TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/21 W261 2175224-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.07.2020
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Entscheidungsdatum

21.07.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W261 2174644-1/18E

W261 2175224-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerden von

1.        XXXX , geb. XXXX ,

2.        XXXX , geb. XXXX ,

beide StA. Afghanistan, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian SCHMAUS, jeweils gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien vom

1.       22.09.2017, Zl. XXXX ,

2.       22.09.2017, Zl. XXXX ,

nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

II.     Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und den Beschwerdeführern wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden den Beschwerdeführern befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte III. und IV. der angefochtenen Bescheide ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I.       Verfahrensgang:

1. Die beiden Beschwerdeführer, zwei Brüder und Staatsangehörige Afghanistans, stellten nach gemeinsamer Einreise am 23.08.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fanden ihre Erstbefragungen vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Der zu diesem Zeitpunkt noch minderjährige Erstbeschwerdeführer gab dabei zu seinen Fluchtgründen an, vor ca. 5-6 Jahren sei sein Vater von einem bewaffneten Mann erschossen worden. Dieser habe ihre Grundstücke zwangsweise an sich nehmen wollen. Aus diesem Grund habe ein Bruder Afghanistan vor einiger Zeit verlassen. Dann seien sein Bruder, seine Mutter und er in den Iran gereist, wo sie auch gelebt hätten. Im Iran hätten sie keine Rechte gehabt, und ihre Mutter habe dann beschlossen, dass sie auch den Iran verlassen sollten.

Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen gleichlautend an, vor ca. fünf bis sechs Jahren sei sein Vater von einem bewaffneten Mann getötet worden. Dieser habe ihr Haus zwangsweise an sich nehmen wollen. Aus diesem Grund habe ein Bruder Afghanistan vor einiger Zeit verlassen. Dann seien sein Bruder, seine Mutter und er in den Iran gereist, wo sie auch gelebt hätten. Im Iran hätten sie keine Rechte gehabt, und ihre Mutter habe dann beschlossen, dass sie auch den Iran verlassen sollten. Er habe auch Angst gehabt, wieder nach Afghanistan abgeschoben zu werden.

2. Die Ersteinvernahmen der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fanden am 29.08.2017 statt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen an, er sei Hazara und schiitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX bei Besud in der Provinz Maidan Wardak, wo er bis zu seinem 12. Lebensjahr gelebt habe. Danach sei er in den Iran gereist, wo er bis zu seinem 16. Lebensjahr gelebt habe. Er habe keine Verwandten in Afghanistan, seine Mutter und deren Schwester lebten im Iran. Sein Bruder XXXX lebe bereits seit ca. zehn Jahren in Österreich. Er habe zwei bis drei Jahre eine Koranschule und ein Jahr eine afghanische Schule im Iran besucht. Im Rahmen der Einvernahme legte er einen afghanischen Reisepass, eine Tazkira und Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst an, die Nomaden und die Taliban hätten ihr Dorf überfallen und sehr viele Häuser zerstört. Der Anführer XXXX habe von früher Feindschaften mit seinem Vater gehabt. XXXX habe seinem Vater gesagt, dass er mit den Taliban und den Nomaden zusammengearbeitet habe, deshalb sei ihr Haus nicht zerstört worden. Kurze Zeit später sei sein Vater durch XXXX Leute entführt worden. Auch sein Bruder XXXX sei festgenommen worden und nach seiner Freilassung nach Europa geflüchtet. Nach ca. drei Jahren hätten Nachbarn die Leiche seines Vaters entdeckt. Zwei Monate darauf seien sie erneut von den Nomaden überfallen worden. Deshalb seien sie mit den anderen Dorfbewohnern nach Besud und von dort in den Iran geflüchtet. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst vor den Taliban und den Selbstmordattentätern, außerdem habe er niemanden in Afghanistan, der ihn unterstützen würde. Er sei von den Taliban auch bedroht worden, weil er Schiit sei.

Der Zweitbeschwerdeführer gab zu seinen persönlichen Umständen an, er sei Hazara, Angehöriger der Untergruppe der Sadat und schiitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX bei Besud in der Provinz Maidan Wardak, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahr gelebt habe. Danach sei er in den Iran gereist, wo er bis zu seinem 19. Lebensjahr gelebt habe. Er habe keine Verwandten in Afghanistan, seine Mutter und eine Tante lebten im Iran. Sein Bruder XXXX lebe bereits seit ca. zehn Jahren in Österreich, auch ein Onkel mütterlicherseits lebe hier. Er habe drei Jahre eine Koranschule besucht und als Hilfsarbeiter auf dem Bau gearbeitet. Im Rahmen der Einvernahme legte er einen afghanischen Reisepass, eine Tazkira und Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, in ihrem Dorf habe es sehr viele Taliban-Anhänger gegeben. Diese hätten mit den Nomaden ihr Dorf überfallen. Sie hätten die Häuser in Brand gesetzt und alles zerstört, nicht aber das Haus der Beschwerdeführer. Der Anführer XXXX habe mit seinem Vater bereits Feindschaften gehabt und ihm vorgeworfen, dass er mit den Taliban zusammengearbeitet habe. Deshalb sei ihr Haus nicht zerstört worden. Sein Vater sei bedroht und kurze Zeit später mitgenommen worden. Sein Bruder XXXX sei ebenfalls bedroht worden. Danach habe seine Mutter diesen nach Europa geschickt, damit er nicht entführt werde. Nach ca. drei Jahren sei die Leiche seines Vaters entdeckt worden. Seine Mutter und er seien zur Leiche gegangen und hätten ihn begraben. Später seien sie erneut von den Taliban angegriffen worden, und danach nach Besud und anschließend in den Iran gegangen. Im Fall der Rückkehr sei er auch als Schiit in Gefahr, sie würden von den IS-Anhängern und den Taliban verfolgt und getötet.

3. Mit verfahrensgegenständlichen Bescheiden vom 22.09.2017 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurden den Beschwerdeführern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebungen nach Afghanistan zulässig seien (Spruchpunkt III.). Die Fristen für die freiwillige Ausreise wurden mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen (gleichlautend) aus, es sei den Beschwerdeführern nicht gelungen, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Ihre Schilderungen seien oberflächlich und stünden insbesondere in völligem Widerspruch zu den Angaben ihres Bruders XXXX , IFA XXXX , der eine Entführung ihres Vaters mit keinem Wort erwähnt habe, sowie teilweise auch zu den Angaben des jeweils anderen. Die Beschwerdeführer seien gesund, arbeitswillig und im arbeitsfähigen Alter. Es sei ihnen zuzumuten, sich mithilfe der eigenen Arbeitsleistung den Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern. Zwar sei ihre Heimatprovinz Maidan Wardak volatil, bei einer Rückkehr in die Stadt Kabul drohe ihnen jedoch weder ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit noch könnten sie in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

4. Die Beschwerdeführer erhoben gegen die Bescheide durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Schreiben vom 06.10.2017 fristgerecht Beschwerde. Sie brachten im Wesentlichen vor, ihnen drohe Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. Verfolgung aus politischen Gründen. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei angesichts ihrer ausführlichen und konkreten Angaben nicht überzeugend. Die Bedrohungslage gehe aus den Länderberichten klar hervor. Entsprechend den Risikoprofilen der UNHCR-Richtlinien wären die Beschwerdeführer auch aufgrund ihres langjährigen Auslandsaufenthaltes in Gefahr, als „verwestlicht“ angesehen zu werden. Zudem würden sie im Fall einer Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten, da sie keinerlei familiäre oder soziale Unterstützung in Afghanistan erwarten könnten. Auch die allgemeine Sicherheitslage lasse eine Rückkehr nicht zu.

5. Die belangte Behörde legte die Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 24.10.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo das Verfahren des Erstbeschwerdeführers am 25.10.2017 in der Gerichtsabteilung W263 und das Verfahren des Zweitbeschwerdeführers am 02.11.2017 in der Gerichtsabteilung W269 einlangte.

6. Mit Aktenvermerk vom 06.11.2017 erklärte sich die Leiterin der Gerichtsabteilung W269 bezüglich des Verfahrens des Zweitbeschwerdeführers infolge Annexität zum Verfahren des Erstbeschwerdeführers für unzuständig, woraufhin ersteres der Gerichtsabteilung W263 zugewiesen wurde und dort am 07.11.2017 einlangte.

7. Mit Eingaben vom 20.12.2017 und 13.03.2018 legten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung diverse Integrationsunterlagen vor.

8. Mit Eingabe vom 27.08.2018 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie zunächst erneut ausführten, sie seien durch den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften in ihren Rechten verletzt worden. Zu beachten sei, dass die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt ihrer Flucht aus Afghanistan gerade einmal 15 bzw. 12 Jahre und zum Zeitpunkt der relevanten Vorkommnisse 11 bzw. 8 Jahre alt gewesen seien. Folglich hätten sie über die genauen Vorkommnisse nur rudimentäre Kenntnisse. Gänzlich übersehen habe die belangte Behörde, dass der zum damaligen Zeitpunkt bereits geflohene Bruder über die genauen Vorkommnisse zur Entführung und zum Tod des Vaters keine Kenntnis gehabt habe. Die marginalen Widersprüche im Vorbringen der Beschwerdeführer seien nicht zuletzt ihrem kindlichen Alter geschuldet, wobei sie vieles lediglich vom Hörensagen wüssten, bzw. sich an diese traumatischen Ereignisse nicht mehr im Detail erinnern könnten. Das Vorbringen stehe auch in Einklang mit Länderberichten zum Hazara-Kutschi-Konflikt. Die Beschwerdeführer hätten in Afghanistan aufgrund der falschen Unterstellung gegen ihre Familie asylrelevante Verfolgung durch Feinde des Vaters bzw. die Dorfgemeinschaft ebenso wie Übergriffe aufgrund ihrer exponierten Stellung als Hazara und Schiiten sowie Söhne einer alleinstehenden Frau durch die Mehrheitsgesellschaft, die Kutschi-Nomaden und die Taliban zu erwarten. Zudem drohe ihnen Verfolgung aufgrund ihrer „verwestlichten“ Weltanschauung und Wertehaltung. Auch die Sicherheits- und Versorgungslage sei in Afghanistan derart volatil, dass eine Rückkehr dorthin nicht möglich sei.

9. Mit Eingabe vom 07.08.2019 legten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen sowie Unterlagen zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft durch ihren Bruder XXXX vor.

10. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.01.2020 wurden die gegenständlichen Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W263 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo diese am 27.01.2020 einlangten.

11. Mit Eingabe vom 10.06.2020 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen ausführten, sie hätten sich in Österreich mittlerweile ein schützenswertes Privat- und Familienleben aufgebaut und sich während ihres beinahe fünfjährigen Aufenthaltes in näher dargelegter Hinsicht erfolgreich in die österreichische Gesellschaft integriert. Zudem seien die Beschwerdeführer nunmehr vom Islam abgefallen und aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten, weshalb ihnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aus diesem Grund Verfolgung drohen würde. Ihre Herkunftsprovinz sei nicht sicher und eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihnen insbesondere auch in Hinblick auf die aktuelle COVID-19-Pandemie, durch die sich die Versorgungslage verschärft habe, nicht zur Verfügung. Mit der Stellungnahme wurden Integrationsunterlagen, Unterstützungsschreiben sowie die Niederschriften zur Meldung der Religionsaustritte vorgelegt.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführer zu ihren Fluchtgründen und der Situation im Falle ihrer Rückkehr befragt wurden. Ihr Bruder XXXX wurde als Zeuge zu seinem Verhältnis zu den Beschwerdeführern befragt. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil, die Niederschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

13. Mit Eingabe vom 01.07.2020 erstatteten die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen ausführten, die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan stelle sich insbesondere aufgrund der derzeitigen Corona-Pandemie als derart volatil dar, dass eine Abschiebung eine reale Bedrohung der den Beschwerdeführern gemäß Art. 3 EMRK garantierten Rechte darstellen würde. Insbesondere Rückkehrende ohne soziales Netzwerk hätten auch in Mazar-e Sharif Schwierigkeiten, eine Arbeit und eine Unterkunft zu finden. Es sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer, die über kein soziales Netzwerk, keine abgeschlossene Berufsausbildung, keine sonstigen besonderen Fähigkeiten und nicht die notwendigen Eigenmittel für den Aufbau einer Existenz verfügten, bei einer Rückkehr keine Arbeit finden würden und obdachlos wären. Eine innerstaatliche Neuansiedlungsalternative sei ihnen daher nicht zumutbar.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Brüder.

Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der Untergruppe der Sayed Sadat sowie schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi und etwas Deutsch und Englisch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und der Untergruppe der Sayed Sadat sowie schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi, Deutsch und etwas Englisch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Die Beschwerdeführer stammen aus dem Dorf XXXX im Distrikt Besud in der Provinz Maidan Wardak. Ihr Vater hieß XXXX , er wurde vor ca. zehn oder elf Jahren in Afghanistan getötet. Ihre Mutter heißt XXXX und ist ca. 57 Jahre alt. Sie haben, abgesehen von einander, noch einen Bruder, XXXX . Er ist ca. 28 Jahre alt und lebt seit ca. zwölf Jahren in Österreich.

Die Beschwerdeführer haben keine ihnen bekannten Angehörigen in Afghanistan. Ihre Mutter und eine Tante mütterlicherseits leben in der Stadt XXXX im Iran. Sie haben regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter. Ein Onkel mütterlicherseits lebt in Österreich, zu diesem haben sie keinen Kontakt.

Der Erstbeschwerdeführer hat bis zu seinem 12. Lebensjahr in seinem Heimatdorf in einem eigenen Haus gelebt. Er besuchte dort zwei oder drei Jahre lang eine Koranschule. Danach übersiedelte er zusammen mit seiner Mutter und dem Zweitbeschwerdeführer in die Stadt XXXX im Iran, wo er ein Jahr lang eine afghanische Schule besuchte. Er hat keinen Beruf erlernt und noch nie gearbeitet.

Der Zweitbeschwerdeführer hat bis zu seinem 15. Lebensjahr in seinem Heimatdorf in einem eigenen Haus gelebt. Er besuchte dort drei Jahre lang eine Koranschule. Danach übersiedelte er zusammen mit seiner Mutter und dem Erstbeschwerdeführer in die Stadt XXXX im Iran, wo er illegal als Hilfsarbeiter im Baugewerbe arbeitete. Er hat keinen Beruf erlernt.

Die Beschwerdeführer verließen den Iran gemeinsam und stellten am 23.08.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Beschwerdeführer sind gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

1.2.1. Der Vater der Beschwerdeführer wurde durch einen Dorfkommandanten namens XXXX und dessen Anhänger entführt und ermordet, weil ihm diese unterstellten, mit den Kutschi-Nomaden zusammenzuarbeiten. Die Beschwerdeführer selbst wurden in Afghanistan niemals von XXXX , seinen Anhängern oder anderen Personen aufgesucht oder bedroht.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht den Beschwerdeführern individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch den Kommandanten XXXX , dessen Anhänger oder durch andere Personen, insbesondere auch nicht durch Kutschi-Nomaden.

1.2.2. Die Beschwerdeführer wuchsen als schiitische Muslime auf, sind derzeit allerdings wenig religiös interessiert und haben am 27.12.2019 bzw. 03.01.2020 ihren Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft erklärt. Sie beten und fasten aktuell nicht. Die Beschwerdeführer leben ihr aktuelles Desinteresse am Glauben jedoch nicht offen aus und treten auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Sie gehen keiner neuen religiösen Überzeugung nach. Es ist niemandem in Afghanistan bekannt, dass die Beschwerdeführer in Österreich angegeben haben, keine Muslime mehr zu sein.

1.2.3. Die Beschwerdeführer waren in Afghanistan wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu den Schiiten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.

Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

1.2.4.   Die Beschwerdeführer sind wegen ihres Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen ihrer Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität ausgesetzt. Die Beschwerdeführer haben sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung bei den Beschwerdeführern vor, die wesentlicher Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden ist, und die sie in Afghanistan exponieren würde.

Die Beschwerdeführer sind bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils oder ihrem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

1.3. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und halten sich zumindest seit August 2015 durchgehend in Österreich auf. Sie sind nach ihren Anträgen auf internationalen Schutz vom 23.08.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse, Werte- und Integrationskurse und Workshops zu diversen Themen, etwa PC-Kenntnissen, sozialen Themen, Ernährung und sexueller Aufklärung. Er verfügt mittlerweile über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. In seiner Freizeit nimmt er ehrenamtlich am Projekt „Käfig League“ der XXXX teil und spielt Tischtennis. Er ist Spieler der Meistermannschaft der XXXX , Sektion Tischtennis.

Der Erstbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über einen Arbeitsvorvertrag als Hilfsarbeiter bei der Firma XXXX .

Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse, Werte- und Integrationskurse und Workshops zu diversen Themen, etwa PC-Kenntnissen, Energie, sozialen Themen, Ernährung und sexueller Aufklärung. Er verfügt mittlerweile über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. In seiner Freizeit nimmt er ehrenamtlich am Projekt „Käfig League“ der XXXX teil und spielt Tischtennis und Rackleton. Er arbeitet ehrenamtlich für das XXXX und besucht seit August 2019 einer derer Deutschcafès.

Er nahm von Februar 2017 bis Jänner 2018 an einem Pflichtschulabschlusslehrgang teil und bestand im Februar 2018 die Pflichtschulabschlussprüfung. Im Schuljahr 2018/19 besuchte er die HTL XXXX . Derzeit besucht er die Abend-AHS des BG/BRG XXXX in XXXX .

Der Zweitbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht derzeit keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über eine verbindliche Einstellungszusage als Hilfsschulwart in der XXXX in XXXX ab 01.08.2020.

In Österreich lebt ein Bruder der Beschwerdeführer, XXXX , der mittlerweile österreichischer Staatsbürger ist. Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter (der Schwägerin und Nichte der Beschwerdeführer) in einem eigenen Haushalt. Die Beschwerdeführer haben regelmäßigen Kontakt und ein enges Verhältnis zu ihrem Bruder und seiner Familie. In Österreich lebt auch ein Onkel mütterlicherseits der Beschwerdeführer, zu dem sie keinen Kontakt haben.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Den Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen.

Den Beschwerdeführern ist auch eine Neuansiedlung in einer anderen Region Afghanistans, etwa in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, aufgrund ihren individuellen Umstände in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation derzeit nicht zumutbar.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan im Alter von 12 bzw. 15 Jahren verlassen und nie alleine und auf sich gestellt in Afghanistan gelebt. Beide haben einen wesentlichen Teil ihres Lebens außerhalb Afghanistans verbracht. Die Beschwerdeführer verfügen in Afghanistan über keine ihnen bekannten Angehörigen und somit kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung sie sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnten. Sie haben insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und in Kabul keine unterstützungswilligen Verwandten. Sie sind als Hazara und schiitischer Muslime mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Diskriminierungen ausgesetzt.

Die Beschwerdeführer sind junge, gesunde und arbeitsfähige Männer. Sie verfügen jedoch über keine Berufsausbildung oder sonstige besonderen Kenntnisse und wären daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und Ansiedlung in einer der genannten Städte zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Gerade diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich großteils in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Dasselbe gilt auch für die Unterkunftssituation. Auch die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen. Es wäre den geringqualifizierten Beschwerdeführern, die keine Berufsausbildung aufweisen und in diesen Städten niemanden kennen, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden.

Die bei den Beschwerdeführern jeweils vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihnen möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefen die Beschwerdeführer vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 29.06.2020 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-         EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO)

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan: Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan vom 12.07.2017

-        ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

1.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

1.5.1.1.  Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.2.1. Aktuelle COVID-19-Situation

Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: Der afghanischen Regierung zufolge leben 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit leben. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Infolge der COVID-19-Pandemie und damit verbundener Importeinschränkungen sowie gestiegener Nachfrage sind die Preise für Lebensmittel in Afghanistan, insbesondere für Grundnahrungsmittel, seit Mitte März 2020 stark gestiegen. So stiegen die Preise zwischen 14. März und 15. Juli 2020 für Weizenmehl um 12 %, für Weizen um 12 %, für Speiseöl um 34 %, für Hülsenfrüchte um 31 %, für Zucker um 21 % und für Reis um 7 % bzw. 20 % (niedrige bzw. hohe Qualität) (https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-countrywide-weekly-market-price-bulletin-issue-9-covering-2nd-week - abgerufen am 20.07.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Auswirkungen:

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19-Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2 % der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40-42 % Paschtunen, rund 27-30 % Tadschiken, ca. 9-10 % Hazara und 9 % Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10 % der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Clan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans. Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan). Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul. Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (LIB, Kapitel 16.5).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit. Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt. Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter. Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert. Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (LIB, Kapitel 16.5).

Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans. Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden. Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (LIB, Kapitel 16.5).

1.5.5.  Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80–89,7 % Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

Schiiten:

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10-19 % geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30 %. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

Apostaten (Abfall vom Islam):

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB, Kapitel 15.5).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.7.  Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet, einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen betreffend COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.8.  Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

1.5.9. Relevante Provinzen und Städte

1.5.9.1. Herkunftsprovinz (Maidan) Wardak

Die Provinz Wardak (auch Maidan Wardak) liegt im zentralen Teil Afghanistans. Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara. Die Provinz hat 648.866 Einwohner (LIB, Kapitel 2.33).

Die Sicherheitslage in der Provinz Maidan Wardak hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Aufständische der Taliban sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten aus. In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen. Bei diesen werden manchmal Aufständische getötet oder Gefangene der Taliban befreit. Die Taliban griffen Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte an und es kam zu Gefechten mit den Regierungstruppen. Bei manchen sicherheitsrelevanten Vorfällen kamen auch Zivilisten zu Schaden. Im Jahr 2019 gab es 184 zivile Opfer (108 Tote und 76 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einem Rückgang von 18% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und Suchoperationen (LIB, Kapitel 2.33).

In der Provinz (Maidan) Wardak kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.9.2. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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