Entscheidungsdatum
22.07.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W251 2194703-1/13E
W251 2194704-1/16E
W251 2194706-1/13E
Schriftliche Ausfertigung des am 16.10.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX alias XXXX , geboren am XXXX und 2) XXXX , geboren am XXXX , beide StA. Afghanistan und vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.04.2018 1) zur Zl. 1103936304 – 160152510 und 2) Zl. 1114286300 - 160652857, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG sowie XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG werden XXXX alias XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.10.2020 erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerden werden die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide gemäße § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerden von XXXX geboren am XXXX , StA. Afghanistan und vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.04.2018, Zl. 110396108 – 160152528, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben, die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer gemäß § 58 Abs. 2 iVm 55 Ab. 2 und 54 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin, beide Staatsangehörige Afghanistans, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 31.01.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer war mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet. Die Drittbeschwerdeführerin ist die leibliche Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin, sie wurde in Österreich geboren.
2. Die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin fand am 31.01.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Der Erstbeschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass er vor ca. drei Jahren Afghanistan in Richtung Iran verlassen habe, weil es in Afghanistan aufgrund der Taliban und dem IS keine Sicherheit gegeben habe. Die Taliban hätten versucht den Erstbeschwerdeführer zu sich zu nehmen und in den Kampf zu schicken. Im Iran habe er keine Dokumente gehabt und sei illegal aufhältig gewesen. Da seine Frau schwanger geworden sei, habe er seinem Kind eine bessere Zukunft bieten wollen. Im Falle der Rückkehr fürchte er die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan, weil dort Krieg herrsche.
Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, dass sie im Iran geboren und aufgewachsen sei und noch nie in Afghanistan gewesen sei. Sie habe dort niemanden. Der Erstbeschwerdeführer sei nach der Heirat mit der Zweitbeschwerdeführerin im Iran geblieben, habe jedoch keine Aufenthaltsberechtigung erhalten. Ohne Dokumente wäre ihr Leben im Iran problematisch gewesen, weshalb sie nach Europa gereist seien.
3. Am XXXX wurde die Drittbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Für sie wurde mit Schreiben vom 04.05.2016, beim Bundesamt eingelangt am 09.05.2016, ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
4. Am 27.03.2018 wurde die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Sie gab zu ihren Fluchtgründen an, dass sie noch nie in Afghanistan gewesen sei. Ihr Mann sei illegal im Iran gewesen und es habe die Gefahr bestanden, dass er nach Afghanistan abgeschoben werde. Sie selbst habe nicht im Iran leben wollen, weil sie sich dort nicht vom Erstbeschwerdeführer, mit dem sie zwangsweise verheiratet worden sei, hätte scheiden lassen können ohne einen alten Mann heiraten zu müssen. Zudem habe sie keine Freiheit im Iran gehabt und habe keine Ausbildung machen können.
Am 29.03.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers vor dem Bundesamt statt. Der Erstbeschwerdeführer gab betreffend seine Fluchtgründe im Wesentlichen an, dass er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Hazara Probleme in Afghanistan gehabt habe. Die Taliban hätten in Afghanistan sein Dorf eingenommen und viele Menschen umgebracht, weswegen er dort nicht leben habe können. Im Iran würden Afghanen in den Syrischen Krieg geschickt werden. Er sei nie persönlich bedroht oder verfolgt worden, sei jedoch sein ganzes Leben wegen seiner Volksgruppe diskriminiert und beleidigt worden.
Betreffend die Drittbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
5. Das Bundesamt wies die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführer keine asylrelevanten Fluchtgründe geltend bzw. glaubhaft gemacht hätten. Es drohe den Beschwerdeführern auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführer würden im aufrechten Familienverband in der Lage sein ihr Existenzminimum zu sicher. Sie könnten auch mit Unterstützung ihrer Familien rechnen und würde ihnen daher in Afghanistan keine hoffnungslose oder gar existenzbedrohende Lage drohen. Die Beschwerdeführer würden in Österreich – abgesehen voneinander – zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, verfügen.
6. Die Beschwerdeführer erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, dass es das Bundesamt unterlassen habe sich mit ihrer individuellen Situation, insbesondere mit ihrer psychischen Gesundheit und ihrer Situation als alleinerziehende Mutter sowie mit der Sicherheitslage in Kabul genau und sorgfältig auseinanderzusetzen. Die Zweitbeschwerdeführerin sei im Iran mit dem Erstbeschwerdeführer zwangsverheiratet worden. Sie habe sich im Iran nicht von ihm scheiden lassen können, weil sie dort keine Rechte habe. In Österreich habe sie sich jedoch scheiden lassen. Der Zweitbeschwerdeführerin drohe in Afghanistan asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer „westlichen“ Orientierung. Zudem wäre sie als Hazara ethnisch begründeten Diskriminierungen ausgesetzt. Darüber hinaus würden die Zweit- und die Drittbeschwerde-führerinnen mangels familiärer Unterstützung, mangels ausreichender Mittel für unseren Lebensunterhalt und vor dem Hintergrund der prekären Sicherheitslage in eine lebensbedrohende Lage geraten. Die Zweitbeschwerdeführerin habe sich in Österreich bereits gut eingelebt und habe hier einen Bruder, dem der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei.
Der Erstbeschwerdeführer brachte im Wesentlichen vor, dass ihm ein Leben in Afghanistan aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Hazara nicht möglich sei, weil schiitische Hazara genereller gesellschaftlicher Verfolgung ausgesetzt seien. Darüber hinaus stelle sich die Lage in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Speziellen als derart gefährlich dar, dass eine Abschiebung nach Afghanistan eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. Zudem verfüge er über keine familiären Kontakte in Afghanistan und wäre eine Behandlung seiner XXXX -Erkrankung dort nicht möglich.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.10.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Nach Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG mündlich verkündet und Rechtsmittelbelehrung erteilt.
8. Mit Schreiben vom 29.10.2019 beantragten die Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des am 16.10.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer und ihrem Leben in Österreich:
1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX alias XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Erstbeschwerdeführer war mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Sie sind nunmehr nach traditionellem Recht geschieden. Die Drittbeschwerdeführerin ist die leibliche Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin und führt den Namen XXXX sowie das Geburtsdatum XXXX . Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und sind schiitische Muslime. Die Beschwerdeführer sprechen Dari als Muttersprache (Verwaltungsakt des Erstbeschwerdeführers – BF 1 AS 1, 272; Verwaltungsakt der Zweitbeschwerdeführerin – BF 2 AS 1, 144; Verhandlungsprotokoll vom 16.10.2019 = VP, S. 11, 26).
1.1.2. Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Stadt Kabul geboren und ist dort im Bezirk XXXX gemeinsam mit seinen Eltern, seinen zwei Brüdern und seinen drei Schwestern in einem gepachteten Haus aufgewachsen (VP, S. 14). Der Erstbeschwerdeführer hat in Kabul die Grundschule besucht und hat als Teppichknüpfer gearbeitet (BF 1 AS 1, 273; VP, S. 14). Im Alter von ca. 20 Jahren zog der Erstbeschwerdeführer in den Iran, wo er sich zunächst zwei Jahre aufhielt bevor er nach Afghanistan abgeschoben wurde. Nach ca. 6 Monaten in Afghanistan reiste der Erstbeschwerdeführer neuerlich in den Iran, wo er ca. die letzten 4 Jahre vor seiner Reise nach Europa verbrachte (BF 1 AS 270). Er arbeitete im Iran als Schneider (BF 1 AS 273; VP, S. 14).
1.1.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde im Iran in XXXX geboren und ist im Iran in XXXX in der Stadt XXXX gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Schwester in einem gemieteten Haus aufgewachsen. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin stammt ursprünglich aus Mazar-e Sharif, ihre Mutter aus XXXX (BF 2 AS 1, 144; VP, S. 26, 28). Die Zweitbeschwerdeführerin war noch nie in Afghanistan (BF 2 AS 148; VP, S. 38). Sie hat im Iran 8 Jahre lang die Schule besucht und als Schneiderin zuhause gearbeitet (BF 2 AS 1, 145 f; VP, S. 28).
Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin lernten sich im Jahr 2015 kennen und heirateten nach traditionellem Ritus am 12.05.2015. Es handelte sich dabei um keine Zwangsheirat. Der Erstbeschwerdeführer hat die Zweitbeschwerdeführerin weder geschlagen noch (sexuell) misshandelt. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin lebten nach ihrer Heirat in XXXX bis zu ihrer Ausreise gemeinsam in einer Mietwohnung.
Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellten am 31.01.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Die Zweitbeschwerdeführerin war zu diesem Zeitpunkt ca. im XXXX Monat schwanger. Die Drittbeschwerdeführerin wurde in Österreich am XXXX geboren und für sie am 09.05.2016 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
1.1.4. Der Vater des Erstbeschwerdeführers ist bereits verstorben. Seine Mutter und seine Geschwister leben im Iran in XXXX . Alle Geschwister des Erstbeschwerdeführers arbeiten in einer Schneiderei und sorgen damit für den Lebensunterhalt der Familie. Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie im Iran (VP, S. 16 f).
Ein Onkel des Erstbeschwerdeführers mütterlicherseits, dessen Ehefrau und deren Kinder leben nach wie vor in Kabul im Bezirk XXXX . Der Onkel mütterlicherseits des Erstbeschwerdeführers ist nicht verstorben. Der Erstbeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinem Onkel mütterlicherseits und seinem Cousin XXXX . Dieser ist nicht verheiratet und arbeitet als Hilfsarbeiter bzw. Tagelöhner (VP, S. 15 f).
Zwei Onkel väterlicherseits des Erstbeschwerdeführers leben ebenfalls in Afghanistan. Der Erstbeschwerdeführer hat zu diesen keinen Kontakt (VP, S. 15 f).
Zwei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits des Erstbeschwerdeführers leben in Holland. Es geht ihnen finanziell gut. Eine Tante mütterlicherseits lebt in Pakistan in XXXX (VP, S. 17).
1.1.5. Die Eltern und die Schwester der Zweitbeschwerdeführerin leben nach wie vor im Iran in XXXX . Ihre Schwester arbeitet als Schneiderin und kommt so für ihren und den Lebensunterhalt ihrer Eltern auf. Die Zweitbeschwerdeführerin hat regelmäßig Kontakt zu ihrer Schwester und Mutter im Iran (VP, S. 28).
Ein Onkel und vier Tanten mütterlicherseits der Zweitbeschwerdeführerin leben im Iran. Der Onkel lebt in XXXX , eine Tante mütterlicherseits lebt in XXXX , eine in XXXX und zwei in XXXX (VP, S. 29).
Die Zweitbeschwerdeführerin hat keine Familienangehörigen in Afghanistan (VP, S. 28).
1.1.6. Der Erst- und die Drittbeschwerdeführerin sind gesund (VP, S. 21). Der Erstbeschwerdeführer ist arbeitsfähig (VP, S. 19).
Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an einer XXXX ( XXXX ), einer XXXX ( XXXX ) sowie XXXX ( XXXX ). Die Zweitbeschwerdeführerin wurde von 23. bis 29.03.2017 zur Abklärung der XXXX stationär im Krankenhaus aufgenommen. Am 10.07.2017 wurde die Zweitbeschwerdeführerin mit der Rettung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses gebracht, weil sie einen „Nervenzusammenbruch“ erlitten hatte. Die Zweitbeschwerdeführerin befand sich von 30.10.2017 bis 03.11.2017 im geschützten Bereich der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses nach einem Suizidversuch. Die Zweitbeschwerdeführerin ist depressiv, zieht sich zurück und fühlt sich stark überfordert. Sie ist auf kontinuierliche psychiatrische Unterstützung angewiesen. Sie befindet sich in Therapie und versucht „ihr Leben in den Griff“ zu bekommen (Beilage ./P).
1.1.7. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind geschieden. Die Zweitbeschwerdeführerin ist derzeit nicht in der Lage ihr Kind eigenständig zu erziehen. Der Erstbeschwerdeführer hat die alleinige Obsorge für die Drittbeschwerdeführerin (Beilage ./B). Er lebt mit der Drittbeschwerdeführerin alleine in einem Zimmer einer Flüchtlingsunterkunft. Er versorgt die Drittbeschwerdeführerin alleine und ist die wichtigste Bezugsperson zur Drittbeschwerdeführerin. Die Zweitbeschwerdeführerin wohnt nicht gemeinsam mit ihrer Tochter und dem Erstbeschwerdeführer. Die Besuchskontakte der Zweitbeschwerdeführerin zur Drittbeschwerdeführerin finden nur durch Unterstützung des in Österreich lebenden Bruders der Zweitbeschwerdeführerin statt (Beilage ./P, VP, S. 36).
1.1.8. Der Erstbeschwerdeführer hat einen Basisbildungskurs sowie einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 besucht (VP, S. 18). Er hat die ÖSD Deutschprüfung auf dem Niveau A1 bestanden (Beilage ./A). Die ÖSD Deutschprüfung auf dem Niveau A2 hat er nicht bestanden (VP, S. 18). Er verfügt über geringe Deutschkenntnisse (VP, S. 18).
Der Erstbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach (VP, S. 18 f).
Er hat weder eine Integrationsprüfung abgelegt noch eine Integrationsvereinbarung unterschrieben (VP, S. 40).
1.1.9. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I). Die Drittbeschwerdeführerin ist in Österreich aufgrund ihres Alters noch strafunmündig.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Das von den Beschwerdeführern ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.
1.2.1. Der Erstbeschwerdeführer wurde in Afghanistan weder von den Taliban aufgefordert mit diesen zusammenzuarbeiten noch war er einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt.
Der Erstbeschwerdeführer wurde in Afghanistan niemals konkret bedroht und war keiner Verfolgung durch die Taliban, staatliche Organe oder durch andere Gruppierungen ausgesetzt. Der Erstbeschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor konkreten Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
1.2.2. Er hatte in Afghanistan keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit zu den schiitischen Hazara.
Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara sind in Afghanistan weder allein aufgrund der Religions- noch der Volksgruppenzugehörigkeit physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
1.2.3. Der Erstbeschwerdeführer verließ den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort aufhältige Afghanen. Der Erstbeschwerdeführer hat im Iran keine Handlungen gesetzt, die ihn in Afghanistan einer Verfolgungsgefahr aussetzen.
1.2.4. Die Zweitbeschwerdeführerin wuchs als Angehörige der muslimischen Religion schiitischer Ausrichtung auf. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Zweitbeschwerdeführerin vom Islam abgefallen ist. Sie ist zwar aktuell religiös wenig interessiert, sie tritt jedoch weder spezifisch gegen den Islam auf, noch äußert sie sich kritisch über den Islam in der Öffentlichkeit.
1.2.5. Die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerin sind in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Zweitbeschwerdeführerin seit ihrer Einreise in Österreich eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und eine „westliche Lebensführung“ angenommen hat. Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Zweitbeschwerdeführerin hat zwischenzeitlich Deutschkurse besucht (Beilage ./D, ./E, ./K, ./L, ./N, ./O) und eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1 (Beilage ./H und ./i) sowie auf dem Niveau A2 (Beilage ./F, ./J) bestanden. Sie ist in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren (VP, S. 30 f). Sie war jedoch bisher in Österreich nicht erwerbstätig und lebte von der Grundversorgung. Sie ist nicht selbsterhaltungsfähig. Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt über keine konkreten Einstellungszusagen und hat keine gemeinnützigen Arbeiten übernommen. Sie hat auch keine konkreten Berufsvorstellungen. Sie ist wenig kontakt- und kommunikationsfreudig und bewegt sich in Österreich in einem kleinen Bewegungsradius. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich eine außereheliche Beziehung führt bzw. eine Liebesbeziehung zu einem Mann hat.
Der Zweit- und der Drittbeschwerdeführerin droht in Afghanistan nicht die Gefahr einer Zwangsverheiratung.
1.2.5. Der Drittbeschwerdeführerin ist es möglich, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihr droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in der Stadt Kabul weder physische oder psychische Gewalt noch ist sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt. Die Drittbeschwerdeführerin ist auch keinen Misshandlungen durch ihre Eltern ausgesetzt.
In Afghanistan besteht Schulpflicht, ein Schulangebot ist insbesondere in Kabul faktisch auch vorhanden. Es besteht daher keine Gefahr einer Verfolgung, wenn der Drittbeschwerde-führerin eine grundlegende Bildung zukommt. Die Eltern würden die Drittbeschwerdeführerin in Kabul in die Schule schicken und ihr eine Schulbildung ermöglichen. Der Drittbeschwerdeführerin droht in Kabul weder Kinderarbeit noch eine Zwangsheirat oder sexuelle Ausbeutung oder Misshandlungen.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat:
1.3.1. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin väterlicherseits stammt aus Mazar-e Sharif. Die Zweitbeschwerdeführerin hat nie in Afghanistan gelebt.
Die Zweitbeschwerdeführerin kann in der Stadt Mazar-e Sharif nicht ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Sie hat keine Verwandten in Afghanistan, bei denen sie wohnen und von denen sie verpflegt werden könnte.
Der Zweitbeschwerdeführerin ist eine Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif nicht möglich.
1.3.2. Dem Erstbeschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Stadt Kabul kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Auch die Drittbeschwerdeführerin kann sich mit dem Erstbeschwerdeführer im Familienverband in Kabul ansiedeln.
Der Erstbeschwerdeführer kann in der Stadt Kabul seine grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft für sich befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann dort auch für die Drittbeschwerdeführerin sorgen. Der Erstbeschwerdeführer ist mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Er ist zudem anpassungs- und arbeitsfähig und sehr selbständig. Er kann von seinem Onkel und Cousin mütterlicherseits sowie deren Familie in Kabul, insbesondere bei der Unterkunfts- und Arbeitssuche sowie der Verpflegung und der Kindererziehung unterstützt werden. Der Erstbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin können zumindest vorübergehend bei ihrem Onkel bzw. Cousin mütterlicherseits in Kabul wohnen. Die Familie des Onkels ist wirtschaftlich gut abgesichert. Der Erstbeschwerdeführer kann für sich und die Drittbeschwerdeführerin in Kabul den notwendigen Lebensunterhalt verdienen. Der Erstbeschwerdeführer kann zudem für sich und die Drittbeschwerdeführerin Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Der Erstbeschwerdeführer kann für sein Auskommen und Fortkommen und für die Drittbeschwerdeführerin sorgen.
Es ist dem Erstbeschwerdeführer somit möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Afghanistan in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können sowie für die Drittbeschwerdeführerin dort zu sorgen.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019 (LIB 04.06.2019),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),
- EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018,
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo),
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017 (Beilage ./V)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Anzahl an Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./VI)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Bildungsmöglichkeiten für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Beilage ./VII)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderarbeit und Ausbeutung Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./VIII)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Kinderehen und Zwangsehen vom 03.05.2019 (Beilage ./IX)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sicherheitslage von Kindern in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 09.05.2019 (Beilage ./X)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Zugang zu Lebensmitteln vom 03.05.2019 (Beilage ./XI)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Wasserversorgung und Sanitäranlagen für Kinder in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 10.05.2019 (Beilage ./XII)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Sexuellen Missbrauch, körperliche Übergriffe auf Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 06.05.2019 (Beilage ./XIII)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Erpresserischer Entführung von Kindern vom 06.05.2019 (Beilage ./XIV)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Kinderschutzprogramme vom 03.05.2019 (Beilage ./XV)
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Medizinische und psychosoziale Leistungen für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif vom 03.05.2019 (Beilage ./XVI)
1.4.1. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019 - LIB 04.06.2019, S. 65).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 04.06.2019, S.65).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 04.06.2019, S. 68).
Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 04.06.2019, S. 76). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 04.06.2019, S. 69).
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 04.06.2019, S. 69). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 04.06.2019, S. 70 ff).
1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu (LIB 04.06.2019, S. 358).
Für ca. ein Drittel der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (inklusive Tiernutzung) die Haupteinnahmequelle. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Mehr als ein Drittel der männlichen Bevölkerung (34,3%) Afghanistans und mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung (51,1%) sind nicht in der Lage, eine passende Stelle zu finden (LIB 04.06.2019, S. 358).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlingsund Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Kapital 4.2.).
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.4.3. Medizinische Versorgung
Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).
Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 04.06.2019, S. 362 ff).
Psychische Erkrankungen sind in öffentlichen und privaten Klinken grundsätzlich behandelbar. Die Behandlung in privaten Kliniken ist für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen nicht leistbar. In öffentlichen Krankenhäusern müssen die Patienten nichts für ihre Aufnahme bezahlen. In Kabul gibt es zwei psychiatrische Einrichtungen: das Mental Health Hospital und die Universitätsklinik Aliabad. Zwar gibt es traditionelle Methoden bei denen psychisch Kranke in spirituellen Schreinen unmenschlich behandelt werden. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (LIB 04.06.2019, S. 364 f). In Mazar-e Sharif gibt es ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB 04.06.2019, S. 364).
1.4.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben mehr als 34.1 Millionen Menschen. Es sind ca. 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt (LIB 04.06.2019, S. 319).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB 04.06.2019, S.321).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (LIB 04.06.2019, S.322).
Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB 04.06.2019, S.322).
So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. In der afghanischen Gesellschaft existiert die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Mitglieder der Hazara-Ethnie beschweren sich über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. Die Arbeitsplatzanwerbung erfolgt hauptsächlich über persönliche Netzwerke; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (LIB 04.06.2019, S.322 f).
Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB 04.06.2019, S.323).
Angehörige der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.
1.4.5. Religionen
Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB 04.06.2019, S. 309).
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB 04.06.2019, S.312).
Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB 04.06.2019, S.312).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB 04.06.2019, S.312).
Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (LIB 04.06.2019, S.312 f).
Es wurde zwar eine steigende Anzahl von Angriffen gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige registriert, wovon ein Großteil der zivilen Opfer schiitische Muslime waren. Die Angriffe haben sich jedoch nicht ausschließlich gegen schiitische Muslime, sondern auch gegen sunnitische Moscheen und religiöse Führer gerichtet (LIB 04.06.2019, S.69 ff).
Angehörige der Schiiten sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.
1.4.6. Allgemeine Menschenrechtslage
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (LIB 04.06.2019, S. 295 f).
Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).
Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).
1.4.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen
Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung schränkt die Bewegung der Bürger/innen gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein (LIB 04.06.2019, S. 351).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten” oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Dennoch gibt es Mittel und Wege, um Familienmitglieder ausfindig zu machen. Das Dorf, aus dem jemand stammt, ist der naheliegende Ort, um eine Suche zu starten. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien in dem Gebiet und die Ältesten haben einen guten Überblick (LIB 04.06.2019, S. 351).
1.4.8. Korruption
Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2017 von Transparency International, belegt Afghanistan von 180 Ländern den 177. Platz (LIB 04.06.2019, S. 289).
Korruption ist in der afghanischen Gesellschaft verbreitet. Beamte gehen oft ungestraft korrupten Praktiken nach (LIB 04.06.2019, S. 289).
1.4.9. Regionen
1.4.9.1. Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt. In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander. Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB 04.06.2019, S. 90).
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, die sich überwiegend in der Hauptstadt Kabul ereigneten (LIB 04.06.2019, S. 91).
Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen. Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (LIB 04.06.2019, S. 92).
Kabul zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).
1.4.9.2. Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana und Pul-e-Khumri und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 04.06.2019, S. 108).
In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt sicher zu erreichen ist LIB 04.06.2019, S. 109).
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 04.06.2019, S. 109).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB 04.06.2019, S. 108f).
1.4.10. Situation für Rückkehrer
Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB 04.06.2019, S. 371).
Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 04.06.2019, S. 375f).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 04.06.2019, S. 376).
Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 04.06.2019, S. 376).
1.4.11. Frauen
Die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan ist erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen, wie rechtlich beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Frauen in urbanen Zentren vom 18.09.2017).
Frauenkleidung umfasst in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung – diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten „Manteau shalwar“ tragen, d.h. Hosen und Mantel mit verschiedenen Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan Chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten (Frauen in urbanen Zentren, S. 2).
In Kabul- Stadt gibt es ein Familienkino für Frauen und den „Frauen-Garten“ (Bagh-e zanan) — ein öffentlicher Park für Frauen mit verschiedenen Unterhaltungs-, Bildungs- und Sportmöglichkeiten. Der Garten, der sich über 13 Hektar Land streckt und vom Frauenministerium verwaltet wird, erlebt täglich einen großen Ansturm, vor allem am Wochenende (Frauen in urbanen Zentren, S. 29 f).
Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sind in einer Vielzahl von beruflichen Feldern aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Sie sind jedoch mannigfaltigen Schwierigkeiten im Berufsleben ausgesetzt, die von Diskriminierung in der Einstellung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung reichen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten (Frauen in urbanen Zentren, S. 22). In urbanen Zentren werden zudem vermehrt Freizeitangebote speziell für Frauen angeboten (Frauen in urbanen Zentren, S. 29 ff).
Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit. Die konkrete Situation von Frauen unterscheidet sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (LIB 04.06.2019, S. 328).
Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB 04.06.2019, S. 331).
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB 04.06.2019, S. 353f).
Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So können Frauen selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten halten, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennen (LIB 04.06.2019, S.337).
Trotz eines Gesetzes, das das minimale Heiratsalter auf 18 Jahre für Männer und 16 Jahre bei Mädchen (bzw. 15 Jahren bei Einverständnis der Eltern oder eines Richters) festlegt, ist die Praxis von erzwungenen Heiraten und Kinderehen in Afghanistan verbreitet. Armut, Analphabetismus, Genderdiskriminierung und fehlender Zugang zu Gesundheit und Bildung sind die wichtigsten treibenden Faktoren für Kinderheirat. Für eine Kinderehe bedarf es der Zustimmung der Eltern (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation betreffend Kinderehen, Zwangsehen vom 03.05.2019; LIB, Kapitel 18.1)
1.4.12. Kinder
Die Stadt Kabul hat über vier Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl für die Stadt Herat beträgt 507.000 Einwohner, für die Stadt Mazar-e Sharif 428.000 Einwohner. In der Provinz Kabul sind ca. 41% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 24% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 18% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Herat sind ca. 49% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 20% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 15% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 13% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen. In der Provinz Balkh (Hauptstadt Mazar-e Sharif) sind ca. 44% der Bevölkerung zwischen 0 und 14 Jahren alt, 22% entfallen auf die Altersgruppe 15-24 Jahre, 17% auf die Altersgruppe 25-39 Jahre, 14% auf die Altersgruppe 40-59 Jahre und 3% auf die Altersgruppe der über 60jährigen (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 06.05.2019 betreffend die Anzahl der Kinder).
Sicherheitslage für Kinder in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif
Im Jahr 2018 waren 28% aller zivilen Opfer Kinder (3.062 Opfer – 927 Tote und 2.135 Verletzte), davon waren 71% Buben und 27% Mädchen. 39% der Opfer unter Kinder gehen auf Bodeneinsätze zurück, 17% auf improvisierte Bomben (Nicht-Selbstmord), 16% auf Luftangriffe, 14% auf explosive Kampfmittelrückstände, 9% auf Selbstmord- und komplexe Angriffe und 3% auf die Taliban (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 09.05.2019 betreffend Sicherheitslage für Kinder, S. 26 f). Die Sicherheitslage in den einzelnen Polizeidistrikten Kabuls hängt davon ab, ob es sich um Wohngebiete oder um Distrikte mit Regierungsstan