkehrer/innen anwesend, begleitet die Ankunft und verweist Personen welche einen Rechtsbeistand benötigen an die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission). UNHCR und die Weltbank haben im November 2017 ein Abkommen zur gemeinsamen Datennutzung unterzeichnet, um die Reintegration afghanischer Rückkehrer/innen zu stärken. UNHCR leitet Initiativen, um nachhaltige Lösungen in den Provinzen Herat und Nangarhar zu erzielen, indem mit nationalen Behörden/Ministerien und internationalen Organisationen (UNICEF, WHO, IOM, UNDP, UN Habitat, WFP und FAO) zusammengearbeitet wird. Diese Initiativen setzen nationale Pläne in gemeinsame Programme in jenen Regionen um, die eine hohe Anzahl an Rückkehrer/innen und Binnenvertriebenen vorzuweisen haben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung

Hilfeleistungen für Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft (wenngleich sich das Jangalak-Aufnahmezentrum bis September 2017 direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand, wurde dieses dennoch von IOM betrieben und finanziert). Seit 2016 erhalten die Rückkehr/innen nur Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft (siehe Jangalak-Aufnahmezentrum). Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben – und zu welchen Bedingungen – sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Ausführliche Informationen zu den Programmen und Maßnahmen der erwähnten Organisationen sowie weitere Unterstützungsmaßnahmen können dem FFM-Bericht Afghanistan 4.2018 entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Die Rolle unterschiedlicher Netzwerke für Rückkehrer/innen

Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile „universell“ geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen „professionellen“ Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (Punkt 21 und 22 des LIB)

Auch die Voraussetzungen der „EASO – Country Guidance Afghanistan, Juni 2019“ für länger im Ausland aufhältige Rückkehrer sind erfüllt. Auf den Seiten 136 und 139 des Berichtes wird Folgendes ausgeführt:

"Local knowledge: Having lived in Afghanistan and/or being familiar with the societal norms is an important factor to take into account when assessing the reasonableness of IPA. […]"

"Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsis-tence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations.

For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence."

Der BF hat selbst zumindest bis zu seinem 10 Lebensjahr in Kabul gelebt und damit die Gelegenheit die lokalen Sitten und Gebräuche kennenzulernen. Es ist auch davon auszugehen, dass er in seiner Zeit in Pakistan in der afghanischen Diaspora aufhältig war, weil er nur Dari und Paschtu beherrscht. Auch wenn der BF, das in Abrede stellt, ist davon auszugehen, dass er auch in Österreich mit Afghanen verkehrt und hat er eine große Kernfamilie (zwei ältere Schwestern, einen jüngeren Bruder und den Vater). Da der Vater des BF und damit auch der BF über Verwandte in KABUL verfügt, können ihn diese mit den allenfalls veränderten lokalen Gegebenheiten und Gepflogenheiten vertraut machen und kann er deren Netzwerk nutzen. Er kann, selbst, wenn diese nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen sollten, durch die finanzielle Unterstützung seiner Verwandten aus Österreich für deren Hilfeleistung sogar bezahlen. Der BF hat bei seinen Aufenthalten in Österreich und in Norwegen bewiesen, dass er in der Lage ist, sich an vorerst fremde kulturelle Gegebenheiten anzupassen. Da für ihn sein Glaube keine Bedeutung hat (VHS 11), wird es ihm auch nichts ausmachen, sich zumindest äußerlich anzupassen. Er verfügt – auch wenn er keinen Abschluss vorweisen kann – über eine für afghanische Verhältnisse brauchbare Bildung, kann moderne Kommunikationsmittel bedienen und beherrscht die beiden Landessprachen, sodass der Wissenstransfer gesichert ist.

Die Bedenken der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 hinsichtlich des Nichtvorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul treffen auf den BF nicht zu, da es sich beim BF um einen in Kabul geborenen und zumindest dort bis zum 10 Lebensjahr aufgewachsenen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt, der wie festgestellt über familiäre Anknüpfungspunkte vor Ort und finanzielle Unterstützung aus Österreich verfügt.

Zur COVID-19 Situation in AFGHANISTAN ist der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 29.06.2020 zu entnehmen, dass sich die Epidemie dort ausbreitet, mehr als 30.000 Menschen erkrankt sind, eine hohe Dunkelziffer besteht und aufgrund der Armut und des darniederliegenden Gesundheitssystems praktisch keine wirksamen Maßnahmen getroffen werden können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf Maßnahmen wie Mund-Nasenschutz, stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wi

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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