TE Bvwg Erkenntnis 2020/7/29 W258 2190616-1

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Veröffentlicht am 29.07.2020
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Entscheidungsdatum

29.07.2020

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W258 2190616-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA Afghanistan, vertreten durch das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, UMF-Koordinierungsstelle, Landhausplatz 1, 3109 St. Pölten, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.05.2020 zu Recht:

A) Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass die Spruchpunkte IV bis VI entfallen und es in den Spruchpunkten II und III zu lauten hat:

II. XXXX , geb. XXXX , wird gemäß § 8 Abs 1 Asylgesetz 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Ihm wird gemäß § 8 Abs 4 Asylgesetz 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.07.2021 erteilt.

B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs 4 B-VG zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der minderjährige Beschwerdeführer (in Folge kurz „BF2“) stellte am 18.11.2015 gemeinsam mit seiner damals ebenfalls noch minderjährigen Schwester (in Folge kurz „BF3“) und seinem minderjährigen Bruder (in Folge kurz „BF1“) in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 18.11.2015 gab der BF2 an, er sei am XXXX geboren und besitze die Staatsbürgerschaft der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“). Er spreche Farsi, sei Muslim und habe für ein Jahr die Grundschule besucht. Er habe mit seiner Familie Afghanistan verlassen, weil sie Angst vor den Taliban und dem Krieg hatten.

In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am 29.03.2017 gab der zu diesem Zeitpunkt 9-jährige BF2 ergänzend an, dass er Dari spreche und seine Eltern in Iran leben. Er habe in Begleitung seiner gesamten Familie (Eltern und Geschwister) Afghanistan verlassen. An der iranischen-türkischen Grenze habe er und die BF1 und BF3 den Rest der Familie verloren; sie seien dann alleine bis nach Österreich gekommen. Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der BF2 zusammenfassend an, dass in seiner Heimat Krieg herrsche, es seien viele Leute gestorben, es habe Bombenanschläge und Raketenangriffe gegeben und es sind viele Schüler ums Leben gekommen. Er habe vor dem Krieg Angst gehabt und sei nicht oft draußen gewesen.

Mit Bescheid vom 16.02.2018 wies die belangte Behörde den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, der BF2 habe keine persönliche Verfolgung oder Gefährdung glaubhaft machen können, eine besondere Gefährdung des BF2 liege nicht vor. Der BF2 wäre bei seiner Rückkehr unter der Obhut seiner volljährigen Geschwister, welche bereits vor seiner Ankunft in Österreich die Verantwortung für den BF2 übernommen hätten. Aufgrund der Arbeitsfähigkeit seines Bruders sei der Lebensunterhalt gewährleistet und der BF2 wäre somit im Familienverband wirtschaftlich ausreichend abgesichert.

Gegen den Bescheid wendet sich die gegenständliche Beschwerde des BF2 vom 16.03.2018. Das Bundesamt habe insbesondere seine aussichtslose Lage als Minderjähriger sowie die Hoffnungslosigkeit seiner Situation im Hinblick auf mangelnde Ausbildung und spätere Lebensgrundlage verkannt. Der BF2 sei in seinem Herkunftsstaat vielfältiger individueller Gefahren ausgesetzt: Zwangsrekrutierung, Entführung bis hin zur Ermordung durch die Taliban sowie auch aufgrund der prekären Allgemeinlage, ständiger Bedrohung und struktureller Gewalt. Zudem sei bei Minderjährigen ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab anzulegen.

Mit Schriftsatz vom 26.03.2018 legte die belangte Behörde dem erkennenden Gericht die Beschwerde unter Anschluss des Verwaltungsaktes vor.

In der am 27.05.2020 hg durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde der BF2 neuerlich zu seinem Fluchtvorbringen und zu der Beziehung zu seinen Geschwistern in Österreich befragt.

Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF2 und seiner Geschwister (BF1 und BF3) als Partei, der Einvernahme von XXXX (Z1) und XXXX (Z2) als Zeugen sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:

?        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in Folge kurz „UNHCR“; Beilag ./I),

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 18.05.2020 (in Folge kurz „LIB“; Beilage ./II),

?        EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019 (in Folge kurz „EASO Country Guidance“; Beilage ./III),

?        die vorgelegten Beilagen des BF2:

o        Konvolut an Schulbesuchsbestätigungen, Schulnachrichten und Jahreszeugnisse der Volksschule II XXXX vom Schuljahr 2015/16 bis zum Schuljahr 2019/20,

o        Bestätigung von XXXX über die Förderung und Unterstützung des BF2 bei den Hausaufgaben im Schuljahr 2018/19 und 2019/20,

o        Bestätigung über die Teilnahme beim Fußballverein XXXX ,

o        Urkunde vom Niederösterreichischen Schulschachtag im Weinviertel 2018 und

o        Auszeichnung für Spieler der U11 und U12 Nachwuchsmannschaft des XXXX .

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Der folgende Sachverhalt steht fest:

1.1. Zur individuellen Situation des BF:

1.1.1. Allgemeines:

Der männliche, minderjährige und gesunde BF2 ist afghanischer Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Hazara und der Konfession der schiitischen Moslems an. Die Muttersprache des BF2 ist Dari.

Er wurde am XXXX in der Stadt Kabul geboren, hat dort für ca. ein Jahr die Schule besucht und bis zur Ausreise im Jahr 2015 zusammen mit seiner Kernfamilie gelebt.

Die Kernfamilie des BF2 besteht aus seinen Eltern, drei Brüdern und drei Schwestern, wobei er mit zwei älteren Geschwistern (B1 und B3) gemeinsam in Österreich wohnhaft ist. Die Familie reiste im Herbst 2015 aus Afghanistan aus und wurde an der iranischen-türkischen Grenze getrennt. Der BF2 gelangte gemeinsam mit BF1 und BF3 nach einem ca. dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei weiter bis nach Österreich, wo sie gemeinsam am 18.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Der Aufenthaltsort der restlichen Familienmitglieder, zu denen kein Kontakt besteht, ist unbekannt. Es leben keine weiteren Verwandten der BF in Afghanistan.

Zum Zeitpunkt der Einreise und Stellung des Asylantrags am 18.11.2015 waren der BF1 16 Jahre, der BF2 7 Jahre und die BF3 17 Jahre alt.

Der männliche, volljährige, ledige und gesunde BF1 ist afghanischer Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Hazara und der Konfession der schiitischen Moslems an. Seine Muttersprache ist Dari. Er hat in Afghanistan Berufserfahrung als Bäckerlehrling gesammelt und besucht in Österreich eine Landwirtschaftsschule. Er versteht und spricht einfaches Deutsch.

Der BF3 wurde mit hg Erkenntnis vom 24.07.2020 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt.

1.1.2. Zur Beziehung der BF untereinander:

BF1 und BF3 haben nach der Trennung vom Rest der Familie auf der weiteren Flucht die Elternrolle für den – nunmehr – zwölfjährigen BF2 übernommen und einander unterstützt. Während die BF3 auf die Familie aufgepasst hat, indem sie ua den BF1 von Auseinandersetzungen mit Dritten abgehalten hat, für die Familie die Kleidung gewaschen und zum Teil gekocht hat sowie psychische und emotionale Unterstützung geleistet hat, hat der BF1 für Nahrungsmittel gesorgt und den BF2 und das Gepäck der Familie getragen. In der Nacht haben der BF1 und die BF3 abwechselnd Wache gehalten. Der BF1 hat weiters, weil am Fluchtweg auch viele andere Männer unterwegs waren, die Rolle des „männlichen Beschützers“ für die BF3 übernommen.

In Österreich leben der BF2 und seine Geschwister BF1 und BF3 in einem gemeinsamen Haushalt. Zwischen den Geschwistern besteht eine innige und vertraute Beziehung. Die BF3 kümmert sich emotional und im Alltag (Wäsche, kochen, Haushalt, Freizeitgestaltung, etc.) um ihre Brüder, insbesondere um den noch minderjährigen BF2. Sie verwaltet das Geld des BF2. Manchmal unterstützt sie den BF1 finanziell. Auch der BF1 ist eine wichtige Bezugsperson für den BF2 und ist an ihn emotional gebunden. Der BF1 hilft dem BF2 bei der Hausübung, geht mit ihm Fußball spielen und ist ein Vorbild für den BF2. Der BF2 zeigt sich aber auch gegenüber seinem Bruder besorgt, beispielsweise wenn dieser Alkohol trinkt.

Weder dem BF1 noch der BF3 wurde die Obsorge für den BF2 übertragen. Rechtliche Angelegenheiten für den BF2 übernehmen aber nicht der BF1 oder die BF3, sondern Frau XXXX .

1.1.3. Zum Fluchtvorbringen:

Der Vater der BF hat als Fahrer für eine nicht näher bekannte Firma gearbeitet. Auf Grund seiner Tätigkeit für die Firma als auch auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit wurde er von den Taliban aufgefordert, seine Tätigkeit aufzugeben, was er wenige Wochen vor der Ausreise seiner Familie aus Afghanistan getan hat. Afghanistan hat die Familie letztlich verlassen, weil der Vater der BF nicht wusste, wie er andere Arbeit finden könne.

Die BF selbst wurden in Afghanistan individuell weder bedroht noch kam es zu Übergriffen auf sie.

1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat des BF2:

1.2.1. Allgemeines (LIB Kapitel 3.):

1.2.1.1. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban.

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19 % im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen. Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten.

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5 %, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte.

Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63 % Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7 % gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist.

Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 sind 56 % (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7 % im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17 %. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44 % verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57 % mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018.

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge.

Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56 % auf 54 % der Distrikte ab, die Kontrolle bzw der Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15 % auf 12 %. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29 % auf 34 %. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5 % zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6 % der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39 % der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37 % von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20 % der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4 % der Distrikte.

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet.

1.2.1.2. Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41 % der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) berichtet bzw dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5 % bzw 11 % bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24 % gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt.

Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 High-Profile Angriffe (HPAs) in Kabul statt (Vorjahreswert: 73), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs.

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge.

1.2.1.3. In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

1.2.2. Zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Heimatregion des BF2, Kabul Stadt:

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt. Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB, Kapitel 2.2).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.2).

Die Angriffe richteten sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung, darunter die zivile Regierungsverwaltung, Gebetsstätten, Bildungseinrichtungen, Wahlorte und andere "weiche" Ziele. Beispiele für Vorfälle sind mehrere komplexe Angriffe der ISKP, bei denen Zivilisten, vor allem die schiitische Bevölkerung, getötet und verletzt wurden; zum Beispiel ein Angriff auf ein Wählerregistrierungszentrum im Hazara-dominierten Viertel Dasht-e-Barchi und ein Selbstmordanschlag in der Nähe des Karte-Sakhi-Schreins, wo sich Hunderte, viele von ihnen Schiiten, versammelt hatten, um den Beginn von Nowruz, dem Neujahrsfest, zu feiern. Die Taliban führten 2018 auch in der Provinzhauptstadt Angriffe durch, bei denen Zivilisten getötet und verwundet wurden. Der prominenteste Sicherheitsvorfall ereignete sich Ende Januar 2018, als ein Lieferwagen, der wie ein Krankenwagen aussah, vor einem Regierungsgelände explodierte und 114 Zivilisten tötete und 229 Zivilisten verwundete. Die Taliban verübten auch einen Angriff auf das Hotel Intercontinental sowie Angriffe auf Wahllokale (EASO Country Guidance, S 102).

Im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis 28. Februar 2019 wurde keine Vertreibung aus der Hauptstadt verzeichnet, allerdings wurden 10 430 Personen in die Stadt vertrieben. Die in Kabul ankommenden und ansässigen Binnenvertriebenen üben zusätzlichen Druck auf die Gemeinschaft, die Grundversorgung und die soziale Infrastruktur aus, was die Aufnahmekapazität der Stadt stark beeinträchtigt. UNOCHA stuft die Hauptstadt Kabul in die höchste Kategorie der Konfliktschwere ein. Ein Blick auf die Indikatoren lässt den Schluss zu, dass in der Provinz Kabul und in der Stadt Kabul willkürliche Gewalt stattfindet, jedoch nicht auf einem hohen Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Niveau einzelner Elemente erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass eine Zivilperson, die in das Gebiet zurückgekehrt ist, tatsächlich der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c QD ausgesetzt wäre (EASO Country Guidance, S 102).

Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten (LIB, Kapitel 20).

Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent). (LIB, Kapitel 20).

Im Dezember 2018 hat FEWS sowohl Kabul als auch Mazar-e Scharif als „unter Druck stehend“ bezeichnet, was bedeutet, dass selbst mit humanitärer Hilfe mindestens ein Fünftel der Haushalte zwar über ein Minimum an angemessenen Lebensmitteln verfügte, jedoch „nicht in der Lage war, sich einige wesentliche Non-Food-Artikel zu leisten, ohne Bewältigungsstrategien mit unumkehrbaren Folgen anzuwenden“. (EASO Country Guidance, S 132).

Laut einer Studie des International Growth Centre (IGC) lebten schätzungsweise 70 % der Bevölkerung in Kabul in informellen Siedlungen, die definiert sind als „Wohngebiete, die entweder auf Grundstücken errichtet wurden, auf die die Bewohner keinen Rechtsanspruch haben, und/oder Gebiete mit Wohneinheiten, die nicht den Planungs- und Bauvorschriften entsprechen“. Der größte Teil der Neubauten in der Stadt fällt unter diese Kategorie, und die Bevölkerungsdichte in informellen Gebieten kann mehr als doppelt so hoch sein wie in offiziellen Wohngebieten. Nach Angaben des IGC „bieten informelle Siedlungen in Kabul in erheblichem Umfang günstigen Wohnraum für die meisten Einwohner der Stadt“. Laut Fabrizio Foschini haben informelle Siedlungen zwar eine größere Obdachlosigkeitskrise verhindert, doch verschärfe das ungezügelte Wachstum bestehende Probleme wie das Fehlen von Abwassersystemen und die ineffiziente Müllentsorgung. Schlecht gebaute Häuser an Orten mit eingeschränkter Zugänglichkeit „haben die Not der in diesen Gebieten lebenden Rückkehrer, Wirtschaftsmigranten und Binnenvertriebenen noch verschlimmert“. Ein Programm „Stadt für alle“, das von der Regierung durchgeführt und von UN-Habitat unterstützt wird, untersuchte Immobilien in Kabul und stellte fest, dass es nur für 14 % hiervon eine förmliche Eigentumsurkunde gibt, was niedriger ist als in anderen Provinzstädten (17 %). Der Kaufpreis für formellen Wohnraum in Kabul lag bei etwa 35 000-500 000 USD, während das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen in Kabul und der Region Zentrum im Jahr 2017 auf 208 USD geschätzt wurde. Das Mieten von Wohnraum nimmt in den städtischen Gebieten Afghanistans zwar zu, gilt aber nur in Kabul als gängige Praxis. Von den privaten Haushalten in Kabul besitzen etwa 64,9 % ihre Wohnung und 27,6 % leben zur Miete. Laut dem Analysten Foschini gibt es bei Neusiedlern die Tendenz, sich an ihrem Herkunftsort niederzulassen, was ihnen die Möglichkeit gibt, in den Genuss von qawmi, nämlich Unterstützung durch ihre sozialen Netzwerke für die Nutzung und den Erhalt von Grundstücken zu erhalten. Viele städtische Haushalte beherbergen Mitglieder ihrer Großfamilie aus ländlichen Gebieten, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen, vor allem in Kabul. Solche Haushalte sind in der Regel generationenübergreifend und geben auch älteren Verwandten Unterkunft. Die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen wie Wasser, Abwasser und Strom war für die wachsenden informellen Siedlungen, die sich in den zentral gelegenen Hügeln von Kabul herausgebildet haben, schwierig (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 132 f, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).

Die 2017 durchgeführte Survey of the Afghan People der Asia Foundation ergab, dass signifikante Anteile der in Kabul und anderen zentralen Gebieten lebenden Afghanen (23,7 %) Probleme mit Trinkwasser als eines der größten Probleme vor Ort angaben. Die Stadt Kabul ist nach wie vor eine der wenigen Hauptstädte der Welt ohne zentrale Kanalisation. In der Folge kam es zu entsprechenden Problemen im Bereich Umweltverschmutzung und Gesundheit, die durch den starken Bevölkerungszuwachs, aber auch durch Verschmutzungen, vor allem den Fahrzeugverkehr, noch verschärft wurden. Anstelle eines Abwassersystems werden einzelne Klärgruben verwendet, die sich oft in der Nähe von Wasserbrunnen befinden. Das Austreten von Abwasser in das Grundwasser gilt als Hauptursache für die Wasserverunreinigung in der Stadt. Kabul gilt als eine der Städte weltweit, in denen das Wasser am knappsten ist. Der Grundwasserspiegel ist in den letzten Jahren aufgrund der gestiegenen Wassernachfrage und des übermäßigen Abpumpens stark gesunken. Die meisten der gemeinsam genutzten Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt sind mit Haushalts- und Industrieabwässern verseucht, die in den Fluss Kabul eingeleitet wurden, was schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringt. In der ALCS 2016/17 wurde festgestellt, dass fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul über grundlegende Sanitäranlagen verfügt, d. h. eine Anlage, die nicht mit anderen geteilt wird und bei der die Exkremente entweder sicher entsorgt oder entfernt werden. Der Wasserverbrauch in Kabul hat unhaltbar zugenommen, was zu einem eklatanten Ungleichgewicht zwischen Wasserverfügbarkeit und Wassernachfrage geführt hat. Die Qualität des Grundwassers hat sich verschlechtert, so dass der Zugang zu sauberem Wasser immer schwieriger wird. Der jährliche Wasserbedarf wird auf mehr als 32 Millionen m³ geschätzt, während die Grundwasseranreicherung im Einzugsgebiet des Flusses Kabul, auf den die Stadt für ihre Wasserversorgung vollständig angewiesen ist, auf weniger als 28 Millionen m³ gesunken ist. Die Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsgesellschaft Afghanistans (AUWSSC) schätzt, dass nur 32 % der Bevölkerung von Kabul Zugang zu fließendem Wasser haben und nur 10 % der Einwohner Trinkwasser erhalten. Das unzureichende Wassersystem der Stadt zwingt die Menschen, die es sich leisten können, eigene Brunnen zu bohren. Viele in den Vororten und auf den felsigen Hügeln der Stadt lebende arme Einwohner von Kabul hängen von öffentlichen Wasserhähnen ab, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. In der Regel ist das Wasserholen Aufgabe junger Kinder, oft der Mädchen. Nach Angaben der AUWSSC gab es 2018 etwa 72 private Unternehmen, die Tausende von Familien in der Stadt Kabul illegal mit Wasser beliefern (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 133, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).

1.2.3. Zur Lage der Hazara in Afghanistan:

1.2.3.1. Allgemeines (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10 % der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul.

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch.

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich gebessert.

1.2.3.2. Umgang des Afghanischen Staates mit Hazara:

Die Verfassung garantiert die „Gleichheit aller ethnischen Gruppen und Stämme“ (UNHCR 30.08.2018 S 104). Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sie sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3.).

Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart (LIB Kapitel 17.3.).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (LIB Kapitel 16.1.).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die ua dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30 %. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB Kapitel 16.1.).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB Kapitel 17.3.).

1.2.3.3. Umgang anderer ethnischer Gruppen mit Hazara (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):

Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung.

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen (LIB Kapitel 17.3.).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.

1.2.3.4. Umgang von Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte mit Hazara:

In jüngerer Zeit stiegen die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung von Hazara durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR 30.08.2018 S 107). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an (LIB Kapitel 17.3.)

Im Jahr 2018 gab es 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34 %. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (LIB Kapitel 16.1.). Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.09.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB Kapitel 17.3.).

1.2.4. Zur Lage von Schiiten in Afghanistan (LIB Kapitel 16.1.):

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19 % geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen.

1.2.5. Zur Situation von Kindern in Afghanistan:

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Laut UNAMA-Berichten sank die Gesamtzahl der konfliktbedingt getöteten oder verletzten Kinder im ersten Halbjahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 13% (327 Todesfälle, 880 Verletzte). Die Beteuerungen regierungsfeindlicher Gruppen, Gewalt gegen Zivilisten und insbesondere Kinder abzulehnen, werden immer wieder durch ihre Aktionen konterkariert (LIB, Kapitel 17.2).

Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt – mit rund 63% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Die Volljährigkeit beginnt in Afghanistan mit dem 18. Geburtstag (LIB, Kapitel 17.2).

Schulbildung in Afghanistan

Die afghanische Schulbildung beginnt für Kinder im Alter von sechs Jahren mit sechs Jahren Grundschule, gefolgt von der Unterstufe der Sekundarschule (bzw. Mittelschule) für zwölf- bis 14-Jährige und der Oberstufe für 14- bis 17-Jährige. Nach Abschluss der Oberstufe können Schüler und Schülerinnen an die Universität wechseln. Ein Bachelorstudium dauert in der Regel vier Jahre, das Masterstudium, welches nach Absolvierung eines Bachelorstudiums begonnen werden kann, zwei Jahre. Die Anzahl der angebotenen Masterstudien ist immer noch klein. Grundschule, Unterstufe und Oberstufe werden jeweils mit einem Examen abgeschlossen, welches den Übertritt in die nächsthöhere Schulform erlaubt. Aufgrund von verschiedenen Faktoren, wie zum Beispiel Klassenwiederholungen, zeitweisem Schulabbruch oder dem Überspringen einer Schulstufe, variiert das tatsächliche Alter der Schulkinder in den jeweiligen Schulstufen mitunter erheblich (LIB, Kapitel 17.2).

Kinder können in Afghanistan öffentliche, private oder religiöse Schulen besuchen. Der Schulbesuch ist an öffentlichen Schulen „im Prinzip“ kostenlos und die Regierung versorgt die Schüler mit Schulbüchern. Jedoch sind das Budget und die Anzahl der Bücher meistens nicht ausreichend; auch wird das Unterrichtsmaterial oft zu spät zugestellt: z.B. vier Monate nach Unterrichtsbeginn. Aus diesen Gründen gibt es in Afghanistan einen Schwarzmarkt für Bücher, wo Familien kopierte Versionen der Schulbücher erwerben können. Der Staat versucht vergebens, dies zu verhindern. Die Regierung bietet weder Stipendien an, noch stellt sie Schulmaterialien für ärmere Familien zur Verfügung. In besonders verarmten Gebieten verteilen Organisationen wie UNICEF Schulmaterialien. Solche Hilfsaktionen betreffen allerdings nur die ländlichen Gebiete und auch dort ist das Ausmaß nicht ausreichend: in der Regel werden zwischen 80 und 100 Schulen versorgt. Einige private Schulen vergeben Stipendien, z.B. die Afghan-Turk Schule. Meistens handelt es sich hierbei um Leistungsstipendien für Schüler von der siebten bis zur zwölften Klasse. Jedes Jahr werden zwischen 100 und 150 Stipendien je nach Kapazität der Schule vergeben (LIB, Kapitel 17.2).

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zum Abschluss der Unterstufe der Sekundarschule (d.h. nach sechs Jahren Grundschule und drei Jahren Sekundärbildung) verpflichtend. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung. Ob ein Kind tatsächlich in der Schule eingeschrieben wird, hängt vom Bildungsstand der Familie ab. Bildung wird vom Staat bis zum Hochschulabschluss in staatlichen Bildungseinrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Bildungsministerium hat keine ausreichenden Ressourcen, um die Bedürfnisse für ganz Afghanistan abzudecken (LIB, Kapitel 17.2).

Gemäß Schätzungen der CSO besuchten im Zeitraum 2016-17 landesweit 56,1% der Kinder im Grundschulalter eine Grundschule. Es existieren allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts und Wohnorts: Während 77,5% der Buben in urbanen Gebieten und 66% in ländlichen Gebieten eine Grundschule besuchten, waren es bei den Mädchen nur 45,5% im städtischen Raum und 40,3% auf dem Land. Nur schätzungsweise 6,6% der Angehörigen der nomadischen Gruppe der Kuchi im Grundschulalter besuchten im Zeitraum 2016-17 eine Grundschule (10% der Buben und 2,5% der Mädchen). Im Bereich der sekundären und tertiären Schulbildung (Mittelschule/höhere Schule, bzw. Universität) sind die Schulbesuchsraten in allen genannten Gruppen niedriger. Die Schulbesuchsrate unter Buben aus Rückkehrerfamilien lag bei 55%, während es bei den Mädchen nur 30% waren. Unter den Binnenvertriebenen (internally displaced persons, IDPs) besuchten 64% der Buben und 42% der Mädchen eine Schule. Damit beispielsweise Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrern und Rückkehrerinnen aus Pakistan auch die Möglichkeit zum Schulbesuch haben, arbeitet das Norwegian Refugee Council (NRC) mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern (LIB, Kapitel 17.2).

Als Gründe für die niedrigen Schulbesuchsraten werden insbesondere bei Mädchen kulturelle Gegebenheiten, wahrgenommene oder tatsächliche Unsicherheit und die Distanz bis zur nächsten Schule genannt. Für alle Kinder ist Armut neben Wohnort, Geschlecht und etwaigen Behinderungen, ein bestimmender Faktor für den Schulbesuch oder -abbruch, bzw. Nichteintritt. Kinder mit psychischen Problemen, Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten, unterschiedlichem linguistischen Hintergrund, Bewohner von Slums, Straßenkinder, Kinder von saisonal migrierenden Familien, Flüchtlinge und Binnenvertriebene gehen einer Studie zufolge überproportional oft nicht zur Schule. Ebenso wirkt sich Kinderarbeit negativ auf den Bildungsverlauf der betroffenen Kinder aus (LIB, Kapitel 17.2).

Neben der Qualität der Ausbildung ist die niedrige Schuleintrittsrate ein Hauptproblem des afghanischen Bildungssystems, auch wird von Mängeln hinsichtlich der Infrastruktur der Schulen – beispielsweise bei der Strom- und Wasserversorgung sowie den Sanitäranlagen – bzw. fehlenden Schulgebäuden berichtet. Die Gelder für die Instandhaltung der Schulen sind sehr gering und so werden diese oft von den Eltern zur Verfügung gestellt oder internationale Organisationen wie UNICEF führen Wartungsarbeiten bzw. Reparaturen durch. In einigen Fällen, z.B. wenn das Schulgebäude zu klein und die Zahl der Schüler zu groß ist, wird der Unterricht in Zelten durchgeführt. Hierbei stellen die Wetterbedingungen oft eine Herausforderung dar: Herat ist z.B. oft starken Winden ausgesetzt, dadurch sind Zelte dort nicht als Unterrichtstätten geeignet. Bezüglich der Schulzeit wird Afghanistan in „kalte“ und „warme“ Provinzen aufgeteilt: In ersteren schließen die Schulen mangels Heizmöglichkeiten im Winter und in letzteren wird der Unterricht wegen der hohen Temperaturen im Sommer unterbrochen (LIB, Kapitel 17.2).

Sicherheitsaspekte

Die Führungselite der Taliban hat erklärt, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien, was aber in der Praxis nicht immer eingehalten wird. Insbesondere in jenen von Taliban kontrollierten Gebieten, schränken gewalttätige Angriffe auf Schüler/innen, insbesondere auf Mädchen, den Zugang zur Bildung ein. Taliban und andere Aufständische bedrohen und greifen Schulbeamte, Lehrer/innen und Student/innen, insbesondere Mädchen an; auch wurden sowohl Buben- als auch Mädchenschulen niedergebrannt (LIB, Kapitel 17.2).

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternde Sicherheitslage wurden aber bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 beinahe verdreifacht. Die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist unter anderem darin begründet, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden. Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen. Nach Vorfällen in der Provinz Farah legten Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste nahe, dass die Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten der Taliban dies ab (LIB, Kapitel 17.2).

Kinderarbeit

Afghanistan hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Dennoch haben im Jahr 2014 laut AIHRC (Children’s Situation Summary Report vom 14.Dezember 2014) 51,8% der Kinder auf die ein oder andere Weise gearbeitet. Viele Familien sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen. Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Millionen Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt. Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (LIB, Kapitel 17.2).

Trotz Verbesserungen mangelt es nach wie vor an einer wirksamen Regelung zur Verhinderung von Kinderarbeit. Nach afghanischem Recht ist das Mindestalter für eine Erwerbstätigkeit 18 Jahre, jedoch können Kinder zwischen 15-17 Jahren arbeiten, wenn „die Arbeit nicht schädlich ist, weniger als 35 Stunden pro Woche beträgt und eine Form der Berufsausbildung darstellt“. Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht arbeiten. Armut ist ein wesentlicher Grund, warum Kinder arbeiten. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung (LIB, Kapitel 17.2).

Arbeitsgesetze sind meist unbekannt und Vergehen werden oftmals nicht sanktioniert. Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen (LIB, Kapitel 17.2).

Waisenhäuser

Die Lebensbedingungen in afghanischen Waisenhäusern sind schlecht. Laut NGOs sind bis zu 80% der vier- bis 18-Jährigen in den Waisenhäusern keine Waisen, sondern Kinder, deren Familien nicht für ihre Verpflegung, Unterkunft oder Bildung sorgen können. Kinder in Waisenhäusern berichteten von psychischem, physischem und sexuellem Missbrauch, manchmal werden sie auch zu Opfern von Menschenschmuggel. Sie haben keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser, Heizung im Winter, Sanitäranlagen innerhalb des Hauses, Gesundheitsleistungen, Freizeiteinrichtungen oder Bildung (LIB, Kapitel 17.2).

Sexueller Missbrauch und körperliche Züchtigung von Kindern

In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Obwohl gesetzlich verboten, bleibt die körperliche Bestrafung in Schulen, Rehabilitationszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen weit verbreitet. Dem afghanischen Strafgesetzbuch zufolge, stehen Kindesmissbrauch und -vernachlässigung unter Strafe. Körperliche oder geistige Züchtigung sowie Misshandlung eines Kindes können wie folgt bestraft werden: eine Geldstrafe von 10.000 Afghanis (rund 130 USD) bis zu einem Jahr Gefängnis, vorausgesetzt das Kind erleidet keine schweren Verletzungen oder Behinderung. Die Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens eines Kindes wird mit einer Strafe von ein bis zwei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von 60.000 bis 120.000 Afghanis (ca. 800 bis 1.600 USD) in bar geahndet (LIB, Kapitel 17.2).

Berichten zufolge schlug die Polizei Kinder und missbrauchte sie sexuell. Kinder, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiteren Belästigungen durch Exekutivbeamte – insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi; und hielten die Kinder davon ab Vergehen zu melden. Es wird von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet (LIB, Kapitel 17.2).

Rekrutierung Minderjähriger

Das Problem der Rekrutierung von Kindern durch regierungsfeindliche Gruppen oder afghanische Sicherheitskräfte besteht weiter fort. Die UNO verifizierte im Jahr 2018 die Rekrutierung und den Einsatz von 45 Buben sowie einem Mädchen – einige von ihnen wurden bereits im Alter von 8 Jahren rekrutiert; sie sollten kämpfen, improvisierte Sprengkörper bauen, Selbstmordanschläge ausführen usw., wurden aber auch Opfer sexueller Ausbeutung. In diesem Zusammenhang wurden mindestens 22 Buben getötet. 67% dieser Verstöße, gegen insgesamt 31 Kinder, wurden bewaffneten Gruppierungen zugeschrieben, wie z.B. der Teherik-e Taliban Pakistan, den Taliban, dem ISKP und einer weiteren nicht identifizierten bewaffneten Gruppe. 15 Kinder wurden von der ALP, der ANP und regierungsnahen Milizen rekrutiert und eingesetzt (LIB, Kapitel 17.2).

In Bezug auf die afghanischen Sicherheitskräfte ist die Rekrutierung von Minderjährigen zum einen auf fehlende Mechanismen zur Überprüfung des Alters von Rekruten zurückzuführen. Zum anderen setzt sich die Praxis einiger Distrikt-Kommandeure fort, die formale Rekrutierungsvorschriften bewusst zu umgehen, um Minderjährige in die Sicherheitskräfte einzugliedern – zum Teil, um sich an ihnen sexuell zu vergehen. Die afghanische Regierung bemüht sich, diese Art von Rekrutierung zu unterbinden und hat die Rekrutierung Minderjähriger mittels Präsidialdekret unter Strafe gestellt. Das Dekret ist am 2. Februar 2015 in Kraft getreten, die Umsetzung verläuft schleppend. Laut UNAMA wurden im ersten Halbjahr 2019 mindestens drei Jungen zwischen zwölf und 17 Jahren von afghanischen Sicherheitskräften und 23 Jungen von den Taliban rekrutiert. Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch die afghanischen Sicherheitskräfte ist deutlich zurückgegangen. Die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen zum besseren Schutz der vom bewaffneten Konflikt betroffenen Kinder beinhaltet unter anderem auch Schutzeinheiten für Kinder in den afghanischen nationalen Polizeirekrutierungszentren, die inzwischen in allen 34 Provinzen existieren (LIB, Kapitel 17.2).

UNHCR Risikoprofile

UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren in diesem Abschnitt beschriebenen Risikoprofilen entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen. Die Aufzählung der hier aufgeführten Profile ist nicht unbedingt vollständig; sie beruhen auf dem Kenntnisstand von UNHCR auf Grundlage der zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Richtlinien vorliegenden Informationen. (UNHCR, Kapitel III).

?        Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung

Berichten zufolge werden Fälle der Zwangsrekrutierung von Kindern zu einem großen Teil unzureichend erfasst. Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden (UNHCR, Kapitel III.A).

a)       Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)

Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung (UNHCR, Kapitel III.A).

b)       Zwangsrekrutierung und Rekrutierung Minderjähriger durch regierungsnahe Kräfte

Trotz der Bemühungen der Regierung, die Rekrutierung Minderjähriger zu unterbinden, werden Kinder Berichten zufolge weiterhin durch die ANDSF, vor allem die ANP und die ALP, sowie durch regierungsnahe Milizen für militärische Zwecke angeworben. Im Januar 2011 unterzeichneten die Vereinten Nationen und die Regierung einen Aktionsplan für die Verhinderung der Rekrutierung Minderjähriger. Im Juli 2014 legte die Regierung ein Konzept für die Umsetzung des Aktionsplans fest. Im Februar 2015 stimmte Präsident Ghani einem von Parlament und Senat 2014 beschlossenen Gesetz zu, das die Rekrutierung Minderjähriger durch die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) unter Strafe stellt. Das neue Strafgesetzbuch, das am 15. Februar 2018 in Kraft trat, enthält Bestimmungen, die die Rekrutierung und die Verwendung von Kindern durch die Streitkräfte verbietet und unter Strafe stellt. Doch trotz der Bemühungen der Regierung, die Rekrutierung von Minderjährigen auszumerzen, bleiben Berichten zufolge Herausforderungen bestehen, etwa nichtstandardisierte Anwerbungsprozesse, ineffiziente Altersüberprüfung und mangelnde Rechenschaftspflicht für die Anwerbung von Minderjährigen. Im August 2017 stellte der Generalsekretär der Vereinten Nationen fest, dass es zwar Fortschritte im Hinblick auf eine Stärkung der Verfahren zur Altersbestimmung gegeben habe, doch bereiteten das Fehlen entsprechender Verfahren für die Rekrutierung in die ALP sowie die fortgesetzte Inanspruchnahme von regierungsnahen Milizen, bei denen weiterhin keine Aufsichtsmechanismen für die Rekrutierung erkennbar seien, weiterhin Sorge (UNHCR, Kapitel III.A).

Es wurde außerdem berichtet, dass regierungsnahe bewaffnete Gruppen Familien zwingen, junge Männer für den Kampf gegen Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) bereitzustellen (UNHCR, Kapitel III.A).

?        Kinder mit bestimmten Profilen oder Kinder, die unter bestimmten Bedingungen leben

Kinder können mehreren der weiteren in diesen Richtlinien beschriebenen Risikoprofilen entsprechen. Jedoch können Kinder auch der Gefahr kinderspezifischer Formen von Verfolgung ausgesetzt sein, einschließlich Rekrutierung von Minderjährigen, Kinderhandel, Entführung, Zwangskinderarbeit, gefährliche Kinderarbeit, häusliche Gewalt gegen Kinder, Zwangsheirat, Kinderheirat, Kinderprostitution und Kinderpornographie sowie die systematische Verweigerung von Bildung (UNHCR, Kapitel III.A).

a)       Zwangskinderarbeit und gefährliche Kinderarbeit

Eine Erwerbstätigkeit von Kindern unter 14 Jahren ist nach dem Arbeitsgesetz ausnahmslos verboten. Kinder ab 15 Jahren dürfen „leichte Arbeiten“ bis zu 35 Wochenstunden verrichten, jedoch keine Arbeiten, die ihre Gesundheit gefährden oder zu Behinderungen führen können. Das Gesetz von 2017 zur Bekämpfung von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel und Migrantenschmuggel definiert den Straftatbestand des Kinderhandels als den Besitz eines Kindes für die Zwecke der „Ausbeutung”, einschließlich Zwangsarbeit, Bettelei und Versklavung. Das Strafgesetzbuch von 2017 stellt die Anwerbung von Kindern für harte körperliche, ungesunde oder Untertagearbeit unter Strafe (UNHCR, Kapitel III.A).

Trotz dieser gesetzlichen Schutzbestimmungen ist Kinderarbeit Berichten zufolge nach wie vor weitverbreitet. In Afghanistan existieren, wie Berichten zu entnehmen ist, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit, wie etwa Schuldknechtschaft und andere Formen von Zwangsarbeit, der Einsatz von Kindern für illegale Tätigkeiten wie Drogenhandel oder im Rahmen von Prostitution. Kinder würden auch für gefährliche Arbeiten benutzt, die ihre Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit gefährden, etwa Arbeit in Kohlebergwerken oder an Ziegelöfen. Berichten zufolge sind Kinderarbeiter sexueller Nötigung, Misshandlung und Gewalt ausgesetzt. Mangelnde institutionelle Kapazitäten – darunter inadäquate Ressourcen für Kontrollen und die Durchsetzung von Sanktionen bei Verstößen – behindern laut Berichten nach wie vor die Durchsetzung des Arbeitsgesetzes erheblich. Straßenkinder gehören Berichten zufolge zu den ungeschütztesten und schutzbedürftigsten Gruppen Afghanistans und haben kaum oder keinen Zugang zu staatlichen Leistungen; Armut und Lebensmittelknappheit seien die Hauptgründe dafür, warum Familien ihre Kinder zum Betteln um Essen und Geld auf die Straße schicken (UNHCR, Kapitel III.A).

b)       Gewalt gegen Kinder, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt

Kindesmissbrauch ist Berichten zufolge im gesamten Land weit verbreitet, zu den verbreiteten Formen der Misshandlung zählen körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Aussetzung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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